Jazz zwischen Kunst und Kommerz

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  • #9118341  | PERMALINK

    bullschuetz

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    gypsy tail windIch frage mich einfach, ob es bei Motown am Ende nicht vergleichsweise sehr viel stärker um ein „Produkt“ ging als um einzelne Künstler?

    Definitiv. Eine Firma, verschiedene Produktlinien. Rigide Kontrolle und recht straffe Grenzen für individuelle künstlerische Verwirklichungsbedürfnisse. Wer aus diesem Korsett raus wollte, musste ein Rebellenrückgrat haben und einen kommerziellen Appeal, der sich als Machtfaktor nutzen ließ.

    Wie war das bei Alfred Lion? Wie aktiv und konkret wirkte er in künstlerische Entscheidungsprozesse wie Repertoirewahl, Besetzungen etc hinein?

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    #9118343  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

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    gypsy tail windNatürlich! Aber man braucht nicht diese Generalisten-Fähigkeiten auf hohem Niveau, überall und immer … sondern man entwickelt ein Skillset, das der eigenen Musik angemessen sein muss (das geht über technische Fähigkeiten auch hinaus, wie gesagt, ich habe mich auch schon an Konzerten junger Musiker fremdgeschämt, weil einfach nichts aufging – obwohl die Jungs rein technisch vermutlich mehr drauf hatten als jeder Jazzer der Fünfzigerjahre, den wir heute noch verehren).

    :bier:

    Auch wenn’s hier bisher nicht zum Fremdschämen sondern maximal zur gepflegten Langeweile gereicht hat. (Für die man allerdings auch nicht jung sein muss. Leider war das Irene-Schweizer/Jürg-Wickihalder-Konzert vor ein paar Wochen so ein Fall. Nur als Anmerkung, weil ihr Name oben fiel.)

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    #9118345  | PERMALINK

    ferry

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    Beiträge: 2,379

    bullschuetzSchonschon – aber selbst darauf lässt sich nicht unbedingt ein vernichtendes Qualitätsurteil gründen.

    Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle etwas abschweife, mein Jazzwissen ist einfach zu gering – aber ein Seitenblick auf Motown ist in diesem Zusammenhang doch sehr interessant: Die Musiker, die im Studio arbeiteten, verstanden sich teilweise eigentlich eher als Jazzer und spielten nach Feierabend oft in Jazzclubs; was sie tagsüber im Motown-Studio so trieben, nahmen sie künstlerisch oft gar nicht mal sonderlich ernst, es war eher ein berechenbar bezahlter, halbwegs solider musikalischer Brotjob. Und Songwriting, Produktion, Arrangement – das alles richtete sich bei Motown ganz stark nach kommerziellen Überlegungen. Wahwah-Pedal ist grade in und hat schon kommerzielles Potenzial offenbart? Na, dann verpassen wir den Temptations aber mal hurtig ein bisschen Wahwah-Psychedelik … Diese berechnende Haltung ging so weit, dass Singles, die sich als erfolgreich erwiesen hatten, gradenlos, hart an der Grenze zum 1:1-Maßstab plagiiert, nochmal aufgelegt, geringfügig variiert wurden. Seien es Where did our love go und Baby Love von den Supremes, seien es diverse Four-Tops-Nummern, sei es das Groove-Wiederholungs-Bubenstück I want you back/ABC bei den jackson Five – immer wieder wurde da, wenn erst mal eine Erfolgsformel gefunden war, der Schwamm in fast schon ulkiger Weise ausgewrungen. Und erst wenn dann die dritte Single nach demselben Muster in den Charts nicht mehr zündete, bequemte man sich zur Entwicklung einer neuen Blaupause. Man kann zusammengefasst sagen: Motown war ein geradezu schamlos radikalkommerzielles Hitproduktions-Unternehmen.

    Und die Musik ist phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe. Tja.

    Sehr gute Argumente, bullschuetz !
    Man kann bestimmt nicht bestreiten dass aus gut oder sehr gut gemachter handwerklicher Basisarbeit, gepaart mit individueller Klasse der SängerInnen etwas besonderes wird (wie im Fall Motown) Und bei nicht so gut gemachter Arbeit, hört man die kommerziellen Absichten eben schneller raus?
    Im Jazz ist es ja bei den Standards nicht unähnlich, aus der guten handwerklichen Basis kann erst mit individueller Klasse etwas besonderes werden. Wobei ja auch bei den nicht so guten Sachen noch keine kommerziellen Absichten zugrunde liegen müssen. Ich meine aber auch im Jazz schon, dass man z.B. auch bei dem einschmeichelnden Sound gewisser Klaviertrios kommerzielle Absichten raushören kann.
    Es kommt aber auch darauf an, was man künstlerisch aus der Vorlage macht. Im Fall von z.B. Coverversionen gibt es ja auch etliche Beispiele, bei der die Coverversion das Original übertrifft.

