Motown – Hits vom Fließband

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    bullschuetz

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    Diese Diskussion wurde aus dem Thema Jazz zwischen Kunst und Kommerz kopiert.

    Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle etwas abschweife, mein Jazzwissen ist einfach zu gering – aber ein Seitenblick auf Motown ist in diesem Zusammenhang doch sehr interessant: Die Musiker, die im Studio arbeiteten, verstanden sich teilweise eigentlich eher als Jazzer und spielten nach Feierabend oft in Jazzclubs; was sie tagsüber im Motown-Studio so trieben, nahmen sie künstlerisch oft gar nicht mal sonderlich ernst, es war eher ein berechenbar bezahlter, halbwegs solider musikalischer Brotjob. Und Songwriting, Produktion, Arrangement – das alles richtete sich bei Motown ganz stark nach kommerziellen Überlegungen. Wahwah-Pedal ist grade in und hat schon kommerzielles Potenzial offenbart? Na, dann verpassen wir den Temptations aber mal hurtig ein bisschen Wahwah-Psychedelik … Diese berechnende Haltung ging so weit, dass Singles, die sich als erfolgreich erwiesen hatten, gradenlos, hart an der Grenze zum 1:1-Maßstab plagiiert, nochmal aufgelegt, geringfügig variiert wurden. Seien es Where did our love go und Baby Love von den Supremes, seien es diverse Four-Tops-Nummern, sei es das Groove-Wiederholungs-Bubenstück I want you back/ABC bei den jackson Five – immer wieder wurde da, wenn erst mal eine Erfolgsformel gefunden war, der Schwamm in fast schon ulkiger Weise ausgewrungen. Und erst wenn dann die dritte Single nach demselben Muster in den Charts nicht mehr zündete, bequemte man sich zur Entwicklung einer neuen Blaupause. Man kann zusammengefasst sagen: Motown war ein geradezu schamlos radikalkommerzielles Hitproduktions-Unternehmen.

    Und die Musik ist phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe. Tja.

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      #9122171  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      bullschuetzSchonschon – aber selbst darauf lässt sich nicht unbedingt ein vernichtendes Qualitätsurteil gründen.

      Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle etwas abschweife, mein Jazzwissen ist einfach zu gering – aber ein Seitenblick auf Motown ist in diesem Zusammenhang doch sehr interessant: Die Musiker, die im Studio arbeiteten, verstanden sich teilweise eigentlich eher als Jazzer und spielten nach Feierabend oft in Jazzclubs; was sie tagsüber im Motown-Studio so trieben, nahmen sie künstlerisch oft gar nicht mal sonderlich ernst, es war eher ein berechenbar bezahlter, halbwegs solider musikalischer Brotjob. Und Songwriting, Produktion, Arrangement – das alles richtete sich bei Motown ganz stark nach kommerziellen Überlegungen. Wahwah-Pedal ist grade in und hat schon kommerzielles Potenzial offenbart? Na, dann verpassen wir den Temptations aber mal hurtig ein bisschen Wahwah-Psychedelik … Diese berechnende Haltung ging so weit, dass Singles, die sich als erfolgreich erwiesen hatten, gradenlos, hart an der Grenze zum 1:1-Maßstab plagiiert, nochmal aufgelegt, geringfügig variiert wurden. Seien es Where did our love go und Baby Love von den Supremes, seien es diverse Four-Tops-Nummern, sei es das Groove-Wiederholungs-Bubenstück I want you back/ABC bei den jackson Five – immer wieder wurde da, wenn erst mal eine Erfolgsformel gefunden war, der Schwamm in fast schon ulkiger Weise ausgewrungen. Und erst wenn dann die dritte Single nach demselben Muster in den Charts nicht mehr zündete, bequemte man sich zur Entwicklung einer neuen Blaupause. Man kann zusammengefasst sagen: Motown war ein geradezu schamlos radikalkommerzielles Hitproduktions-Unternehmen.

      Und die Musik ist phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe. Tja.

      Ja, aber das – phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe – ist die als Ganzes, diese einzlenen plagiierenden Singles wären es sicher nicht, oder? Im Pop kommen Dinge hinzu, die im Jazz weniger wichtig sind, denke ich: Songwriting etwa … ich wäre sehr froh, wenn mehr Mainstream-Jazzer der letzten zwei Jahrzehnte Standards gespielt hätte und spielen würden, oder ältere Jazz-Originals – es gibt viel gutes, nie „gecovertes“ Material! – statt dass sie jede CD mit ihren eigenen, oft nichtssagenden Stücken füllen würden …. aber klar, mit den eigenen Stücken verdienen sie bei jedem Abspielen auf Spotify oder im Radio noch einen Zwanzigstel Cent oder sowas … und die älteren Jazzer haben ja vorgemacht, wie man den eigenen Musikverlag aufzieht und die Tantiemen nicht an die Label-Bosse und Produzenten fliessen lässt … schön und gut, bloss hatten die Originals aus den 50ern und 60ern in vielen – gewiss nicht allen! – Fällen eine Art Handschrift und im Falle der besten Leute Klassiker-Qualitäten, man denke an Stücke wie „Moanin'“ oder „This Here“, „Recorda Me“, „Work Song“, „Sister Sadie“, „Song for My Father“, „Voodoo“ … oder an die Musik von Andrew Hill, Jackie McLean, Bobby Hutcherson … manches lässt sich nicht so einfach adaptieren, gewiss, aber es gibt haufenweise tolle Stücke, die nie gespielt werden, Hank Mobley fällt mir noch ein. Und es gibt auch haufenweise Standards, die kaum einer spielt, während andere schon längst komplett ausgenudelt sind (und selbst mit denen lässt sich oft noch was machen, wenn man es gut anstellt und wenn man gut drauf ist …. es gibt natürlich auch Originals, die komplett durch sind, weil jede Pennälerband sie spielt, z.B. Kenny Dorhams an sich äusserst charmante „Blue Bossa“). Dann, um wieder zurückzukommen, die Tanzbarkeit, die Hooks (klar, die gibt’s in manchen Jazz-Tunes auch, in Form von Shout-Chorussen etwa oder kleinen Begleitriffs oder Interludes – aber im Ganzen gesehen ist das im modernen Mainstream-Jazz alles eher selten, durchaus zu meinem Leidwesen … spice it up!), die Wichtigkeit der repetitiven, rhytmisierten Basslinie (auch da gibt es im Jazz Beispiele, aber auch die sind eher selten – und mir persönlich ist wohl auch vieles aus dem Pop-Bereich egal, weil der Bass zum einschlafen ist, von den Beats mal gar nicht zu reden).

