Alte Musik – Der Mittelalter- und Renaissance-Thread

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    gypsy-tail-wind
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    Irgendwie fand ich es schade, meinen Ciconia-Post (der natürlich ein copy/paste-Job ist, klar) einfach im grossen Hör-Thread zu versenken und hoffe, es ergibt sich hier auch sonst der eine oder andere Post – aber bitte keine Cover-Posts, kein Hörtagebuch sondern nur Fragen, Empfelungen, Diskussionen etc. zur Musik des Mittelalters und der Renaissance!

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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      #9234007  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Die sämtlichen Werke des Johannes Ciconia, der wohl um 1370 in Lüttich als unehelicher Sohn eines Priesters zur Welt kam und vermutlich nachdem der Stimmbruch seine Zeit als Chorknabe beendet hatte, wie viele aus Lüttich nach Paris ging. Dort studierte er möglicherweise, verkehrte vielleicht in denselben Kreisen von Musiker und Dichtern, denen Giangaleazzo Visconti während seines Studium an der Seine begegnete. Ciconia zog es wohl – wie viele andere – nach Italien, der Glanz der Höfe lockte, eine Karriere wurde angestrebt. Vielleicht lebte er in verschiedenen Städten Italiens, so möglicherweise auch in Rom, wo Kardinal Philippe d’Alençon ihn förderte. Der Kardinal starb 1397. Möglicherweise hat Ciconia sich auf diesem Weg Kenntnis der italienischen Kultur des Trecento verschafft. Nach dem einen Dokument von 1391, das Ciconia mit d’Alençon verbindet (aber keinen Aufenthalt in Rom nachweist), gibt es von 1401 ein neuerliches Dokument, das ihn mit Padua in Verbindung bringt. Im Kodex Mancini (auch Kodex Lucca) in Padua finden sich neun Werke Ciconias, der Kodex wiederum ist im Umfeld des Hofes von Giangaleazzo Visconti in Pavia zusammengestellt worden – jenem Hof, an dem „il fait très beau demourer“, wie Eustache Deschamps (1340–1406) sagte. Der Text von „Una panthera“ zeugt eventuell von Ciconias Aktivität in Pavia, einer möglichen Etappe auf dem Weg nach Padua.

      Stücke wie „Le ray au soleil“ oder „Sus un‘ fontayne“ belegen, dass Ciconia die Kompositionstechniken eines Milieus beherrschte, in dem die französische Kultur mit der italienischen enge Kontakte hatte. Mehrere seiner weltlichen Stücke verweisen darauf, dass er über einige Zeit an einen Hof gebunden war, an dem die Ars subtilior geschätzt wurde. 1401 wird Ciconia vom Erzpriester Francesco Zarbarella eine Pfründe in der Umgebung Paduas gewährt, die ihm 1402 den Eintritt in das Kapitel der Kathedrale von Padua erlauben, wo er 1403 als „Custos“ und „Cantor“ genannt wird. Ciconia war der erste ausländische Musiker, der in der Kathedrale Mitglied des Kapitels wurde.

      Schon 1396 komponierte Ciconia ein Werk zum Andenken an den Tod von Francesco Carrara il Vecchio, was seine frühe Verbundenheit mit Padua dokumentiert. Seine Beziehungen zu d’Alençon und der Herrscherfamilie Paduas, eben den Carrara, waren möglicherweise auch Grund dafür, dass Zabarella ihn protegierte. Padua befindet sich in einer Krise, eine schwere Pest herrscht, erst 1409 wurde die Stadt wieder zur belebten Universitätsstadt, die sie schon unter der Föderung Francesco Il Vecchios gewesen war. Ciconia hinterliess dennoch seine Spuren, wirkte an bedeutenden Ereignissen in Padua und Venedig mit und stand mit herausragenden Persönlichkeiten der Zeit in Kontakt. Ciconia widmet sich in Padua nicht nur der Komposition sondern fasst auch zwei theoretische Abhandlungen ab, „Nova Musica“ und „De proportionibus“, angeblich von 1408 bzw. 1411.