    Kann aber vor einem kommerziellen Hintergrund wirklich künstlerisch grossartige Musik gemacht werden?
    Ist es nicht eher das Gesamtkonzept von Motown, das aus sehr guter Unterhaltungs- oder Tanzmusik auch etwas künstlerisches werden lässt?
    EDIT: Das Argument hat ja auch schon gypsy gebracht, lese ich gerade. Muss jetzt erstmal die Postings lesen, die inzwischen neu sind.

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    life is a dream[/SIZE]
    #9118347  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

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    gypsy tail windNatürlich! Aber man braucht nicht diese Generalisten-Fähigkeiten auf hohem Niveau, überall und immer … sondern man entwickelt ein Skillset, das der eigenen Musik angemessen sein muss (das geht über technische Fähigkeiten auch hinaus, wie gesagt, ich habe mich auch schon an Konzerten junger Musiker fremdgeschämt, weil einfach nichts aufging – obwohl die Jungs rein technisch vermutlich mehr drauf hatten als jeder Jazzer der Fünfzigerjahre, den wir heute noch verehren).

    Vollkommen d’accord! Wurde nicht damals schon Thelonious Monk vorgeworfen, er spiele falsch, fehlerhaft, schlecht? Und wäre er nicht längst (zu Recht!) zu einem Jazzgott erhoben worden, könnte man sicher erst recht heute bis ins kleinste Detail sein Spiel niederkritteln; gerade ein so wundervoll verschrobenes Stück wie „In Walked Bud“ wäre vor keiner noch so herablassenden Häme sicher. Und selbst in der klassischen Musik gibt es fundamental gegensätzliche Auffassungen, die in ihrer Schroffheit kaum zu überbieten sind; so wird mir niemand jemals erzählen können, Karajan sei ein besserer Dirigent als Klemperer gewesen, denn letzterer hatte vollkommen Recht, wenn er den Hauptakzent auf die Ausdruckskraft in der Musik legte und nicht auf den perfekten Klang.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #9118349  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    bullschuetzWie war das bei Alfred Lion? Wie aktiv und konkret wirkte er in künstlerische Entscheidungsprozesse wie Repertoirewahl, Besetzungen etc hinein?

    Na ja, wie gesagt, er hatte halt (wie auch andere Produzenten) seine favorisierten Musiker. Sonny Clark am Klavier etwa, Art Taylor sass eher am Schlagzeug als Philly Joe (der war als Junkie zu notorisch unzuverlässig, wurde aber von Riverside regelmässig gebucht … und er war natürlich der explosivere Drummer), später dann Billy Higgins …. McLean, Morgan, Mobley, Fuller sind Musiker, die in diversen Kombination immer wieder auftauchen. Lion gab oftmals früheren Sidemen irgendwann ihre eigene Leader-Session, manchmal blieb es bei einer einzigen (Duke Jordan, Kenny Drew – der hatte zwar schon mal eine 10″-Platte gemacht, Jahre davor). Er hatte seine Exklusivkünstler wie Jimmy Smith, Horace Silver, Art Blakey, Hank Mobley (wobei ich nicht mal sicher bin, ob sie Exklusivverträge hatten). Seine Genialität lag wohl v.a. darin, dass er einerseits sehr offene Ohren hatte, sich auch auf Empfehlungen von Musikern verliess, über gute A&R-Leute wie Ike Quebec und später Duke Pearson verfügte … und v.a. dass er erkannte, dass da was abging in den Fünfzigern und Sechzigern, was es Wert war, dokumentiert zu werden. Er produzierte oft in sehr kurzen Abständen sehr viele Aufnahmen, einfach weil er merkte: diese Musiker muss man jetzt aufnehmen – kommerziell ging das wohl oft erst mit der Zeit auf, denn mehr als zwei LPs pro Jahr konnte man wohl von sehr wenigen Künstlern herausbringen, ohne den Markt hoffnungslos zu übersättigen (daher erschienen auch in den Siebzigern, als Michael Cuscuna nach längeren Bemühungen endlich in die Blue Note-Archive abtauchen durfte, massenhaft zuvor nie veröffentlichtes Material). Wie stark er genau in künstlerischer Hinsicht eingriff, ist wohl schwer zu sagen … aber wenn man Alben vergleicht, die Musiker auf Blue Note oder anderswo gemacht haben, spürt man das schon oft irgendwie … er hatte z.B. einen ausgeprägten Hang zum Blues, in den frühen Jahren (Blue Note wurde ja vor 75 Jahren gegründet, 1939 … Lions Partner Frank/Francis Wolff war soweit ich weiss auf einem der allerletzten Schiffe, die noch vor Kriegsbeginn aus Europa rauskamen) liess er die Musiker oftmals in „älterem“ Stil spielen, als sie das live in den New Yorker Clubs taten: blueslastiger, erdiger, langsamer, einfacher. Dass der Hardbop bei Lion auf offene Ohren stiess, war also nicht weiter überraschend, und mit den Aufnahmen der Messengers aus dem Café Bohemia und den beiden „Horace Silver & The Jazz Messengers“-Alben schuf er quasi auch gleich die ersten reifen Werke dieser Strömung, die dann beim Label bald allein den Ton angeben sollte (noch bis 1957 oder so gab es gelegentlich Aufanhmen „alter“ Jazzer wie Sidney Bechet oder George Lewis). Ich denke, Lion liess den Musikern viele Freiheiten, aber er gab zugleich eine Art Richtung vor, die sein „Produkt“ (inkl. des Sounds von Rudy Van Gelder – der ja auch für Prestige und weitere Label tätig war, aber die Blue Note-Aufnahmen klangen eben anders -, des Designs von Reid Miles, der Photos von Wolff) eben doch in vielen Fällen klar erkennbar machen.