      Ich glaube halt, was Motown erreicht hat (und mind me, ich bin ganz der Stax-Mann!), ist die nicht geringe Leistung der Wiedererkennbarkeit des Produktes. Da könnte man wohl eine Parallele zu Blue Note ziehen … Gordy und Lion, keine Ahnung, ob die beiden sich wirklich ähnlich waren, Lion hat ja gewiss keinen Ruf als Tyrann, aber dennoch setzte er seinen Platten einen unverkennbaren Stempel auf und griff gewiss ein (er mochte z.B. lange Stücke nicht sehr gerne, „Una Mas“ oder auch „Idle Moments“ sind eher frühe Ausnahmen, auch manche Jams etwa von Jimmy Smith oder natürlich die „Blue Lights“-Alben von Kenny Burrell), Platten mit 5 bis 7 Stücken waren ihm offensichtlich am liebsten, wobei 5 ja schon heisst, dass für zwei bis zu 10 Minuten lange Stücke Platz ist, immerhin), aber er tat es wohl in näherer Abstimmung mit den Künstlern (wohingegen Gordy ja „seine“ Band hatte, auf die er zählen konnte … wer am Ende vorne stand, machte wohl einen kleineren Unterschied bzw. wenn einer nicht spurte kam halt der nächste an die Reihe … solche Fälle gab es bei Blue Note gewiss auch, aber die Pflege eines „roster“ war doch auch ein zentraler Bestandteil der Labelphilosophie.

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      #9122173  | PERMALINK

      bullschuetz

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      Was ich bei Motown eben so frappierend finde: dass die traditionell gängige und weithin für wahr gehaltene Behauptung, wonach entschlossene Kommerzorientierung der Entwicklung einer eigenständigen künstlerischen Handschrift im Wege stehe, hier derart auf den Kopf gestellt wird.

      Motown ist quasi der historische Beweis, dass musikalische Kreativität und Innovation auf allen Ebenen (instrumentalistisch, wenn man zum Beispiel an den phantastischen Bassisten James Jamerson denkt, arrangementtechnisch, songwriterisch, sounddesignerisch) möglich ist innnerhalb eines explizit, unverstellt und kompromisslos kommerziellen Settings, unter quasi industriell durchstrukturierten Produktionsbedingungen. Es gab eine Qualitätskontrolle, bei der Singles, die kein Hitpotenzial zu haben schienen, aussortiert wurden, es gab die oben erwähnten Selbstplagiierungsprinzipien, wenn eine Matrix sich als kommerziell erfolgreich erwiesen hatte, es gab schamloses Anpasslertum an aktuelle Trends (die Psychedelisierung der Temptations), es gab Reißbrett- und Fließbandproduktion, dazu Benimmkurse und Tanztraining für die Frontfiguren, im Grunde eine castinghshow-artige Ausbildung innerhalb der Firma – wenn man das so beschreibt, ist es doch im Grunde das totale Grauen, ein radikal antikünstlerisches Arbeitsumfeld, gemessen an allen geltenden Vorstellungen.

      Und genau innerhalb dieses Rahmens entstand massenhaft große Musik (und ich zähle dazu ausdrücklich auch die oben genannten Aufnahmen der Supremes, Four Tops und Jackson 5). Zugespitzt könnte man sagen: Gerade die radikal kommerzielle Ambition Berry Gordys und Motowns, der auf maximale rassen- und klassenübergreifende Marktdurchdringung zielende Ehrgeiz setzte eine popkünstlerisch bahnbrechende Dynamik in Gang und spuckte einen irren Output an grandiosen Aufnahmen aus. Kommerzorientierung nicht als kunstverhinderndes, sondern kunstermöglichendes Prinzip: Das ist für mich das Faszinierende und Provozierende an Motown.

      Entschuldigung, wenn das jetzt so unjazzig offtopic geworden ist. Aber vielleicht könnten jazzkompetente Leute das weiterdenken: Ist eine offensiv kommerzverächtliche Haltung wirklich immer kunstförderlich? Ist es nicht gerade auch im Jazz ein Problem, dass er weithin als elitäre Musik wahrgenommen wird und dass ihm der Ehrgeiz nach Massenappeal ziemlich abhanden gekommen zu sein scheint?

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      #9122175  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      bullschuetzWas ich bei Motown eben so frappierend finde: dass die traditionell gängige und weithin für wahr gehaltene Behauptung, wonach entschlossene Kommerzorientierung der Entwicklung einer eigenständigen künstlerischen Handschrift im Wege stehe, hier derart auf den Kopf gestellt wird.

      Motown ist quasi der historische Beweis, dass musikalische Kreativität und Innovation auf allen Ebenen (instrumentalistisch, wenn man zum Beispiel an den phantastischen Bassisten James Jamerson denkt, arrangementtechnisch, songwriterisch, sounddesignerisch) möglich ist innnerhalb eines explizit, unverstellt und kompromisslos kommerziellen Settings, unter quasi industriell durchstrukturierten Produktionsbedingungen. Es gab eine Qualitätskontrolle, bei der Singles, die kein Hitpotenzial zu haben schienen, aussortiert wurden, es gab die oben erwähnten Selbstplagiierungsprinzipien, wenn eine Matrix sich als kommerziell erfolgreich erwiesen hatte, es gab schamloses Anpasslertum an aktuelle Trends (die Psychedelisierung der Temptations), es gab Reißbrett- und Fließbandproduktion, dazu Benimmkurse und Tanztraining für die Frontfiguren, im Grunde eine castinghshow-artige Ausbildung innerhalb der Firma – wenn man das so beschreibt, ist es doch im Grunde das totale Grauen, ein radikal antikünstlerisches Arbeitsumfeld, gemessen an allen geltenden Vorstellungen.

      Und genau innerhalb dieses Rahmens entstand massenhaft große Musik (und ich zähle dazu ausdrücklich auch die oben genannten Aufnahmen der Supremes, Four Tops und Jackson 5). Zugespitzt könnte man sagen: Gerade die radikal kommerzielle Ambition Berry Gordys und Motowns, der auf maximale rassen- und klassenübergreifende Marktdurchdringung zielende Ehrgeiz setzte eine popkünstlerisch bahnbrechende Dynamik in Gang und spuckte einen irren Output an grandiosen Aufnahmen aus. Kommerzorientierung nicht als kunstverhinderndes, sondern kunstermöglichendes Prinzip: Das ist für mich das Faszinierende und Provozierende an Motown.

