Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Bei mir sind seit einer Woche wieder samstägliche (und manchmal dazu frei- oder sonntägliche) Konzertbesuche angesagt. Ein paar Zeilen zu den letzten drei:

14. Mai 2022 – Zürich, Tonhalle – Swiss Orchestra

Swiss Orchestra
Lena-Lisa Wüstendörfer
Leitung
Heinz Holliger Oboe
Alice Belugou Harfe

Johann Carl Eschmann Grosse Konzert-Ouvertüre (1847)
Frank Martin «Trois danses» für Oboe, Harfe, Streichquintett und Streichorchester (1970)

Johannes Brahms Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 (1883)

Dieses Konzert war 2020 (Saison 2019/20, glaub ich) einst als erste Konzerttournee des jungen „Swiss Orchestra“ geplant gewesen – doch es sollte anders kommen. Inzwischen endet bald Tournee #4, ich war letzten Herbst schon bei #3 eher kritisch zugegen. Kritisch bleibe, ich leider auch. Wüstendorfer hat für ihr Orchester geschickt eine Nische gesucht und gefunden: der schweizerischen Sinfonik des späten 18. bis frühen 20. Jahrhundert Raum zu geben, Werke auf die Bühne zu bringen, die kaum (noch) bekannt sind. Das ist natürlich sehr begrüssenswert. Nicht ganz so rund läuft es aber im Hinblick auf die Güte des Gebotenen. Da ist zuerst mal die Repertoire-Frage, die ja bei jedem sinfonischen Konzert gestellt werden kann: das Kombinieren von Unbekanntem, Vergessenen mit dem Bewährten, ständig zu Hörenden – die übliche Frage also, die sich wohl jeder Intendant, jeder Chefdirigent tagtäglich stellen muss: kommen die Leute wegen oder trotz Beethoven und Brahms? Beim Konzert #3 neulich gab es als gewichtigstes Werk nach der Pause die Sinfonie von August Walter – und damit einen deutlichen Kontrapunkt zur etwas lang geratenen ersten Konzerthälfte, in der Ouvertüre von Mendelssohn Salonmusik von Raff und Wagner vorangestellt wurde. Dieses Mal gab’s nach der Pause Brahms‘ Dritte – as mainstream as it gets also. Davor eine Ouvertüre von Eschmann und Frank Martins drei Tänze für Oboe und Harfe, einst für das Ehepaar Holliger geschrieben (und mit Entstehungsjahr 1970 etwas jünger als das, was Wüstendorfer in der Regel programmiert).

Holliger war überhaupt einst der Grund, weshalb im Sommer 2019 eine Karte gekauft hatte: ihn auch endlich mal an der Oboe zu hören – natürlich mit dem Hintergedanken „so lange das noch geht“ (er wurde gestern 83, und die Oboe ist ja ein Instrument, bei dem jede Unsicherheit gleich zu hören ist). Und Martin war auch ganz klar das Highlights des Programmes. Das Zusammenspiel von Holliger mit der jungen Harfenistin (Ursula Holliger ist 2014 verstorben, ich habe sie leider nie auf der Bühne gesehen) funktionierte bestens, beiden stand der Schalk auch beim Applaus danach ins Gesicht geschrieben. Und mich dünkte auch, dass die Präsenz der hervorragenden Solisten das Orchester besser aufspielen liess. Die schöne Konzertouvertüre von Eschmann klang zu oft wie eine Aufwärmübung und auch die Brahms-Sinfonie wurde weder gross gestaltet noch richtig gut umgesetzt. Immer wieder gab es Unsauberkeiten, und mich beschlich das Gefühl, dass weder den Details noch den grossen Bögen genügend Beachtung geschenkt wurde. Vom Podest kamen kaum Impulse, das wirkte auf mich durchgespielt, nicht interpretiert. Aber das klingt jetzt sehr harsch – es ist nicht so, dass der Gang ins Konzert sich nicht gelohnt hätte. Allerdings hat Wüstendorfer mich auch dieses mal nicht überzeugt, es war die Musik von Martin, die Auftritte von Belugou und Holliger – und durchaus die Gelegenheit, das Stück von Eschmann im Konzert zu hören, die den Abend dennoch lohnenswert machten.