      Die Doppel-CD – eine kleine Box mit dickem dreisprachigem Booklet – öffnet mit den weltlichen Werken Ciconias, 17 an der Zahl, drei in französischer, die restlichen in italienischer Sprache (ein paar lateinische Werke wurden weggelassen). Sie wurden vom Ensemble La Morra unter Leitung von Corina Marti und Michal Gondko eingespielt. Ein Grossteil der Werke kam durch die Entdeckung des Codex Mancini (oder Lucca) 1930 ans Licht. „canto basso chiamato camerale … che piace e che passe ne‘ cuori“. Die Stücke werden von verschiedenen Kombinationen von Männer- aber auch Frauenstimmen dargeboten. In der Zeit kam es vor, dass Frauen sangen und Instrumente spielten, jene von hohem Stand zuhause im geschlossenen Rahmen, Frauen niedrigeren Standes hatten diesbezüglich mehr Freiheiten. Hermann Poll reiste 1397 nach Padua, der österreichische Mediziner und Astrologe, der das Clavicembalum erfand, die erste Version des Cembalos. In Giovanni Gherardi da Pratos „Paradiso degli Alberti“ treten musizierende Mädchen auf, die von einem erwachsenen Mann begleitet singen. Francesco da Barberino hielt es für ratsam, wenn Frauen im ehefähigen Alter ein Instrument erlernten, hält zwar besonders die Saiteninstrumente für geeginet, meint aber, dass jedes dezente, schöne Instrument taugen könne.

      Am Schluss der ersten und auf der ganzen zweiten CD findet man dann das komplette geistliche Werk Ciconias – Motetten, Messsätze, ein paar lateinische Stücke. Sie wurden von Diabolus in Musica unter Antoine Guerber eingespielt. Die acht Motetten – wohl auf eigene Texte Ciconias – sind politischen oder religiösen Persönlichkeiten gewidmet, darunter auch Zarbarella oder der Gegenpabst Alexander V. An Messsätzen sind ein paar Glorias und Credos überliefert, einige offensichtlich paarweise komponiert. Ciconias Messsätze fügen sich in die Schaffensbewegung, die zunächst von Avignon und dann wieder von Rom ausging, wo die polyphone Messe zum Hauptversuchsfeld der Musiker wurde und die Motette ablöste. Kurz nach seinem Tod entstanden die ersten – von Machauts Messe von 1360-65 abgesehen, die ihrer Zeit Jahrzehnte voraus war – vollständigen Zyklen.

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      #9234009  | PERMALINK

      latho
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      Interessant! Wie ist die Musik notiert worden?

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      #9234011  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Die Frage habe ich mir eigentlich noch gar nie gestellt, in den CD-Booklets gibt’s da und dort mal eine Seite aus einem Manuskript … jedenfalls schon in einem System aus Notenlinien, aber stets ohne Taktunterteilung. Hier fand ich was zu einem Ciconia-Manuskript inklusive Transkriptionsversuche – habe es aber noch nicht durchgelesen (Tabulaturen für Saiteninstrumente verstehe ich zudem eh nicht):
      http://mlewon.wordpress.com/2014/02/24/wolf-1-cum-lacrimis/
      Das gibt sicher mal einen guten Eindruck. Interessanter wären wohl Manuskripte mehrstimmiger Werke – ich weiss nicht einmal, wieviel davon wirklich notiert wurde. Es gibt z.B. ja auch Aufnahmen, auf denen heutige Interpreten Instrumentalbegleitungen ergänzen, obwohl davon in den Noten nichts zu finden ist – aber man kann wie es scheint davon ausgehen, dass das damals vorkam. Also Polyphonie rein vokal und dann eben auch mal mit einer kleinen Orgel oder sonstwas.