      Ich sehe Deinen Punkt schon! Und man könnte das ganze eben, finde ich, mit der Handschrift von Produzenten wie Alfred Lion vergleichen. Oder mit Norman Granz und seinen schon in den späten Vierzigern die „Rassengrenzen“ sprengenden Jazz at the Philharmonic-Konzerte (die natürlich auch deshalb so wichtig sind, weil sie so viel Publikum anzogen). Aber wie ist das mit den Motown-Künstlern … von Jackson, Wonder oder dem Rebell Gaye abgesehen, wie viele konnten sich emanzipieren und (künstlerisch, kommerziell, beides) nahtlos fortfahren, wo sie unter Gordys Fittichen aufhörten? Ich weiss nicht, wohin diese Frage führt, aber im Vergleich mit dem Jazz drängt sie sich mir einfach irgendwie auf, weil mir das Korsett bei Motown doch vergleichsweise sehr viel enger vorkommt und – ich sagte es oben schon – dabei eine gewisse Gefahr der Auswechselbarkeit der Frontleute besteht – bei gleichzeitiger Beibehaltung des Ganzen. Ich frage mich einfach, ob es bei Motown am Ende nicht vergleichsweise sehr viel stärker um ein „Produkt“ ging als um einzelne Künstler?

      bullschuetzEntschuldigung, wenn das jetzt so unjazzig offtopic geworden ist. Aber vielleicht könnten jazzkompetente Leute das weiterdenken: Ist eine offensiv kommerzverächtliche Haltung wirklich immer kunstförderlich? Ist es nicht gerade auch im Jazz ein Problem, dass er weithin als elitäre Musik wahrgenommen wird und dass ihm der Ehrgeiz nach Massenappeal ziemlich abhanden gekommen zu sein scheint?

      Das sind natürlich interessante Fragen … und wie ich schon anderswo in diesem Thread schrieb, ich würde niemals kausale oder sonstwie direkte Korrelationen herstellen wollen. Gerade im Jazz bleibt vieles zu unberechenbar, mit Marketing und mittelmässig viel Talent gelangt man vielleicht an einen gewissen Punkt, aber dann ist Schluss. Mit Unmengen von Talent und ohne Marketing gelangt man vielleicht gar nie irgendwohin … aber die Frage ist doch auch, wen es denn kümmert, dass der Jazz („den“ Jazz gibt es eh seit 1965 nicht mehr) diesen Ehrgeiz nicht mehr hatte. Es waren ja gerade die Musiker selbst, die in den Vierzigern damit begannen, sich vom Massenpublikum abzuwenden und neue Formen des Ausdrucks zu suchen. Ich glaube nicht, dass heute einer sich entschliesst, Jazzmusiker zu werden mit der Absicht, ein möglichst breites Publikum anzusprechen (das gelingt höchstens in Randbereichen, Jamie Cullum, Trombone Shorty, was weiss ich, die machen ihr Ding, sie machen es wohl auch gut, aber ich bin auch ganz froh, wenn ich es mir nicht regelmässig anhören muss).

      Das hatte redbeans oben auch schon erwähnt, es gibt halt Sachen, die mehr Publikum ansprechen als andere, auch innerhalb des Jazz. Ich gehe heute Abend zu Colin Vallon, mal sehen, wieviele Leute er in Zürich inzwischen anzulocken imstande ist, beim ersten Konzert seines Trios vor sechs oder sieben Jahren waren es wohl gerade mal 30 oder 40, darunter aber auch KollegInnen wie Irène Schweizer, die das junge Talent auschecken wollten … und ich bin mir sicher, dass Irène sich einen Dreck darum schert, ob Colin tausende Stunden geübt hat und die Regeln des gepflegten Arrangements beherrscht … worum man sich aber schert – ich schliesse mich da mit ein – ist doch, dass man spürt, dass da einer ist, der Ideen hat und die Mittel, diese Ideen in Musik umzusetzen … und dass einen das Resultat irgendwie berührt, dass es gemessen an seinen Ansprüchen, wie sagt man, wasserdicht ist (auf Züridütsch: dass es verhebbt – hat nichts mit Ebbe zu tun, gibt’s im Zürisee nicht) … und wenn man das alles eben nicht spürt, geht man ans nächste Konzert wohl nicht mehr. Jazzkonzerte, bei denen man Ansprüche zu spüren glaubt, das Bemühen der Musiker, ihnen gerecht zu werden fast mit Händen greifbar ist – aber es nicht reicht … das finde ich sehr schmerzhaft. Auch Jazzkonzerte, bei denen einen das Gefühl überkommt: Das ist alles nur Floskel, gekonnt gemacht, oft so gut verschleiert, dass man die Leere kaum bemerkt … oder eine Pose, die auf etwas beruht, was einer vor zehn, zwanzig Jahren mal richtig empfunden hat …. das tut weh, das will man nicht hören. Andererseits, das oben auch schon erwähnte Konzert vor 13 Leuten mit Barry Altschul, das war das Quartett von Steve Swell und Gebhard Ullmann (mit Hill Greene am Bass – die vier spielten ein phantastisches, ca. 70minütiges Set für diese 13 Leute. Das ist wohl auch Old School: jetzt sind wir hier, ihr seid hier, wir können alle nichts dafür, dass nicht mehr hier sind, wir machen das jetzt einfach. Haltung.

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      #9122177  | PERMALINK

      nicht_vom_forum

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      bullschuetzWas ich bei Motown eben so frappierend finde: dass die traditionell gängige und weithin für wahr gehaltene Behauptung, wonach entschlossene Kommerzorientierung der Entwicklung einer eigenständigen künstlerischen Handschrift im Wege stehe, hier derart auf den Kopf gestellt wird.