    Aber der Vergleich mit Motown hinkt auf jeden Fall … bzw. er ist vielleicht insofern angemessen, als die Musik auf Blue Note in ähnlichem Masse „freier“ war, als die auf Motown, und die Produzenten halt den jeweils „richtigen“ Approach fanden, ihr Produkt zu einer klaren Marke zu machen, die sich durch eine hohe Wiedererkennbarkeit auszeichnete.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118351  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

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    Hal CrovesVollkommen d’accord! Wurde nicht damals schon Thelonious Monk vorgeworfen, er spiele falsch, fehlerhaft, schlecht? Und wäre er nicht längst (zu Recht!) zu einem Jazzgott erhoben worden, könnte man sicher erst recht heute bis ins kleinste Detail sein Spiel niederkritteln

    Das täuscht. Es gab fast von Anfang an Musiker, die Monk „richtig“ einschätzten. Darunter Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Teddy Wilson und Coleman Hawkins.

    Und wenn ich mich richtig erinnere, hatte er schon in den späten 30ern und frühen 40ern einen Ruf als technisch herausragener Pianist.

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #9118353  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Nicht_vom_ForumAuch wenn’s hier bisher nicht zum Fremdschämen sondern maximal zur gepflegten Langeweile gereicht hat. (Für die man allerdings auch nicht jung sein muss. Leider war das Irene-Schweizer/Jürg-Wickihalder-Konzert vor ein paar Wochen so ein Fall. Nur als Anmerkung, weil ihr Name oben fiel.)

    Davon hielt ich mich bisher fern, kenne Wickihalder gar nicht (und einen anderen regelmässigen Mitmusiker von Schweizer, Omri Ziegele, schätze ich auch nicht sonderlich) … ich ärgere mich zwar über unzähliche verpasste Konzerte von der grossen Dame, aber ich suchte mir halt auch aus, in welchem Rahmen ich sie hören wollte: solo (davon habe ich allerdings dutzende Konzerte verpasst), im Duo mit Pierre Favre, zusammen mit dem Trio 3 … das Where’s Africa Trio (auch mit Ziegele und v.a. Makaya Ntshoko) hätte ich gerne mal gehört, aber auch das habe ich verpasst (und das aktuelle Line-Up – ich glaube auch mit Wickihalder? der taucht auf der ziemlich guten CD, die ich habe, auf ein paar Stücken als Gast auf – ist nicht mehr so reizvoll) .

    ferryMan kann bestimmt nicht bestreiten dass aus gut oder sehr gut gemachter handwerklicher Basisarbeit, gepaart mit individueller Klasse der SängerInnen etwas besonderes wird (wie im Fall Motown) Und bei nicht so gut gemachter Arbeit, hört man die kommerziellen Absichten eben schneller raus?
    Im Jazz ist es ja bei den Standards nicht unähnlich, aus der guten handwerklichen Basis kann erst mit individueller Klasse etwas besonderes werden. Wobei ja auch bei den nicht so guten Sachen noch keine kommerziellen Absichten zugrunde liegen müssen. Ich meine aber auch im Jazz schon, dass man z.B. auch bei dem einschmeichelnden Sound gewisser Klaviertrios kommerzielle Absichten raushören kann.
    Es kommt aber auch darauf an, was man künstlerisch aus der Vorlage macht. Im Fall von z.B. Coverversionen gibt es ja auch etliche Beispiele, bei der die Coverversion das Original übertrifft.

