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gruenschnabelDen bft höre ich jetzt zum ersten bis zweiten Mal und werde mein unbeleckt-naives Gedankenströmchen mal fließen lassen.
immer diese tiefstapler im forum und dann kommen so elaborierte kommentare und ich merke: ich habe endlich meinen duellanten gefunden! denn mit ausnahme der sängerin in #1 höre ich fast alles diametral entgegengesetzt. das ist wirklich spannend, und nicht nur deshalb danke ich dir sehr für’s mitmachen!
gruenschnabel#1
Bislang eines meiner Highlights des bft. Tolles Ensemblespiel. Früher fand ich Dixieland immer total nervig (mit Gesang ist mir das allerdings auch gar nicht geläufig), diesen Track erlebe ich hingegen als sehr angenehm, schlicht, fast schon elegant zurückgenommen. Aber eins greift wunderbar ins andere, auch die Form ist für meinen Geschmack schön ausbalanciert. Die Klarinette erscheint mir dynamisch erst etwas sehr hinter tr und pos zurückzustehen, tritt dann aber hörenswert hervor. Auch der Sängerin höre ich sehr gern zu, die einerseits ein ganz schön auffälliges Organ hat, andererseits aber unaufdringlich und fein gestaltet – passt.
hier haben wir eine große übereinstimmung. die band wird hier als ein bisschen lahm wahrgenommen, aber irgendwie greifen sie diese zurückhaltende magie der sängerin sehr schön auf und verlängern ihre bewegung.
gruenschnabel#2
Meine Aufmerksamkeit ist hier recht schnell futsch. Wirkt fast wie eine rezitativische Improvisation innerhalb eines Bühnenstücks, von daher könnte es sein, dass das ohne Textverstehen auch nicht so sinnvoll ist, sich dazu zu äußern. Es pendelt immer zwischen zwei zunächst angenehm ätherischen Harmonien hin und her und scheint sich mit den syllabischen, teilweise sprechenden, teilweise in kantable Kurzwendungen übergehenden Vocals in einer Stimmungsmalerei zu erschöpfen. Allerdings ist nichts darin enthalten, was mich zu fesseln vermag. Es ist mir irgendwie zu harmlos. Die Mundharmonika erweckt dann bei mir den Anschein, als könne es jetzt eine Zuspitzung oder so etwas wie ein schärferes Profil geben, es ist aber bloß ein additives Element.
das ist eine pastorale idylle auf der grundlage von äußerst kargen verhältnissen, woraus sich die frage ergibt, ob man das ganze in musik umsetzen kann. gefiltert wird das durch den blick zurück aus einer urbanen situation (in diesem fall chicago) und die erfahrungen freien, experimentellen, politisch bewussten jazz-sensemble-spiels. mit sehr sophisticateten mittel soll hier die kargheit der kindheit als poetischer raum wieder auferstehen. harmlos ist das alles nicht. aber stimmungsmalerei an sich ist ja noch nichts schlimmes, wenn die stimmung komplex ist.
gruenschnabel#3
Das, was ich bei #1 noch als ausbalanciert empfand, fehlt mit hier. Die Sängerin empfinde ich als zu dominant, mehr als dieser sehr offensive (und für meine Ohren weniger feine) vokale Charme kommt mir aber vom Ensemble nicht entgegen.
ok, fein ist das natürlich nicht. es geht ja um einstürzende stadtmauern und eine schlacht. die band wurde von anderen hier schon so wahrgenommen, dass sie der sängerin etwas entgegenzusetzen hat, der drummer vor allem. es ist also vielleicht eine andere art von balance als in #1, wo die band sich so schön in der gleichmäßigkeit (trance?) des gesangs ausbreitet. hier rumpelts und kracht und fetzts.
gruenschnabel#4
Im ersten Moment habe ich mich über die knackige Rhythmik gefreut, dann habe ich nach der Nummer meines Klavierstimmers geschielt. Das, was der Pianist da in der linken Hand spielt – sagt man dazu ‚Voicings‘? Jedenfalls sind mir die zu wenig transparent, und das liegt m.E. nicht an der Klang-/Aufnahmequalität. Aber sie sind ziemlich tief, verstimmt und auch verwaschen artikuliert gespielt. Und Letzteres empfinde ich auch hinsichtlich der rechten Hand, sodass ich der Improvisation insgesamt nicht sehr angeregt folge. Gut gefällt mir aber vor allem der agile Drummer.