      Das hängt aber auch damit zusammen, dass „Kunst“ kein fest definierter Begriff ist und verschiedene Aufgaben bzw. Ausprägungen hat. Motown und der von Dir beschriebene Mechanismus wären völlig undenkbar, wenn sich in den USA nicht gleichzeitig gesellschaftlich ein Klima entwickelt hätte, das von neuem schwarzen Selbstbewusstsein geprägt war (Was von der Bürgerrechtsbewegung über Musik bis zu Blaxploitation-Filmen reichte). In dieser Situtation ist eine „Entität“, die handwerklich auf hohem Niveau den Zeitgeist abbildet zwar „Kunst“ (wie z. B. auch Mozart), das Ergebnis hat aber aber mit dem Kunstbegriff, den jemand wie Peter Brötzmann für sich in Anspruch nimmt, wenig zu tun. (Disclaimer: Diese Aussage enthält keine Wertung.)

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      #9122179  | PERMALINK

      bullschuetz

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      gypsy tail windIch frage mich einfach, ob es bei Motown am Ende nicht vergleichsweise sehr viel stärker um ein „Produkt“ ging als um einzelne Künstler?

      Definitiv. Eine Firma, verschiedene Produktlinien. Rigide Kontrolle und recht straffe Grenzen für individuelle künstlerische Verwirklichungsbedürfnisse. Wer aus diesem Korsett raus wollte, musste ein Rebellenrückgrat haben und einen kommerziellen Appeal, der sich als Machtfaktor nutzen ließ.

      Wie war das bei Alfred Lion? Wie aktiv und konkret wirkte er in künstlerische Entscheidungsprozesse wie Repertoirewahl, Besetzungen etc hinein?

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      #9122181  | PERMALINK

      ferry

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      bullschuetzSchonschon – aber selbst darauf lässt sich nicht unbedingt ein vernichtendes Qualitätsurteil gründen.

      Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle etwas abschweife, mein Jazzwissen ist einfach zu gering – aber ein Seitenblick auf Motown ist in diesem Zusammenhang doch sehr interessant: Die Musiker, die im Studio arbeiteten, verstanden sich teilweise eigentlich eher als Jazzer und spielten nach Feierabend oft in Jazzclubs; was sie tagsüber im Motown-Studio so trieben, nahmen sie künstlerisch oft gar nicht mal sonderlich ernst, es war eher ein berechenbar bezahlter, halbwegs solider musikalischer Brotjob. Und Songwriting, Produktion, Arrangement – das alles richtete sich bei Motown ganz stark nach kommerziellen Überlegungen. Wahwah-Pedal ist grade in und hat schon kommerzielles Potenzial offenbart? Na, dann verpassen wir den Temptations aber mal hurtig ein bisschen Wahwah-Psychedelik … Diese berechnende Haltung ging so weit, dass Singles, die sich als erfolgreich erwiesen hatten, gradenlos, hart an der Grenze zum 1:1-Maßstab plagiiert, nochmal aufgelegt, geringfügig variiert wurden. Seien es Where did our love go und Baby Love von den Supremes, seien es diverse Four-Tops-Nummern, sei es das Groove-Wiederholungs-Bubenstück I want you back/ABC bei den jackson Five – immer wieder wurde da, wenn erst mal eine Erfolgsformel gefunden war, der Schwamm in fast schon ulkiger Weise ausgewrungen. Und erst wenn dann die dritte Single nach demselben Muster in den Charts nicht mehr zündete, bequemte man sich zur Entwicklung einer neuen Blaupause. Man kann zusammengefasst sagen: Motown war ein geradezu schamlos radikalkommerzielles Hitproduktions-Unternehmen.

      Und die Musik ist phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe. Tja.

      Sehr gute Argumente, bullschuetz !
      Man kann bestimmt nicht bestreiten dass aus gut oder sehr gut gemachter handwerklicher Basisarbeit, gepaart mit individueller Klasse der SängerInnen etwas besonderes wird (wie im Fall Motown) Und bei nicht so gut gemachter Arbeit, hört man die kommerziellen Absichten eben schneller raus?
      Im Jazz ist es ja bei den Standards nicht unähnlich, aus der guten handwerklichen Basis kann erst mit individueller Klasse etwas besonderes werden. Wobei ja auch bei den nicht so guten Sachen noch keine kommerziellen Absichten zugrunde liegen müssen. Ich meine aber auch im Jazz schon, dass man z.B. auch bei dem einschmeichelnden Sound gewisser Klaviertrios kommerzielle Absichten raushören kann.
      Es kommt aber auch darauf an, was man künstlerisch aus der Vorlage macht. Im Fall von z.B. Coverversionen gibt es ja auch etliche Beispiele, bei der die Coverversion das Original übertrifft.

      Kann aber vor einem kommerziellen Hintergrund wirklich künstlerisch grossartige Musik gemacht werden?
      Ist es nicht eher das Gesamtkonzept von Motown, das aus sehr guter Unterhaltungs- oder Tanzmusik auch etwas künstlerisches werden lässt?
      EDIT: Das Argument hat ja auch schon gypsy gebracht, lese ich gerade. Muss jetzt erstmal die Postings lesen, die inzwischen neu sind.

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      life is a dream[/SIZE]
      #9122183  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      bullschuetzWie war das bei Alfred Lion? Wie aktiv und konkret wirkte er in künstlerische Entscheidungsprozesse wie Repertoirewahl, Besetzungen etc hinein?