20.05.2022 – Zürich, Opernhaus

Arabella
Lyrische Komödie in drei Aufzügen von Richard Strauss (1864-1949)
Text von Hugo von Hofmannsthal

Musikalische Leitung Markus Poschner
Inszenierung Robert Carsen
Ausstattung Gideon Davey
Lichtgestaltung Robert Carsen, Peter van Praet
Choreografie Philippe Giraudeau
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
Dramaturgie Ian Burton, Kathrin Brunner

Graf Waldner Michael Hauenstein
Adelaide Stephanie Houtzeel
Arabella Jacquelyn Wagner
Zdenka Nikola Hillebrand
Mandryka Josef Wagner
Matteo Thomas Paul
Graf Elemer Nathan Haller
Graf Dominik Yannick Debus
Graf Lamoral Brent Michael Smith
Die Fiakermilli Aleksandra Kubas-Kruk
Eine Kartenaufschlägerin Irène Friedli
Ein Zimmerkellner Alejandro Del Angel
Welko Cheyne Davidson
Djura Mentor Bajrami
Jankel Nick Lulgjuraj

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Am Freitag ging ich dann nach längerem wieder in die Oper – wie das Tonhalle-Debut des Swiss Orchestra hatte ich auch die „Arabella“ im März 2020 hören wollen. Die Premiere fand im Februar noch statt – schon unter schlechtem Stern: die Arabella war krank und musste kurzfristig ersetzt werden – doch danach wurden die weiteren Aufführungen abgesagt und die Inszenierung von Carsen jetzt wieder aufgenommen – in fast vollständig neuer Besetzung, mit Ausnahme von Wagner, der erneut den Mandryka sang.

Krankheiten waren aber auch am Freitag ein Problem: Wagner hatte schon am Wochenende davor abgesagt, hiess es bei der Ansage auf der Bühne direkt vor der Aufführung, danach folgten bis am Vortag weitere Absagen – von allen Sängerinnen, wegen denen ich überhaupt hingehen wollte: Hanna-Elisabeth Müller (in der Titelrolle), Anett Fritsch (Zdenka) und Judith Schmid (Adelaide), und zudem fiel auch noch Pavol Breslik (Matteo) aus. Um 15 Uhr am Tag der Aufführung waren dann auch die letzten Einspringer*innen angekommen, es wurden parallel zwei Proben durchgeführt, damit am Abend auch alles klappte – und das gelang dann auch. Zumindest passierte nichts, was in Unkenntnis von Werk und Libretto klar als Panne oder Fehler zu erkennen war. Die Hände der Souffleuse (Maestra suggetrice ist sie hier betitelt) waren öfter als sonst kurz zu sehen, sie hatte wohl mehr zu tun als bei einer regulären Aufführung – am Ende wurden auch noch zwei unwillige gestalten in Alltagsklamotten auf die Bühne gezerrt, wohl die Inpizientin und der Kollege, die die Notfallproben geleitet hatten.

Das 2020 von der NZZ arg kritisierte Regiekonzept funktionierte für mich ganz gut, die neue musikalische Leitung ebenfalls – Wagner, so hiess es damals, hätte mit dem unsympathischen Rollenbild und den Klangmassen, die der damalige Chefdirigent Fabio Luisi entfachte, arg zu kämpfen gehabt. Dass seine Figur eine äussert zwiespältige ist, wird ja schon aus dem unfertigen Libretto sehr klar (Hofmannsthal hatte nur den ersten Akt zu Ende bearbeitet, als er 1929 verstarb, Mandryka taucht aber erst in den beiden folgenden Akten auf, ist davor nur eine Erzählung, ein Schatten, ein Blick). Dass Carsen das Geschehen ins Wien des Jahres 1938 verlegte, verhilft ihm aber gerade wieder zu einer positiveren Rollen, denn mit den um Arabella herumwedelnden Nazi-Offizieren hat er nichts gemein (Matteo, dieser traurig-komische Vogel, ist positiver gezeichnet, weicher, mit mehr als nur Schneid und Karriereplänen).

Dass das Haus schlecht besucht war – es war ein hochsommerlicher Abend, schon am Freitag kletterte das Thermomenter im Schatten auf über 30 Grad, es war zudem Opernhaustag, d.h. ab 11 Uhr des Vorstellungstages sind alle verbleibenden Karten zum halben Preis zu kriegen (ob auch deshalb ein paar der Künstler*innen lieber die Stimmbänder schonten?) – tat dem Vergnügen wenig Abbruch. Für mich war das ein runder Abend, die Einspringerinnen und der Einspringen machten ihre Sache exzellent, dass Wagner – rechtzeitig genesen – sich im ersten Akt allmählich herantastete und etwas behutsam anfing, war nicht weiter tragisch. In kleineren Nebenrollen hatten gern gesehene und gehörte langjährige Ensemblemitglieder wie Irène Friedli und Cheyne Davidson gute Auftritte. Alexandra Kubas-Kruk hatte ich vor drei Jahren schon als Einspringerin in einem von Julie Fuchs (mit)konzipierten Konzert gehört, sie glänzte auch als Fiakermilli wieder. Und die ganzen umbesetzten Hauptrollen machten einen hervorragenden Job, allen voran Jacquelyn Wagner als Arabella und Nikola Hillebrand als Zdenko/Zdenka.