diese bemerkungen finde ich wirklich super interessant. du hast da wirklich sehr genau hingehört. für verstimmte klaviere können musiker ja nichts, aber was die beiden hände da machen, sorgt natürlich nicht unbedingt für transparenz. die linke spielt wirklich sehr tief, dabei aber auch sehr hart und oft nicht genau auf der eins (sie betont denr rhythmus nicht so, dass er klarer würde, das ist bei diesem drummer aber auch nicht nötig). ich höre da eine tolle und eigensinnige schönheit raus, die für mich schon die halbe miete ist. die arpeggien rechts kommen aus einem ziemlich tiefen blues feeling, rollen aber auch mehr über die changes, als dass sie sie betonen. für mich könnte das alles damit zusammen hängen, dass da jemand ursprünglich von der orgel kommt, sowieso mit rechts und links ganz andere sounds zu erzeugen gewohnt ist und außerdem eher variationen ins rollen zu bringen gelernt hat, statt dramaturgisch lineare soli aufzubauen. das führt ins „zweite thema“ dieses bfts, den jazz mal vom spiritual zu denken. jetzt ist das hier aber bebop-material, d.h. es müsste also eigentlich scharf auf den punkt kommen. das klappt allenfalls so gerade, aber das „so gerade“ macht für mich einen ganz großen reiz aus. (am ende geht ja doch all das musikalisch auf die gleichen quellen, das gleiche bewusstsein und die gleiche sensibilität zurück).
gruenschnabel#5
Auch dieser Groove macht mich an, das Thema ist insgesamt zwar nicht zum Ausflippen bemerkenswert, aber – pfiffig, charmant, schön phrasiert.
Dazu kommt nun ein Klaviersolo, das mich deutlich glücklicher macht als bei #4. Es knüpft an die Klarheit des Themas an und nimmt dessen rhythmischen Gestus sehr hübsch auf. Timing und Phrasierung finde ich richtig klasse. Und ich mag die kurzweilige Art, wie sich dann dicht aneinandergereiht die weiteren Solos anschließen. Das Harfenteil allerdings überzeugt mich nicht.
„pfiffig“ und „charmant“ waren wohl genaus das, was der produzent dieser aufnahme haben wollte, für den sich hier die musiker zusammenfanden. man hat das beste daraus gemacht, finde ich, charmant ist das in der tat. es gibt aber auch feinheiten, z.b. dass das latin-thema eben nicht mit schmissigen bläsern vorgestellt wird, sondern mit gestopfter trompete und gitarre. und der groove halt eher aus dem handgelenk kommt, nicht mit oberarmmuskeln (die aber bestimmt auch zur verfügung standen) erzeugt wird. und kurzweilig ist das alles sowieso.
gruenschnabel#6
Im ersten Moment dachte ich: Ist das hier die Gesangsmelodie von #2? Aber der Klaviereinsatz hat ja sechs Stufen. Und dann kommt so eine Debussy-artige Passage, die mich an die berühmte erste Klavier-Arabesque denken lässt. Spielt außer in der Einleitung allerdings dann keine Rolle mehr.
Das Klaviersolo hat für meine Ohren zu viele Töne – ich wünschte mir Reduktion zu Gunsten einer Art „Innerlichkeit des Ausdrucks“ (uff, ist spät) und denke völlig unmotiviert an den Beginn des langsamen Satzes aus Ravels G-Dur-Klavierkonzert. Ich spüre den Reiz dieses Hin und Hers und hier Schleifchen drum und dort noch eine Verzärtelung nicht. Und der harmonisch überdimensionierte Schlussakkord fasst das für mich noch mal symptomatisch zusammen: Weniger wäre für meinen Geschmack – äh, zumindest erstmal nicht gleich weniger.
ok, das ist eine einfach jazzballade, die sicherlich thematisch und harmonisch spannend genug ist, sie auch ganz reduziert und „innerlich“ zu spielen. die interpretation hier geht einen anderen weg: sie baut kontraste (dynamisch, arpeggien vs. blockakkorde, klassische reinheit vs. blue notes, etc.), sie entwickelt eine idee nach der anderen, um das reizende, aber auch das dunkle potenzial der komposition verfügbar zu halten. spätestens ab der hälfte wird das für mich zur trance, weil es immer wieder auf das bittersüße zurückkommt, einen neuen anlauf nimmt, wieder dort landet, einen neuen anlauf nimmt, wieder dort landet… schließlich, in der coda, wenn bass und schlagzeug aufgeben, kommt das thema in größtmöglicher einfachheit – und im ausgebreiteten schlussakkord fließt das gesamte solo in eine ambivalente schlussgeste… wenn das nicht alles ganz groß ist, dann habe ich keine ahnung von musik und vom leben
du merkst, ich kämpfe für meine auswahl. aber deine kommentare bringen mich dazu, nochmal neu über die stücke nachzudenken, ohne ihnen die liebe zu entziehen, natürlich. ich hoffe, du machst noch ein bisschen weiter.
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