      Na ja, wie gesagt, er hatte halt (wie auch andere Produzenten) seine favorisierten Musiker. Sonny Clark am Klavier etwa, Art Taylor sass eher am Schlagzeug als Philly Joe (der war als Junkie zu notorisch unzuverlässig, wurde aber von Riverside regelmässig gebucht … und er war natürlich der explosivere Drummer), später dann Billy Higgins …. McLean, Morgan, Mobley, Fuller sind Musiker, die in diversen Kombination immer wieder auftauchen. Lion gab oftmals früheren Sidemen irgendwann ihre eigene Leader-Session, manchmal blieb es bei einer einzigen (Duke Jordan, Kenny Drew – der hatte zwar schon mal eine 10″-Platte gemacht, Jahre davor). Er hatte seine Exklusivkünstler wie Jimmy Smith, Horace Silver, Art Blakey, Hank Mobley (wobei ich nicht mal sicher bin, ob sie Exklusivverträge hatten). Seine Genialität lag wohl v.a. darin, dass er einerseits sehr offene Ohren hatte, sich auch auf Empfehlungen von Musikern verliess, über gute A&R-Leute wie Ike Quebec und später Duke Pearson verfügte … und v.a. dass er erkannte, dass da was abging in den Fünfzigern und Sechzigern, was es Wert war, dokumentiert zu werden. Er produzierte oft in sehr kurzen Abständen sehr viele Aufnahmen, einfach weil er merkte: diese Musiker muss man jetzt aufnehmen – kommerziell ging das wohl oft erst mit der Zeit auf, denn mehr als zwei LPs pro Jahr konnte man wohl von sehr wenigen Künstlern herausbringen, ohne den Markt hoffnungslos zu übersättigen (daher erschienen auch in den Siebzigern, als Michael Cuscuna nach längeren Bemühungen endlich in die Blue Note-Archive abtauchen durfte, massenhaft zuvor nie veröffentlichtes Material). Wie stark er genau in künstlerischer Hinsicht eingriff, ist wohl schwer zu sagen … aber wenn man Alben vergleicht, die Musiker auf Blue Note oder anderswo gemacht haben, spürt man das schon oft irgendwie … er hatte z.B. einen ausgeprägten Hang zum Blues, in den frühen Jahren (Blue Note wurde ja vor 75 Jahren gegründet, 1939 … Lions Partner Frank/Francis Wolff war soweit ich weiss auf einem der allerletzten Schiffe, die noch vor Kriegsbeginn aus Europa rauskamen) liess er die Musiker oftmals in „älterem“ Stil spielen, als sie das live in den New Yorker Clubs taten: blueslastiger, erdiger, langsamer, einfacher. Dass der Hardbop bei Lion auf offene Ohren stiess, war also nicht weiter überraschend, und mit den Aufnahmen der Messengers aus dem Café Bohemia und den beiden „Horace Silver & The Jazz Messengers“-Alben schuf er quasi auch gleich die ersten reifen Werke dieser Strömung, die dann beim Label bald allein den Ton angeben sollte (noch bis 1957 oder so gab es gelegentlich Aufanhmen „alter“ Jazzer wie Sidney Bechet oder George Lewis). Ich denke, Lion liess den Musikern viele Freiheiten, aber er gab zugleich eine Art Richtung vor, die sein „Produkt“ (inkl. des Sounds von Rudy Van Gelder – der ja auch für Prestige und weitere Label tätig war, aber die Blue Note-Aufnahmen klangen eben anders -, des Designs von Reid Miles, der Photos von Wolff) eben doch in vielen Fällen klar erkennbar machen.

      Aber der Vergleich mit Motown hinkt auf jeden Fall … bzw. er ist vielleicht insofern angemessen, als die Musik auf Blue Note in ähnlichem Masse „freier“ war, als die auf Motown, und die Produzenten halt den jeweils „richtigen“ Approach fanden, ihr Produkt zu einer klaren Marke zu machen, die sich durch eine hohe Wiedererkennbarkeit auszeichnete.

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      "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
      #9122185  | PERMALINK

      bullschuetz

      Registriert seit: 16.12.2008

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      gypsy tail windAber der Vergleich mit Motown hinkt auf jeden Fall … bzw. er ist vielleicht insofern angemessen, als die Musik auf Blue Note in ähnlichem Masse „freier“ war, als die auf Motown, und die Produzenten halt den jeweils „richtigen“ Approach fanden, ihr Produkt zu einer klaren Marke zu machen, die sich durch eine hohe Wiedererkennbarkeit auszeichnete.

      Und damit wäre Blue Note/Lion ein weiterer Beleg dafür, dass ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung (oder wie immer man das nennen will) der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss, sondern manchmal helfen kann, einen Stil zu definieren, oder die Musiker gar dazu zwingt, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen (wobei ich, um ehrlich zu sein, Hardbop manchmal nur in Maßen ertragen kann, weil mir das dann tatächlich bisweilen etwas formatiert vorkommt, relativ nahe am Klischee).

      Jedenfalls darf man solche über ein Label vorgegebenen Korsett-Strukturen nicht nur als die Kunst lähmend, domestizierend, einschränkend verstehen – auch Blue Note ist ja ein Beispiel dafür, dass innerhalb dieser relativ straffen Struktur eine große Dynamik freigesetzt wird, eine gut geölte Aufnahme-Maschine zu schnurren beginnt, da bekommen plötzlich viele Musiker Gelegenheit, oft und unter professionellen Aufnahme- und Vermarktungsbedingungen ihre Arbeit zu machen; so gesehen ist das ein ausgesprochen kunstfreundliches Umfeld.

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      #9122187  | PERMALINK

      nail75

      Registriert seit: 16.10.2006

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      Man sollte bei Blue Note mehrere Dinge nicht vergessen. Die Auflagen der Blue Note-Alben war unglaublich klein, 1000 Stück hier, 2000, mal 3000. So viele produziert auch das deutsche This Charming Man Records-Label von seinen Punk, Metal und Indie-Bands. Daher sind die Originale auch so teuer und gesucht.

      Das Gute für Blue Note war, dass sie bis auf den heutigen Tag gefragt sind. Langfristig war das also ein erfolgreiches Geschäftsmodell – aber in den 1940ern war Blue Note ein winziges Label, das ständig vor dem Aus stand. Wenn du Alfred Lion in 1947 gesagt hättest, dass seine Platten in 50 Jahren zu den gesuchtesten überhaupt zählen würden, hätte er vielleicht geantwortet: „Das ist ja schön, aber ich hätte gerne jetzt etwas Geld, um meine Miete zu bezahlen“.

      Der Vergleich mit Motown hinkt also wie gypsy schon zu Recht anmerkte.

      Dass Alfred Löw durchhielt, kann man nur mit einem enormen Maß an Leidenschaft und Idealismus erklären. Er liebte den Jazz – darüber besteht Einigkeit. Als europäischer Jude, der von den Nazis fliehen musste, besaß er Respekt vor den (vornehmlich) afroamerikanischen Musikern und hatte auch gewisse ganz unamerikanische Vorstellungen, beispielsweise dass Zeit für Proben unterstützenswert sind. Daher bot er bessere Bedingungen für Musiker als die anderen unabhängigen Jazzlabels wie Prestige oder die Westcoast-Label.

      Mit anderen Worten: Ja, das Blue Note Beispiel beweist, dass „ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss“. Aber erst Jahrzehnte nach den äußerst mühsamen Anfängen, nach sehr vielen Entbehrungen und nur mit unendlich viel Idealismus und Beharrlichkeit.

      Ein besseres Beispiel wäre vielleicht ECM. Ein Indie-Label, das sich mit einem gigantischen Hit-Album am Markt etablieren konnte und sich dauerhaft behauptete, weil es einen eigenen Stil und eine eigene Ästhetik perfektionierte, der jederzeit wiedererkennbar ist.

