Re: Mikio Naruse

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fifteenjugglers
war mit Benno Fürmann in Afghanistan

Registriert seit: 08.07.2002

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Nach bisher acht gesehenen Filmen ist es Zeit für ein erstes Zwischenfazit.

Der typische Naruse-Film ist weniger durch eine sofort wiedererkennbare Bildsprache als durch die häufig wiederkehrenden Themen identifizierbar. Sein Milieu ist das der einfachen Leute, der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht. Insbesondere in den Filmen von Ende der 30er bis Mitte der 40er Jahre ist daneben eine starke Konzentration auf verschiedene japanische Bühnentraditionen auffällig.
Die Geschichten sind meist alltäglich, es geht um Beziehungen, die nicht funktionieren, um unerwiderte Liebe, existenzielle Sorgen, bisweilen um den täglichen Kampf ums nackte Überleben.
Während in den Filmen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hier und da noch ein wenig Optimismus, bisweilen gar Subversivität aufblitzt (Paradebeispiel ist hier der wunderbare „Wife! Be Like A Rose!“), sind die Nachkriegsfilme fast durchweg von Pessimismus gekennzeichnet. Die Figuren mögen zwar bisweilen gegen gesellschaftliche Zwänge rebellieren, am Ende bleibt jedoch in der Regel nur das Weitermachen. Eine Katharsis in Verbindung mit einer eintretenden Kathastrophe ist eher die Ausnahme.
Diese späten Filme zeigen den „reifen“ Naruse, der seinen Stil und sein Thema gefunden hat. Fast neorealistisch in der Anmutung, bisweilen mit Hang zum großen Melodram, zeichnen sie sich durch präzise Beobachtung und genaue Charakterzeichnung aus. Wie schon in vielen Vorkriegsfilmen stehen im Mittelpunkt häufig starke Frauenfiguren – allerdings auf eine Weise stark, die so mancher Feministin kaum gefallen dürfte: leidensfähig, das Schicksal und die gesellschaftlichen Zwänge akzeptierend, aber eben in der Regel auch gesegnet mit einer großen Zähigkeit sowie dem unbedingten Willen zum Weitermachen.

Die Filme im einzelnen:

„Yogoto no yume“ („Nightly Dreams“, 1933):

Im Mittelpunkt dieses späten Stummfilms stehen drei Personen: Die alleinerziehende Omitsu (Sumiko Kurishima), die in einer Bar arbeitet, um sich und ihren Sohn Ayabo (Teruko Kojima) ernähren zu können, sowie ihr Mann Mizuhara (Tatsuo Saito), der die beiden vor längerer Zeit verlassen hat, nun aber plötzlich wieder auftaucht und entschlossen ist, trotz seiner geringen körperlichen Belastbarkeit für den Unterhalt der Familie zu sorgen.
Der Film ist zwar glaubhaft, wirkt aber ein wenig unentschlossen zwischen der Darstellung von Alltagshärte und Tragik einerseits und eingeflochtenen komischen Elementen andererseits. Allerdings liefert er ein paar hübsche Beispiele für ausgefallene Schnitttechniken wie Match Cuts und dergleichen. Das herausragendste Beispiel: Ein aufziehbares Spielzeugauto fährt über einen Tisch, bis es über die Kante fällt, unmittelbar auf die Kamera zu. Schnitt. Die Tür geht auf, eine Masse Menschen stürmt herein: Ayabo ist soeben von einem Auto angefahren worden.
Dieser Unfall löst eine Ereigniskette aus, die einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale gleicht. Das Ende wirkt in seiner – insbesondere verbalen – Härte verstörend, ist aber andererseits in seiner Aufforderung zum Weitermachen allertypischster Naruse.
Insgesamt nicht völlig perfekt, hinterlässt aber dennoch einen sehr starken Eindruck.
Bewertung: 7/10.

„Futarizuma, tsuma yo bara no yoni“ („Wife! Be Like A Rose!“, 1935):

Kimiko (Sachiko Chiba), eine aufgeweckte junge Frau, berufstätig, Großstadtkind, versucht Vater und Mutter wieder zusammen zu bringen. Zu diesem Zweck reist sie in ein weit entferntes Dorf in den Bergen, in dessen Umgebung der Vater (Sadao Maruyama) nach Gold sucht. Dieser lebt seit längerem mit einer anderen Frau (Yuriko Hanabusa) zusammen, mit der er, wie sich herausstellt, auch zwei Kinder hat. Die Annahme, diese Frau, Oyuki, sei nur hinter dem Geld des Vaters her, stellt sich als völlig falsch heraus. Das Gegenteil ist richtig: Nicht nur sorgt sie für den Unterhalt des erfolglosen Goldsuchers, sie schickt auch noch dessen Familie regelmäßig anonym Geld zu. Der Vater läßt sich überreden, nach Tokyo zu reisen, um Kimikos bevorstehender Hochzeit seinen Segen zu geben. Schnell stellt sich heraus, dass ein Zusammenleben mit seiner ehemaligen Frau (Tomoko Ito) nicht mehr möglich ist. Die illegitime Beziehung zu Oyuki trägt den Sieg davon.
Wunderbare Komödie mit melancholischen Momenten und nachdenklichen Untertönen, die das traditionelle japanische Gesellschaftsmodell gleich in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf stellt.
Bewertung: 8/10.

„Tsuruhachi Tsurujiro“ („Tsuruhachi And Tsurujiro“, 1938):

Der Film erzählt die wechselhafte, von Reibereien geprägte Beziehung zwischen einem Shinnai-Sänger (Kazuo Hasegawa) und einer Samisen-Spielerin (Isuzu Yamada). Obwohl durchaus eine gegenseitige Zuneigung besteht, bleibt die Beziehung ausschließlich auf die Bühne begrenzt. Die erste Stunde des Films ist ganz passable, mit Humor gewürzte Unterhaltung und eigentlich nicht weiter von Belang. Um so interessanter ist die letzte halbe Stunde. Nach der Trennung von seiner Begleiterin befindet sich „Tsurujiros“ Karriere im freien Fall, wofür Naruse ein paar wundervolle Bilder findet. Durch das Einwirken eines gemeinsamen Freundes läßt sich „Tsuruhachi“, die inzwischen verheiratet ist, schließlich zu einer Wiedervereinigung überreden. Was dann passiert … Nur soviel sei verraten: Das Ende hält eine überraschende Wendung parat.
Bewertung: 5/10.

„Hataraku ikka“ („Working Family“, 1939):

Gezeigt wird der alltägliche Kampf einer Arbeiterfamilie ums Überleben. Damit alle satt werden, müssen alle Söhne im arbeitsfähigen Alter zum Unterhalt beitragen. Als Kichi (Akira Ubukata), der älteste Sohn, den Vater (Musei Tokugawa) damit konfrontiert, dass er die Familie verlassen werde, um ein selbstfinanziertes Studium zu beginnen, führt dies zu Konflikten.
Der Film an sich ist nur solide, wirkt aber insgesamt durchdachter und auch etwas lebendiger als sein unmittelbarer Vorgänger „Tsuruhachi And Tsurujiro“. Wichtiger noch ist aber, dass er in seiner Alltagsschilderung und seinem Realismus bereits ein Stück weit das Nachkriegswerk Naruses vorweg nimmt.
Bewertung: 5/10.

Besprechung der übrigen Filme folgt.

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"Don't reach out for me," she said "Can't you see I'm drownin' too?"