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      #9234013  | PERMALINK

      latho
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      Danke für die Infos. Ging mir darum, ob es wirklich „mittelalterliche“ Musik gibt oder ob das immer Humbug ist. Anscheinend nicht, wenn das ernsthaft betrieben wird.

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      #9234015  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Ach so – ja klar, es gibt Manuskripte, Abschriften etc. Da wird einiges an ernsthafter Forschung betrieben, gerade im Umfeld der „historischen Aufführungspraxis“ oder wie immer man das nennen will (kurz „HIP“). Oftmals steuern dann auch gleich die Leiter/Dirigenten der Ensembles selbst die kenntnisreichen Liner Notes zu CDs bei, in denen sie berichten und zusammenfassen, wie sie zu den Versionen gekommen sind, die sie aufnehmen. Aber „mittelalterlich“ heisst schon v.a. 13. und noch mehr 14. Jahrhundert. Wie es davor aussieht, weiss ich nicht, aber fürs 14. sieht die Quellenlage ja ganz allegemein (aufkommender Humanismus, Dante, Petrarca etc.) so übel nicht aus. Wie es ganz konkret um Musik-Handschriften steht, weiss ich aber nicht. Mit Mittelaltermärkten und solchem Bullshit hat das jedenfalls wenig zu tun (nehme an das gibt es auch, aber das findet dann wohl ausserhalb des ernsthaften Klassikbetriebes statt).

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      #10923711  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Einer meiner Einkäufe von vorgestern war diese CD, die erste vom kleinen (es handelt sich um die 36. Veröffentlichung), mir bisher unbekannten, aber wie es scheint sehr feinen Labels Obsidian. Ich kannte auch die Mitwirkenden nicht – bis auf Laurie Stras, die ich aber als Co-Autorin eines Buches auf dem hohen Stapel der ungelesenen Musikbücher kenne. Das Ensemble Musica Secreta, das Stras zusammen mit Deborah Roberts leitet, besteht nur aus Frauen. Frauen singen eine Messe von Antoine Brumel? Klar, denn auch in den Frauenkonventen wurde damals gesungen – und wie dem CD-Booklet zu entnehmen ist, war es durchaus üblich, Musik für Frauenstimmen zu adaptieren. Das wurde hier getan und das Resultat überzeugt sehr. Die Lamentationes erklingen hier obendrein komplett, denn es wurden siebzehn weitere Verse entdeckt (im „P.M.“-Manuskript aus Florenz, 1559), die hier wohl zum ersten Mal aufgenommen wurden. Nach den Lamentationes (ca. 45 Minuten) folgen noch einige zumeist kürzere Stücke aus einem anderen Florentiner Manuskript vom Folgejahr, neben mehreren anonymen Stücke auch je eines von Josquin des Prez, Antonio Moro (dem Kompilator der beiden der CD zugrunde liegenden Manuskripte) und Loyset Compère. Bei mir reichte der Name „Brumel“, um die CD auf den viel zu hohen Einkaufsstapel wandern zu lassen, wir hörten dann auch noch rein – neben dem neunköpfingen (inkl. der beiden Leiterinnen) Chor gibt es eine zurückhalten eingesetzte Orgel, die quasi die Bassstimme verdoppelt und enorm eng in den Gesang eingewoben ist, sowie eine Gambe, die aber wohl nur selten zum Einsatz kommt.

      Hier gibt es noch viel mehr Informationen zum Material der Aufnahmen (die Liner Notes von Stras berichten von ihrem – zufälligen – Fund in Florenz) und geben einen ersten Überblick:
      https://musicasecreta.com/from-darkness-into-light

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      #11272843  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

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      Ich hoffe, dass Werk gehört in diesen Faden:

      Gregori Allegri – Miserere

      Auch ein Komponist der späten Renaissance bzw. des Barock.

