Re: Mikio Naruse

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p77a

Registriert seit: 27.10.2006

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Nachdem ich jetzt alle sechs in Hamburg gezeigten Naruses gesehen habe, möchte ich nun ein kurzes Fazit ziehen. Mir ist klar, dass es vermessen wäre, einen Regisseur, der 90 Filme gedreht hat, anhand von 6 Filmen zu beurteilen, noch dazu wenn alle diese Filme aus einer Schaffensperiode stammen (hätte zu gerne auch den einen oder anderen Vorkriegsfilm gesehen, insbesondere den bereits erwähnten „Wife! Be like a rose“ oder vielleicht auch den einen oder anderen aus seiner sogenannten Schaffenskrise von 1936-51).

Aber einige Dinge erscheinen mir doch typisch. Dazu gehört, dass sich die Geschichte um eine Frau, in vielen Fällen um eine Witwe, entwickelt. Dabei gibt es keine Handlung, keinen Plot im klassischen Sinne, die Geschichte entwickelt sich ganz aus den handelnden Charakteren, ihren Beziehungen zueinander und den (alltäglichen) Problemen, mit denen sie konfrontiert sind. Ein entscheidender Unterschied etwa zu Kenji Mizoguchi. Naruses Frauen sehen sich immer mehreren Konflikten gleichzeitig ausgesetzt: Der Kampf ums Überleben (die Geschichten spielen fast immer in einem ärmlichen Milieu, Geldsorgen sind allgegenwärtig), Verpflichtungen gegenüber der Familie, Erwartungen auf Grund sozialer Normen, Beziehungssorgen. Außer im Falle von „Yearning“ fand ich die Filme trotz all der Probleme und unerfüllten Hoffnungen aber nicht pessimistisch. Das lag daran, dass Naruse es in herausragender Weise versteht, verschiedene Handlungsebenen miteinander zu verweben und eine ganze Reihe von Personen (oft verschiedene Familienmitglieder) in die Geschichte einzubeziehen und deren Geschichten mitzuerzählen. Diese zeigen dann oft neue Perspektiven oder Auswege auf, so dass zwar die Hauptfigur vielleicht in einer Sackgasse endet, aber am Beispiel der einen oder anderen Nebenfigur gezeigt wird, dass das Leben mehr bieten kann (etwa in „Summer Clouds“ oder „When a Woman ascends the stairs“).

Dabei gelingt es Naruse immer, direkt ins Leben hineinzugreifen. Das waren für mich oft die schönsten Momente, wenn er mit einem winzigkleinen Detail liebevoll eine Nuance zur Persönlichkeit eines Charakters hinzufügt.

Wie fifteenjugglers schon geschrieben hat, fällt ein Naruse nicht durch einen bestimmten visuellen Stil auf, aber es gibt bei seinen Filmen eine ganze Reihe von Motiven, die immer wieder an entscheidenden Stellen auftauchen. Die Eröffnungssequenzen beispielsweise zeigen fast immer Straßen, und zwar die verwinkelten kleinen Gassen des alten Japans, und die daran angrenzenden kleinen, engen Holzhäuser. Die Schlussszenen bestehen häufig aus einer oder zwei Personen, die eine Straße entlanggehen. Überhaupt finden wichtige, richtungsweisende und Beziehungen prägende Gespräche oft unter freiem Himmel statt, auf Brücken oder in Parks, wenn die Charaktere gewissermaßen ihren alltäglichen Sorgen für einen Moment enthoben sind und sich über die wichtigen Dinge im Leben klar werden können.

Von den sechs Filmen die ich gesehen habe, sind „Mother“ und „When a woman ascends the stairs“ meine Favoriten, beides sind großartige Filme die jeder Cineast gesehen haben sollte. Auch die anderen vier waren wirklich gut! Ich bin kein einziges Mal enttäuscht aus dem Kino gekommen und kann jedem, der die Gelegenheit hat, einen Naruse zu sehen, nur empfehlen, diese wahrzunehmen!

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Man is born crying. When he has cried enough, he dies. Japankino