    Ich glaube der Vergleich hinkt irgendwie … denn gerade Standards sind zwar sowas wie eine gemeinsame Sprache im Mainstream-Jazz, aber sie sind eben auch IMMER Cover, es gibt natürlich manche Vorlagen, die sich verfestigt haben (diverse Ahmad Jamal-Arrangements aus den Fünfzigern … Jamal hat auch diverse Standards überhaupt erst etabliert) …. z.B. „Star Eyes“ (damit hat Jamal aber nichts zu tun, da braucht es Bläser) wird seit den 50ern immer gleich gespielt – und ist längst tot (aber nicht alle haben das rechtzeitig gemerkt … und wenn einer es wiederbeleben will, gerne doch, aber MIT EINEM NEUEN ARRANGEMENT!) … oder das klassische „Round Midnight“, das fast immer nach der Columbia-Version von Miles gespielt wird … zudem ist das Fundament im Jazz auch bei Standards viel freier, gerade was die Beats und die Basslinien angeht – man spielt natürlich nach gewissen Regeln (die man auch mal etwas freier interpretieren kann, wenn man es hinkriegt, dass es dennch gut klingt … da gab’s ja kürzlich auch diese Story von Herbie Hancock, der sich erinnerte, wie er mit Miles mal einen völlig falschen Ton spielte und innerlich erstarrte – und wie Miles mühelos etwas anschliessen konnte, das den falscen Ton perfekt auffing und nachträglich „richtig“ machte).

    Hatte Jamal aber von Beginn an ein kommerzielles Interesse? Er hatte ein Interesse daran, die hippsten Arrangements zu kreieren, die nach Tatum oder Garner kamen, er holte sich zwei Musiker (Israel Crosby und Vernell Fournier), von denen er hoffte, dass sie ihm halfen, in die ihm vorschwebende Richtung zu gehen … das ging auf, das Trio hatte unheimlichen Erfolg und war auch musikalische von allererster Güte – Jamal spielte überdies fast nur Standards … und – das ist wohl eins der Rezepte zum Erfolg – bei aller Hipness und Ausgespaartheit seines Spiels: er spielte sie so, dass die Themen erkennbar blieben. Das ist dann auch eine gemeinsame Sprache mit dem Publikum … aber auch die wurde seit dem Bebop unterlaufen – von den Musikern selbst, von den besten der jüngeren Generation, von denen, die wiederum für unzählige andere Musiker zum Vorbild wurden …

    Hal CrovesVollkommen d’accord! Wurde nicht damals schon Thelonious Monk vorgeworfen, er spiele falsch, fehlerhaft, schlecht? Und wäre er nicht längst (zu Recht!) zu einem Jazzgott erhoben worden, könnte man sicher erst recht heute bis ins kleinste Detail sein Spiel niederkritteln; gerade ein so wundervoll verschrobenes Stück wie „In Walked Bud“ wäre vor keiner noch so herablassenden Häme sicher. Und selbst in der klassischen Musik gibt es fundamental gegensätzliche Auffassungen, die in ihrer Schroffheit kaum zu überbieten sind; so wird mir niemand jemals erzählen können, Karajan sei ein besserer Dirigent als Klemperer gewesen, denn letzterer hatte vollkommen Recht, wenn er den Hauptakzent auf die Ausdruckskraft in der Musik legte und nicht auf den perfekten Klang.

    Das mit Monk ist in der Tat eine seltsame Geschichte … ich meine, was der Mann spielt, es mag verschroben klingen, aber verdammt nochmal das ist ganz hohe Kunst, das kann kein mittelprächtiger Pianist, mit Schrulle allein hat das gar nichts zu tun! (Ich bleibe dabei, ich finde Schlippenbach in „Monks Casino“ eher überflüssig – auch weil er es nicht auf die Reihe kriegt, relevant zu sein … da und dort ein guter Einfall reicht nicht, Monk-Covern ist etwas vom Unmöglichsten, woran ein Jazzer sich versuchen kann.)