      “Miserere”, das bekannteste Werk, wurde vom Vatikan streng bewacht. Keiner durfte es in seiner vollkommenen Form hören. Herausgegeben wurden nur sehr vereinfachte Transkriptionen. Wie auch immer, der 14-jährige Wolfgang Amadeus Mozart überraschte den Vatikan mit einem unangekündigten Besuch. Er hörte “Miserere” wahrend einer nicht öffentlichen Aufführung und schrieb aus seiner Erinnerung das Werk in seiner Heimat nieder.

       

      1831 versuchte sich Felix Mendelssohn an einer eigenen Transkription des Stückes. Die Version, die er als Vorbild nahm, wurde jedoch einen viertel Ton höher aufgeführt. Dies wäre nicht weiter ins Gewicht gefallen, wäre es nicht zu einem “folgenschweren Fehler” bei der Erstellung des “Grove`s Dictionary of Music and Musicians” im Jahre 1880 gekommen. Versehentlich wurde eine Passage aus Mendelssohn’s Transkription in die Mozart Version eingebaut.

       

      In der zweiten Hälfte der Strophe wechselt es von G-Moll zu C-Moll. Daraus entstand die bewegendste und berühmteste Stelle des Werkes. Ein wundervolles hohes C im Sopran. Wahrscheinlich eine der höchsten jemals gesungenen Noten innerhalb der Chormusik.

      Eine wunderbare Version:

      Allegri Miserere – Tallis Scholars (1980)

      und eine weitere Aufnahme:

      https://youtu.be/H3v9unphfi0

       

       

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      #11272889  | PERMALINK

      demon

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      Danke @mr-badlands für den Beitrag! Ich hab mich nach dem Lesen noch bisschen ausfürlicher informieren wollen und bin dabei über dieses ganz fantastische Video gestolpert: klickmich

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      Software ist die ultimative Bürokratie.
      #11273745  | PERMALINK

      Anonym
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      demonDanke @mr-badlands für den Beitrag! Ich hab mich nach dem Lesen noch bisschen ausfürlicher informieren wollen und bin dabei über dieses ganz fantastische Video gestolpert: klickmich

      @demon: Danke für Deine positive Rückmeldung  :-) , werde das Video in Kürze anschauen.

       

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      #11273797  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Danke für den Anstoss, das Ding mal wieder anzuhören! Und das Video habe ich soeben geschaut, wirklich super erklärt, danke @demon!

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      "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
      #11273821  | PERMALINK

      Anonym
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      gypsy-tail-windDanke für den Anstoss, das Ding mal wieder anzuhören! Und das Video habe ich soeben geschaut, wirklich super erklärt, danke @demon!

      @gypsy-tail-wind: Eigentlich habe ich Dir zu danken, denn Du hattes als Album des Monats „Lionel Meunier & Vox Luminis: Andreas Hammerschmidt: Ach Jesus stirb“ gelistet. Der Name hat mich neugierig gemacht und so höre ich mich momentan durch einiges aus der Zeit des 15. / 16. Jahrhundert. Manches klingt sogar recht modern.

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      #11273855  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Das höre ich natürlich gerne! Die Hammerschmidt-CD finde ich hervorragend. Und ja, da sind haufenweise Entdeckungen zu machen … ich bin ja in dem Gebiet jetzt seit einem Jahrzehnt ziemlich unterwegs (von Alter Musik bis zu Neuer, also im ganzen „Klassik“-Bereich, inkl. Oper) und immer noch regelmässig überrascht von Dingen, von denen ich noch nie gehört habe, und das gilt besonders für die Musik der Renaissance und des Barock.

