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Anonym
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Ich plädiere dafür, sowohl die UN-Definition als auch die Erkenntnisse der Historiker ernstzunehmen. Mattioli schreibt in „Verlorene Welten“, dass Genozid (Ausrottung aller Indigenen Nordamerikas) nie das Programm einer US-Regierung war, dass es aber zu mehreren regionalen Genoziden gegen Stämme/Nationen jeweils der Gebiete kam, die gerade auf dem Zielradar der Westausdehnung waren. Bei diesen regionalen Genoziden, z. B. gegen die Indigenen in Kalifornien und den Great Plains, sind alle definitorischen Kriterien der UN-Genozidkonvention erfüllt (obwohl das laut UN ja nicht mal nötig ist), einschließlich der Ausrottungsabsicht, die von führenden Politikern der jeweiligen Gebiete explizit formuliert wurde.
Ich glaube, wir gehen in eine Falle, wenn wir explizit oder implizit so tun, als sei Genozid nur das, was die Nazis im Holocaust durchexerziert haben: systematische, generalstabsmässige Ermordung von Millionen Menschen, grundgelegt in einer Planung wie zum Beispiel der Wannseekonferenz. Die UN-Definition sagt übrigens genau das ebenfalls nicht! Sie setzt weit „niederschwelliger“ an.
Ich sehe durchaus die Tücken bei dem Thema und die Gefahr, die darin liegt, jedes Kriegsverbrechen zum Genozid zu erklären. Da wird „Genozid“ bisweilen wohl auch als Kampfbegriff missbraucht. Und von einer Relativierung des Holocaust halte ich nun wirklich überhaupt nichts.
Umgekehrt halte ich es aber auch für tatsächlich gefährlich, wenn wir die genozidalen Züge von Prozessen wie zum Beispiel der nordamerikanischen Landnahme ausblenden. Mir wäre es auch eindeutig zu bürokratisch, immer die „smoking gun“ eines schriftlichen Ausrottungsprogramms der Zentralregierung zu verlangen. Man muss schon auch Prozesse in den Blick nehmen wie die systematische Duldung von Ausrottungsfeldzügen durch nichtstaatliche Milizen oder die systematische Nichtverurteilung von Kriegsverbrechen des Militärs. Auch darin drückt sich eine Intentionalität aus (wobei es wie gesagt, in Nordamerika auch erklärte „extermination wars“ gegen indigene Gruppen gab).
Es ist vielleicht kein Zufall, dass wir gerade über die Einordnung der Geschehnisse in Nordamerika so intensiv diskutieren. Es gibt da ja tatsächlich Kapitel, die mustergültig der UN-Genoziddefinition entsprechen. Zugleich lässt sich natürlich der mehrere Jahrhunderte dauernde Prozess der Landnahme nicht pauschal als einziger großer Völkermord fassen. Insofern kann man wohl nicht vom Genozid an „den Indianern“ reden, aber eben schon zum Beispiel vom Genozid an den Pomo, Wintun, Tolowa und anderen Stämmen in Kalifornien.
Aber jenseits aller Deutungsprobleme: Was sich durchzieht, sind zwei große Motivationen – Gier und Rassismus. Und dass das ein entsetzliches Massensterben war – Seuchen, Kriege, Massaker, Hungersnot usw usf – lässt sich ja nun wirklich auch nicht bestreiten. Hinzu kommt das Elend der Reservationen und das eindeutig ethnozidale Programm der kulturellen Auslöschung, wie es sich in den Boarding Schools ausdrückte (Ethnozid bitte nicht mit Genozid verwechseln).
Jede erzählerisch-fiktionale Auseinandersetzung mit dem Nordamerika zwischen 1850 und 1900 sollte diesen Hintergrund monumentalen Leidens und der beinahe komplett vollzogenen Ausrottung der indigenen Bevölkerung reflektieren, finde ich. Sonst finde ich es eben Mist.
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