      --

      Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
      #9122189  | PERMALINK

      go1
      Gang of One

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      Beiträge: 5,625

      Ein spannender Thread mit vielen guten Beiträgen. :-) Danke dafür! Ich will noch einen Kommentar nachtragen zu einem Diskussionsstrang, der eigentlich schon durch ist (in den letzten paar Tagen war ich halt nicht hier, das kommt davon).

      bullschuetzUnd damit wäre Blue Note/Lion ein weiterer Beleg dafür, dass ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung (oder wie immer man das nennen will) der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss, sondern manchmal helfen kann, einen Stil zu definieren, oder die Musiker gar dazu zwingt, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen (wobei ich, um ehrlich zu sein, Hardbop manchmal nur in Maßen ertragen kann, weil mir das dann tatsächlich bisweilen etwas formatiert vorkommt, relativ nahe am Klischee).

      Jedenfalls darf man solche über ein Label vorgegebenen Korsett-Strukturen nicht nur als die Kunst lähmend, domestizierend, einschränkend verstehen – auch Blue Note ist ja ein Beispiel dafür, dass innerhalb dieser relativ straffen Struktur eine große Dynamik freigesetzt wird, eine gut geölte Aufnahme-Maschine zu schnurren beginnt, da bekommen plötzlich viele Musiker Gelegenheit, oft und unter professionellen Aufnahme- und Vermarktungsbedingungen ihre Arbeit zu machen; so gesehen ist das ein ausgesprochen kunstfreundliches Umfeld.

      Der erste Teil der These („Ökonomisches Kalkül etc. muss der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen“) ist so schwach formuliert, dass niemand widersprechen wird, und deshalb als These nicht besonders spannend. Dass es da einen „unbedingten“ Widerspruch gebe, hat noch niemand behauptet. Wer die Kommerzialisierung der Kunstproduktion kritisiert, meint nur, dass ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. ein kunstfremder Faktor ist, der das Kunstschaffen erschwert oder behindert – weil er die Beteiligten dazu bringt, auf Marktgängigkeit zu achten statt auf das, worauf es eigentlich ankommen soll in der Kunst (individueller Ausdruck, freies Spiel der Phantasie, die künstlerische Vision oder was auch immer). Der Marktdruck gilt den Kritikern als widriger Umstand. Dass auch unter solchen Umständen gute Kunst geschaffen werden kann, ist dabei mitgedacht, denn Kunst ist immer schon unter widrigen Umständen entstanden – da sind kommerzielle Zwänge nur eine Variante von vielen.

      Wer von seiner Kunst leben will, muss entweder eine „Marktnische“ finden oder braucht einen Mäzen oder ist auf Staatsgelder angewiesen – in allen drei Fällen muss man sich mit Erwartungen auseinandersetzen, die dem eigenen künstlerischen Drang zuwiderlaufen können (nicht müssen, aber es oft genug auch tun – die Schriftstellerin Ursula LeGuin hat in Bezug auf das Streben nach Marktgängigkeit der eigenen Werke vom „Stalin in the soul“ gesprochen, der einen dazu bringt, manche potentiell gute Idee von vornherein zu verwerfen). Und wer nicht von seiner Kunst lebt, ist dadurch gehandicapt, dass der Brotberuf ihn Zeit und Energie kostet. Was da das kleinere Übel ist, lässt sich wohl nicht allgemein beantworten.

      Eine wirklich freie Kunstproduktion kennen wir doch gar nicht. Dass es allen Menschen möglich sei, ihre Kräfte frei als Selbstzweck zu entfalten, ist immer noch Utopie. Dieser utopische Gehalt: die freie Entfaltung des Individuums, ist aber Teil unseres (bürgerlichen, abendländischen) Kunstideals, Teil des kulturellen Erbes – wenn ich mal philosophisch werden darf (ich höre gleich wieder damit auf). So lange es noch genügend Leute gibt, die dieses Ideal auf ihre Fahne schreiben, geht der zweite Teil Deiner These daran zuschanden („Musiker dazu zwingen, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen“): Manchen kommt es eben darauf an, ob es wirklich ihre Klangidee ist… Wenn viele dieselbe Klangidee „auf den Punkt bringen“, ist sie bald nur noch ein Klischee, wie Du selbst sagst.

      Aber unabhängig davon, was man allgemein von Deiner These hält, ist Blue Note kein gutes Beispiel dafür. Ja, auch Alfred Lion hat darauf geachtet, dass Geld hereinkommt und genügend Platten auch verkäuflich sind – aber das war keine Eigenart von ihm, sondern Notwendigkeit. Dasselbe gilt für alle anderen Label-Chefs und Jazz-Produzenten, die es seinerzeit gegeben hat, auch. Bei Lion war wahrscheinlich der Idealismus größer und der Bereicherungstrieb geringer als bei den meisten seiner Konkurrenten. Was hat er denn gemacht? Er hat nicht alles veröffentlicht, was seine Künstler aufgenommen haben, um die Nachfrage nicht zu übersättigen (und die Kosten zu begrenzen), er hat nach Stücken wie „The Sidewinder“ Ausschau gehalten und Künstler ermutigt, so etwas auszuprobieren, und von den halbwegs massentauglichen Stücken hat er Single-Edits für die Jukebox machen lassen – viel mehr war es doch nicht, soweit ich das überblicke. Da spielte anderswo das ökonomische Kalkül vermutlich eine größere Rolle.

      Und das Kunstfreundliche an Blue Note waren wohl weniger die vom „Label vorgegebenen Korsett-Strukturen“ („two horns, three rhythm“ als Standardbesetzung und dergleichen), sondern schlicht der Kunstverstand von Lion, Wolff, Ike Quebec und all der anderen und vor allem die bezahlten Proben, die es bei anderen Labels nicht gab (nail75 hat das erwähnt). Bei Prestige sind dem Vernehmen nach die Junkies mal eben schnell ins Studio gegangen und haben ein Album aufgenommen, um sich damit das Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Alfred Lion hat seinen Musikern vorher Proben finanziert, damit sie bei der Aufnahme gut vorbereitet und eingespielt waren. Diese Investition in Qualität hat kurzfristig die Kosten erhöht und sich erst langfristig ausgezahlt, im Laufe von Jahrzehnten (aber langfristig sind wir alle tot). Als Geschäftsmodell war das so la la, aber der Kunst war es förderlich – weil die Spontaneität und Improvisation, auf die es im Jazz ankommt, auf reichlich Üben und Proben beruht. Kostensenkung und Gewinnmaximierung dagegen haben eher selten das Kunstschaffen gefördert.