Ich war aber auch einmal mehr von Strauss‘ Musik sehr angetan. Die unterschiedlichen Charakterisierungen von Zdenko/Zdenka und Matteo einerseits – zweifelnd, chromatisch, düster, schwer – und Arabella/Mandryka andererseits – jublierend, warm, wohlklingend -, dazwischen die fast brutalen Walzer-Einlagen die Solo-Passagen für Viola und Cello (ich weiss nicht, wer das wunderbare lange Viola-Solo spielte, das Solo-Cello spielte soweit ich sehen konnte Lev Sivkov) – dazu die immer wieder überraschenden Einfälle in der Orchestrierung – eine richtige Ohrenweise. Das Orchester agierte unter Poschner jedenfalls ganz hervorragend. Ich bin jedenfalls immer wieder beeindruckt von seiner Qualität, auch wenn ich derzeit die Konzerte nicht besuche, die es auch gibt (Prioritäten in der endemischen Pandemie halt – dass auf dem grossen Platz vor der Oper auch jetzt wider der Nationalzirkus gastiert, inklusive Streichelzoo direkt vorm Eingang zur Oper – ist grad auch wieder ein lustiges Zeichen, Affenpocken ahoi!).

21.05.2022 – Zürich , Tonhalle – Neue Konzertreihe Zürich

Grigory Sokolov Klavier

Ludwig van Beethoven 15 Variationen Es-Dur mit einer Fuge op. 35 «Eroica-Variationen»
Johannes Brahms Drei Intermezzi op. 117

Robert Schumann «Kreisleriana» op. 16

Zugaben:
Sergei Rachmaninoff: Prélude D-Dur Op. 23/4, Prélude es-Moll Op. 23/9, Prélude Ges-Dur Op. 23/10
Alexander Skrjabin: Prélude e-Moll Op. 11/4
Frédéric Chopin: Mazurka a-Moll Op. 68/2, Prélude c-Moll Op. 28/20

Und gestern wieder Hochamt mit Grigory Sokolov – einmal mehr der schiere Wahnsinn, was der Mann da geboten hat und ich mag da gar nicht allzu lange drüber schreiben. Die Eroica-Variationen boten das ganze Spektrum. Da ist alles drin, was Musik geben kann, vom zarten Werden bis zum prallen Leben und dem stillen Vergehen. Sehr beeindruckend. Besonders toll die lange ruhige Passage in der zweiten Hälfte – und wie Sokolov danach die Rückkehr zum leicht erkennbaren thematischen Material gestaltete (Variationen 9 und 13 sind durchgängig im Forte zuspielen, davor jeweils pp bzw p – ich kenne das Stück zu schlecht, um zu sagen, welchen Übergang ich meine). Und danach Brahms, jedes der drei Stücke wunderbar gestaltet – mich berührt da v.a. das erste immer sehr.

Das grosse Highlight waren dann aber wie erwartet die „Kreisleriana“. Mit welcher Leichtigkeit Sokolov diese Charakterstücke gestaltet hat, die Triller, die schnellen Läufe, die brütenden Passagen … was für ein umwerfendes Werk das doch ist. Und was für ein Glück, es in einer so grossartigen Version im Konzert hören zu können! Danach folgten die üblichen sechs Zugaben – keine Ahnung, was die ersten vier waren, aber zum Schluss gabe es zwei kurze Stücke von Chopin (vermutlich Études, vielleicht auch eine Prélude). Und natürlich fingen die Ungeduldigen schon nach der ersten Zugabe an, zu gehen – dabei war die zweite Konzerthälfte doch mit den ca. halbstündigen „Kreisleriana“ so angelegt, dass die Zugaben quasi in die ca. zwei Stunden Musik miteingerechnet waren. Von mir aus hätte es auch länger dauern dürfen, aber wie immer bei Sokolov war ich am Ende einfach nur dankbar und glücklich.

(Foto: Schlussapplaus bei „Arabella“)

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