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      #11927007  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Hole mal meinen Post von heute Morgen über die neue CD mit Musik von Vicente Lusitano hier rüber:

      Gestern erstmals eingelegt, inzwischen drei, vier Durchgänge … Vicente Lustitano (der zweite Name bedeutet bloss „der Portugiese“) ist vermutlich der erste publizierte schwarze Komponist. Nach allem, was man heute weiss, hatte er wohl eine afrikanische Mutter und einen weissen Portugiesen als Vater. Dieses Detail wurde in der Enzyklopädie des katholischen Priesters Diogo Barbosa Machado („Bibliotheca Lusitana“, 1752) unterschlagen, ist aus einer seiner Quellen aber überliefert, einem Manuskript von João Franco Barreto aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Das erklärt denn auch, warum es kaum Quellen über Vicente gibt: wie für Musiker damals üblich, trat er in den Dienst der Kirche, doch konnte er als Nicht-Weisser in Portugal damals kein Amt bekleiden. 1551 war er in Rom, wo im selben Jahr sein „Liber primus epigramatm“ herauskam – was eben das früheste gedruckte Werk eines schwarzen Komponisten ist – und das einzige mit Kompositionen von Vicente. Im selben Jahr war er in Rom, wo er in den Diensten des portugiesischen Botschafters Dom Afonso de Lencastre stand, teil einer Debatte mit Nicola Vicentino, die im Juni 1551 ausgetragen wurde und sich an Vicentes Motette „Regina coeli“ entspann, den Vorstellungen von Chromatizismus, die darin zum Ausdruck kamen und der Anwendung der griechischen „genera“ auf die damals gegenwärtige Komponierweise (was damit genau gemeint ist, verstehe ich leider nicht, ich bediene mich bei den Liner Notes). Lusitano wurde zwar zum Sieger der Debatte erklärt, aber weil Vicentino den Gang der Dinge beeinflusste und seine revisionistische Erzählung den Siegeszug antrat, besonders mit der 1955 erschienenen Abhandlung „L’antica musica ridotta alla moderna prattica“, ging Vicente schnell vergessen. Komponisten wie Luzzaschi oder Gesualdo wurden von Vicentino beeinflusst – und Gesualdo war es dann, der selbst wieder zu einem Chromatizismus fand, wie ihn Vicente schon ankündigte. Dieser brachte 1553 in Rom die „Introduttione facillissima et novissima“ heraus, die mehrere Nachdrucke erlebte, und in der BNF in Paris istt sein Manuskript „Tratado de canto de organo“ erhalten. Beide Schriften befassen sich hauptsächlich mit improvisiertem Kontrapunkt, und Vicentes Ausführungen erläutern diesen wenig beleuchteten Aspekt der musikalischen Praxis des 16. Jahrhunderts, sowohl was Komposition wie auch die Aufführung angeht. Es gibt danach noch einen Hinweis: 1561 war Vicente am Hof in Stuttgart, verheiratet und zum Protestantismus konvertiert, bewarb er sich erfolglos um einen Posten. Weitere Quelle sind nicht bekannt (daher in Sachen Lebensdaten auch bloss „died after 1561“).

      Sehr faszinierend, das alles, aber auch die Musik für sich. Das Marian Consort hat eine Auswahl zusammengestellt, die nicht abschliessend sein soll, sondern möglichst die Breite der Texturen und die Klangvielfalt von Vicentes überliefertem Werk abbilden soll. Die Erläuterungen zu einzelnen Motetten in den Liner Notes sind zwar knapp gehalten und einfach zu lesen – aber die Übertragung auf die Musik kann ich leider dennoch nicht nachvollziehen. Am Gesang der Gruppe mag ich nicht kritteln, aber das sparsame Vibrato hier und da ist mir manchmal fast schon zuviel. Mir ist der Name Vicente Lusitano allerdings noch nie zuvor begegnet und es würde mich wundern, wenn es zahlreiche Alternativen auf demselben Niveau gäbe … auf jeden Fall eine wunderbare CD, die ich sehr empfehle.

      Mehr zu Lusitano und der kleinen gegenwärtigen Renaissance seiner Musik hier:
      https://www.bbc.com/culture/article/20220615-the-lost-16th-century-black-composer-vicente-lusitano

      Und hier:

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