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      To Hell with Poverty
      #9122191  | PERMALINK

      bullschuetz

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      Go1Dass es da einen „unbedingten“ Widerspruch gebe, hat noch niemand behauptet. Wer die Kommerzialisierung der Kunstproduktion kritisiert, meint nur, dass ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. ein kunstfremder Faktor ist, der das Kunstschaffen erschwert oder behindert – weil er die Beteiligten dazu bringt, auf Marktgängigkeit zu achten statt auf das, worauf es eigentlich ankommen soll in der Kunst (individueller Ausdruck, freies Spiel der Phantasie, die künstlerische Vision oder was auch immer). Der Marktdruck gilt den Kritikern als widriger Umstand.
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      Wer von seiner Kunst leben will, muss entweder eine „Marktnische“ finden oder braucht einen Mäzen oder ist auf Staatsgelder angewiesen – in allen drei Fällen muss man sich mit Erwartungen auseinandersetzen, die dem eigenen künstlerischen Drang zuwiderlaufen können.
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      Eine wirklich freie Kunstproduktion kennen wir doch gar nicht. Dass es allen Menschen möglich sei, ihre Kräfte frei als Selbstzweck zu entfalten, ist immer noch Utopie. Dieser utopische Gehalt: die freie Entfaltung des Individuums, ist aber Teil unseres (bürgerlichen, abendländischen) Kunstideals, Teil des kulturellen Erbes.
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      Aber unabhängig davon, was man allgemein von Deiner These hält, ist Blue Note kein gutes Beispiel dafür.

      Da kann ich mit fast allem leben und vielem zustimmen, insbesondere, dass Blue Note kein gutes Beispiel ist. Ich bin da eigentlich bloß reingerutscht und habe mich von der Spekulationslust aufs Feld meiner Inkompetenz treiben lassen, nail75 hat ja die Brüchigkeiten grausam präzise entlarvt.

      Der radikal spannendere Fall, den ich weiter oben mehrmals anzureißen versucht habe, ist Motown. Denn da scheint es mir so gewesen zu sein, dass (um mit Deinen Worten zu sprechen:) „ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. kunstfremde Faktoren waren, die das Kunstschaffen“ … eben nein, gerade nicht „erschwert oder behindert“, sondern in dieser irren Dichte sowohl fulminant erfolgreicher als auch qualitativ phantastischer und teilweise künstlerisch innovativer Aufnahmen überhaupt erst möglich gemacht haben.

      Dass es so sein könnte, wollen wir alle natürlich gar nicht hören, weshalb ich Motown sowohl „faszinierend“ als auch „provozierend“ genannt habe.

      [Ich bitte schonmal um Entschuldigung dafür, dass ich, falls jemand das kommentieren will, heute nicht mehr antworte, bin steinmüde.]

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      #9122193  | PERMALINK

      go1
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      bullschuetzDer radikal spannendere Fall, den ich weiter oben mehrmals anzureißen versucht habe, ist Motown. Denn da scheint es mir so gewesen zu sein, dass (…) „ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. kunstfremde Faktoren waren, die das Kunstschaffen“ … in dieser irren Dichte sowohl fulminant erfolgreicher als auch qualitativ phantastischer und teilweise künstlerisch innovativer Aufnahmen überhaupt erst möglich gemacht haben.

      Dass es so sein könnte, wollen wir alle natürlich gar nicht hören, weshalb ich Motown sowohl „faszinierend“ als auch „provozierend“ genannt habe.

      Wenn „wir“ (Wer?) das „nicht hören wollen“, liegt das vielleicht daran, dass die Behauptung gar nicht stimmt…

      Eigentlich weiß ich zu wenig über Motown, um dieses Beispiel zu diskutieren – ich bin im Unterschied zu Dir kein Motown-Fan. Aber ich will die Antwort nicht schuldig bleiben (obwohl sie nicht hierher gehört) und werfe provisorisch ein paar Antithesen hin:

      Erstens übertreibst Du: Bei aller Begeisterung über die geliebten Motown-Klassiker sollte man nicht vergessen, dass der Output dieser Pop-Manufaktur zu einem Großteil „product“ war – Qualitätsprodukt zwar, weil gute Songschreiber, gute Musiker und gute Produzenten am Werk waren, aber nichts, worüber ich in Verzückung geraten würde. In meinen Ohren klingt da vieles lahm und dated.
      Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen? Sie hätten dann jedenfalls weniger Konfektionsware produziert und weniger Zeit mit der Ausbeutung von Erfolgsformeln verschwendet.
      Drittens hat der kommerzielle Zweck des Unternehmens den Rahmen dessen begrenzt, was bei Motown überhaupt möglich war. Die Kreativität der Künstler konnte sich in bestimmten Formen verwirklichen, in anderen aber nicht. Wer aus diesem Rahmen heraustreten wollte, musste darum kämpfen – was Energien gekostet hat, die andernfalls in die Kunst hätten fließen können.
      Viertens ist auch das menschliche Leid nicht zu vergessen, das durch das Reglement und den Drill in der Pop-Manufaktur verursacht wurde (wie ich annehme – aber da müsste ich mich, wie gesagt, erst einlesen; vielleicht stimmt mein Vorurteil da nicht).
      Aus all diesen Gründen halte ich Deine Ehrenrettung des Kommerzes für verfehlt. Freuen wir uns einfach darüber, dass eine beträchtliche Zahl großer Singles produziert worden ist.

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      To Hell with Poverty
      #9122195  | PERMALINK

      bullschuetz

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      Go1Ich will die Antwort nicht schuldig bleiben (obwohl sie nicht hierher gehört) und werfe provisorisch ein paar Antithesen hin.

      Danke dafür – und Du hast recht: Der Thread ist, sein Kernthema betreffend, zu interessant, um ihn mit einer Paralleldiskussion zu belasten (dafür ein „Entschuldigung“ in die Runde). Vielleicht mal an anderer Stelle oder in einem eigenen Motown-Thread mehr zu Deinen Antithesen, die ich für durchweg bedenkenswert halte, wenn ich auch den Punkten 1 und 2 in einer ausführlicher begründeten Antwort widersprechen und bei Punkt 3 mindestens für Differenzierung werben wollte.

