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Anonym
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Sehr schöne Eröffnung zu dieser reichlich vertrackten Sache! Und Gould bietet ja allerdings gute Möglichkeiten der Anknüpfung, in alle möglichen Richtungen. Ich versuche es auch einfach mal.
Noten müssten eigentlich vor den Kopf stoßen: Wie soll da Musik herauskommen? Oder auch, wie ist sie da hineingekommen? Kann eine Note, ein Notenzusammenhang überhaupt mehr als ein Hinweis auf eine imaginäre Klangvorstellung sein? Oder ist er tatsächlich das Mittel der Fixierung dieser Vorstellung, die also grundsätzlich nur „gefunden“ werden muss, angeleitet durch die „richtige“ Auffassung der Noten? Und umgekehrt, wenn man dem Imaginären Raum gibt, wo endet er dann, wo sind doch Grenzen zu ziehen, wo beginnt die Überschreitung, das Verlassen der Noten, vulgo, aus dieser Sicht: des Ungewissen?
Es werden, wie meist im Lebenskram, viele unausgesprochene Vorentscheidungen eine Rolle spielen, um solche und andere Fragen zur Richtigkeit einer Interpretation zu beantworten. Es sind gewiss auch Luxusfragen, denn zunächst hört man doch einfach und da ist ein Funken oder keiner, was sich über die Jahre wieder ändern kann. Das gehört zur Freiheit bei der Sache, Freiheit, die sich mit der Gewohnheit der Meinung, der Kolportage, nicht vertragen sollte, auch bei einem selbst nicht. Ich erwähne das, um es auszuschließen.
Nicht die Vorentscheidungen will ich ausschließen, die auch wieder nur Interpretationen sind. Angenommen also, ich sei der Meinung, ich könne ein Werk „notengetreu“ spielen. Wie mache ich das dann? Ich würde ja als Ich vor den Noten sitzen und das ist ein von allen möglichen Umständen beeinflusstes Ding. Allerdings ein bewegliches Ding, ich kann meinen „Zugang“ zu den Noten so oder auch anders begründen, der eine meint dann, ich würde ihn mir verstellen, der andere, ihn eröffnen. Im Kulturbetrieb sind das Alternativen, die ständig herumlungern.
Da es ohne Vorentscheidungen nicht geht, sollte man sie vielleicht einfach übersehen. Um ein Beispiel zu geben: Arrau und auch Rubinstein, es wird andere geben, sprechen davon, dass sie bei der Interpretation „die Zeit“ des Komponisten erforschen, beachten. Das halte ich für anheimelndes Sprechen, Anheimelung an „Authentizität“, wie man das heute wohl nennen würde. Aber es ist ihr Weg, ihre Vorstellung, Vorentscheidung, das so zu spielen, was sie gespielt haben. (Keine Ahnung, was die Historikermusiker inzwischen dazu meinen.) Sie wollen nichts verfälschen, aber hat diese außermusikalische „Begründung“ wirklich etwas mit ihrem Spiel zu tun? Die Linien des Lebens sind verschieden, ich entdecke gerade Rubinstein wieder, seine Äußerungen in dieser Sache stören mich nicht; außer Musik zu spielen, denkt einer ja auch nach und da stellen sich Worte ein, diese oder jene, zumal Rubinstein angeblich nicht viel geschlafen hat. Bei Musikern, ich komme darauf gleich noch, begleiten aber die Erklärungen meist nur wie ein Klavierschüler.
Die Frage nach Text und Interpretation gräbt sich in die Frage nach der Freiheit ein. Ich kann also sagen, dass ich die Noten so spiele, wie der Komponist „es sich gedacht“ hat. Genauso kann ich das Gegenteil zur Vorentscheidung machen: der Komponist hat nur eine Anregung gegeben, oder, er hat etwas „geschaffen“, über dessen mögliche Möglichkeiten er sich nicht vollends bewusst sein konnte. Wenn es das aber geben sollte, dann muss die Interpretation ja „schöpferisch“ sein … erfinden, Abseitswege einschlagen. Das sind zwei gänzlich entgegengesetzte Vorentscheidungen, ich tendiere zur zweiten, weil sie offener ist. Lustigerweise will das die Öffentlichkeit nicht, sondern die Heroen, oder wenigstens die persönlichen Helden. Tant pis.
Das Pferdchen lässt sich auch anders aufzäumen: Wenn das Komponieren ein schöpferischer Prozess ist, warum nicht auch die Interpretation? Gould, um ihn namentlich auch wieder ins Spiel zu bringen, hat die „Variations“ des kanadischen Komponisten Jacques Hétu eingespielt – und auch da wieder einiges geändert, ein Fortissimo zum Piano gemacht, dynamische Anweisungen umgekehrt, Oktavenverdoppelungen vorgenommen, all das. Hétu hat sich später dazu geäußert und die Freiheit, die in diesen Veränderungen liegt, erklärt (auf der Seite findet man auch die ganzen Takes zu den späten Brahmsaufnahmen, unter „Audio“).
Zu der Meinung, die Noten ließen sich durch Kenntnis – ich komme also darauf zurück – der Zeit richtig spielen, hat Gould eine schlichte Frage gestellt, in dem wunderbaren Text über „Fälschung und Imitation im schöpferischen Prozeß“ (in Lettre International, 1995, übers. v. Jens Hagestedt, der eines der besten Gould-Bücher geschrieben hat, weit über den Verschwurbelungen von Bazzana, ist aber wohl vergriffen): „Was verführt uns darüber hinaus zu der Annahme, daß die Situation seiner [des Komponisten] Zeit entsprach? Vernachlässigt jene Art zu reagieren nicht die Beziehung des Individuums zur Masse? Liest sie nicht den sozialen Hintergrund, die verwickelten menschlichen Konflikte eines komplexen Zeitalters aus dem Werk eines einzelnen heraus, der geistig zu diesem Zeitalter gehört haben mag oder auch nicht, der die Zeit, in der er lebte, begrüßt und repräsentiert oder sie aus seinem Werk auch verbannt, herausgehalten haben mag? Was, wenn der Komponist ein schlechter Historiker war?“
Das alles ist doch die gleiche Sache im Jazz oder hat wenigstens Berührungen, über die es in den „Jazz-Glossen“ in den letzten Tagen ging, nein? Die Freiheit und die Begrenzungen, aber das alles eben auch hören zu können, in den Phasen des Spiels, wie bei Coltrane, wie bei Gould, ist dann die Anziehung.
Kleine Ergänzung zur Frage, ob Noten eigentlich treu sind?
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