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      #9122197  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
      Moderator
      Biomasse

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      bullschuetzDanke dafür – und Du hast recht: Der Thread ist, sein Kernthema betreffend, zu interessant, um ihn mit einer Paralleldiskussion zu belasten (dafür ein „Entschuldigung“ in die Runde). Vielleicht mal an anderer Stelle oder in einem eigenen Motown-Thread mehr zu Deinen Antithesen, die ich für durchweg bedenkenswert halte, wenn ich auch den Punkten 1 und 2 in einer ausführlicher begründeten Antwort widersprechen und bei Punkt 3 mindestens für Differenzierung werben wollte.

      Was es bei Punkt 2 zu widersprechen gibt, begreife ich nicht – wenigstens nicht am ersten, von mir gefetteten Satz:

      Go1Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen? Sie hätten dann jedenfalls weniger Konfektionsware produziert und weniger Zeit mit der Ausbeutung von Erfolgsformeln verschwendet.

      Die Diskussion mit den äusseren Umständen, dem Druck und ihrem Einfluss auf die Kreativität muss man – wie so manches – im Einzelfall führen (den jungen Marvin Gaye hat das vermutlich ziemlich fertig gemacht, irgendwann hatte er … was denn, Marktmacht? genug und zeigte er Gordy den Finger … aber irgendwelchen Girl-Groups – das soll jetzt nicht abschätzig klingen, ich kenne mich da einfach viel zu wenig aus, um spezifischer zu werden -, die quasi für das bereits laufende, geölte System gecastet wurden, tat der Enge Rahmen möglicherweise gut, ja ermöglichte überhaupt erst, dass sie als Teil von gelungenen Produktionen mitwirken konnten … es ist ja doch etwas anderes, ob man immer schon in der Kirche gesungen hat oder so (und dann irgendwann den „break“ erleben durfte, entdeckt wurde, vor eine fertig orchestrierte Maschinerie gesetzt wurde und Erfolg hatte), oder ob man Jahrelang mit Big Bands durch die Lande tingelte oder sich in R & B- oder Blues-Bands verdingte, um den steinigen Weg des Jazzmusikers einzuschlagen (bei dem man abgesehen von Momenten im Studio stets selbst die vollständige Verantwortung in künstlerischen – und geschäftlichen – Belangen übernahm, ob man nun wollte oder nicht). Auch da greift der Vergleich nicht … dennoch, die Frage, ob Druck, Zwänge, vorgegebene Rahmenbedingungen einen Musiker anspornen oder behindern, ist eine interessante, die durchaus in die vorliegende Diskussion passt. Aber ich bin wie gesagt der Ansicht, dass sich dafür keine eindeutigen Antworten finden lassen. Um nochmal ECM zu nennen: das Art Ensemble of Chicago kam mit dem Label offenbar klar … Lester Bowie und Roscoe Mitchell nahmen auch eigene Alben für Eicher auf (Mitchell tut das immer noch bzw. tat es zuletzt vor wenigen Jahren) … Dewey Redman oder Sam Rivers wiederum kamen damit offensichtlich nicht klar, ihre jeweils einzigen Alben bleiben auch beide etwas unter den Erwartungen, gerade Rivers hat in derselben Zeit anderswo erfolgreichere (künstlerisch – und klar ist das Geschmacksache, aber hey!) Alben aufgenommen – aber dafür nicht von der Publizität profiziert, die er mit ein paar ECM-Produktionen hätte erreichen können. Warum es bei den beiden nicht zu weigeren Alben kam, weiss ich nicht … vielleicht waren die beiden eingespielten auch einfach nicht gut genug, verkauften sich nicht oder was weiss ich, Redman war als Sideman von Keith Jarrett auch sonst im Dunstkreis von ECM unterwegs damals … aber es sollte halt nicht sein (schöner gewesen wäre es sowieso, wenn die guten Leute von Enja oder auch die von Black Saint ihm etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, beide verfolgten eine „schwärzere“ Ästhetik, in die er besser passte, und wenigstens mit dem Duo-Album mit Ed Blackwell, „Red and Black“ auf Black Saint resultierte da auch ein wirklich gutes Album).

      Im Licht der ganzen Diskussion – in Sachen Leidensdruck usw. – finde ich die Aussagen von Sonny Fortune jedenfalls sehr interessant. Klar, auch das ist nur eine Meinung unter vielen, Fortune bezeichnet sich anderswo im Interview auch als „crazy“ und sagt in anderen Worten und lachend, dass er wohl kompromissloser als manch anderer gewesen sei … dennoch, der Mann war in den Siebzigern einer der allerbesten Saxophonisten, wie man auf einigen Aufnahmen hören kann, die er als Sideman gemacht hat. Aber ist irgendwas von ihm als Leader wirklich bekannt, was auch richtig gut ist, bzw. was seine eigene Auffassung des Jazz widerspiegelt? Fehlanzeige. Aber mehr Handy-Dandy-Männer und Grover Washingtons brauchte die Welt auch nicht … es gibt aus der Zeit natürlich auch faszinierende Entdeckungen zu machen heute, man findet auf Blogs manch ein Album, auf dem ein paar Perlen versteckt sind – aber auch zahllose, auf dem Stimmen zu hören sind, die im Umfeld der Produktion völlig verloren und verschenkt sind … dass einige Jahre später ein Backlash einsetzte, der akustische Jazz im Gefolge des Aufstiegs von Wynton Marsalis sich zurückmeldete, überrascht so gesehen kaum. Bloss verrannte man sich da bald auch wieder in eine Sackgasse – oder das war von Anbeginn eine Sackgasse, was weiss ich … heute ist die Szene ja zum Glück vielseitiger, seit den Neunzigern wird auch an elektrische Spielweisen angeknüpft auf eine Art und Weise, in der die Musik fortgesponnen wird … wobei die stilistische Zersplitterung sich auch auf dem Markt widerspiegelt – es gibt eine unüberschaubare Menge an Labeln und Releases, das Produkt ist in dem Sinne entwertet, als dass es oft nur noch als Visitenkarte dient, als Türöffner, um überhaupt in den Clubs und Säälen auftreten zu können – aber als Einnahmequelle taugt das Album heute in den allermeisten Fällen fast gar nichts mehr.

      --

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