    Dass viele Hörer (auch Kritiker, Mitmusiker) lange Zeit nicht merkten, auf welchem Niveau Monk operierte, hängt wohl mit vorgefertigten Hörerwartungen und Einstellungen zusammen – die Monk eben allesamt durchbrach. Seine Stücke gehen auch sonst oft über die Konventionen hinaus, „Criss Cross“ etwa, eins der speziellsten, besteht aus Taktgruppen (ich weiss es nicht auswendig, aber im Gegensatz zu den gängigen 8er-, 12er- oder 16er-Gruppen gibt es Sechser und es gibt längere, 10er oder so, oder 16er, es gibt eine Wiederholung, bei der beim zweiten Mal nochmal ein paar Takte angehängt werden, aber eben nur beim zweiten Mal … das sind Wege, die einer aufgestossen hat – und das haben nicht sehr viele gemerkt … klar, Andrew Hill hat auch sowas gemacht, Max Roach … Brubeck machte ähnliches auf rhythmischer Ebene … aber an sich hielten sich die recht starren Formen (32 Takte AABA in 8er-Gruppen, 12-taktiger Blues, manchmal mit Bridge, also AABA, B ist dann 8-taktig, manchmal auch sowas wie ABAB‘ oder ABAC … manchmal auch nur 16 Takte und manchmal AABA mit 16-Takten B-Teil … es läuft immer auf 4er-Gruppen hinaus und das sind Einheiten, die man einfach „spüren“ kann beim spielen, schon bei 6-Takten wird das merklich schwieriger, bei Musik wie jener von Andrew Hill (oder den Stücken auf Dolphys „Out to Lunch“) ist die Schwierigkeit noch viel grösser … es gibt auch Musik, die nur der Schwierigkeit halber schwierig zu sein scheint, ein solches Konzert durfte ich im Sommer in Willlisau erleben, ich hatte es genannt, man findet es im betreffenden Thread … kam mir vor wie eine Circus-Nummer, die eine Stunde lang dauert … und dass neben mir ein leicht angesäuselter bauchiger und bebrillter Herr sass (aber bartlos) und immer wieder „Rudi!“ rief, passte dazu … mach nochmal Purzelbaum Du langer Lulatsch, soooooo lustig! (Der Herr fand’s wirklich lustig und toll. Ich fand ihn wohl – wenigstens was die Situationskomik betrifft – wesentlich lustiger als die Musik.)

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    #9118355  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

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    Nicht_vom_ForumDas täuscht. Es gab fast von Anfang an Musiker, die Monk „richtig“ einschätzten. Darunter Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Teddy Wilson und Coleman Hawkins.

    Und wenn ich mich richtig erinnere, hatte er schon in den späten 30ern und frühen 40ern einen Ruf als technisch herausragener Pianist.

    Ja freilich, aber diese Einschätzung war alles andere als Konsens.

    His compositions and improvisations are full of dissonances and angular melodic twists, and are consistent with Monk’s unorthodox approach to the piano, which combined a highly percussive attack with abrupt, dramatic use of silences and hesitations. This style was not universally appreciated, shown for instance in poet and jazz critic Philip Larkin’s dismissal of Monk as „the elephant on the keyboard“.

    http://en.wikipedia.org/wiki/Thelonious_Monk

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    #9118357  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

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    Hal CrovesJa freilich, aber diese Einschätzung war alles andere als Konsens.

    Was ist schon Konsens? ;-)

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #9118359  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,106

    gypsy tail windAber der Vergleich mit Motown hinkt auf jeden Fall … bzw. er ist vielleicht insofern angemessen, als die Musik auf Blue Note in ähnlichem Masse „freier“ war, als die auf Motown, und die Produzenten halt den jeweils „richtigen“ Approach fanden, ihr Produkt zu einer klaren Marke zu machen, die sich durch eine hohe Wiedererkennbarkeit auszeichnete.

    Und damit wäre Blue Note/Lion ein weiterer Beleg dafür, dass ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung (oder wie immer man das nennen will) der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss, sondern manchmal helfen kann, einen Stil zu definieren, oder die Musiker gar dazu zwingt, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen (wobei ich, um ehrlich zu sein, Hardbop manchmal nur in Maßen ertragen kann, weil mir das dann tatächlich bisweilen etwas formatiert vorkommt, relativ nahe am Klischee).

    Jedenfalls darf man solche über ein Label vorgegebenen Korsett-Strukturen nicht nur als die Kunst lähmend, domestizierend, einschränkend verstehen – auch Blue Note ist ja ein Beispiel dafür, dass innerhalb dieser relativ straffen Struktur eine große Dynamik freigesetzt wird, eine gut geölte Aufnahme-Maschine zu schnurren beginnt, da bekommen plötzlich viele Musiker Gelegenheit, oft und unter professionellen Aufnahme- und Vermarktungsbedingungen ihre Arbeit zu machen; so gesehen ist das ein ausgesprochen kunstfreundliches Umfeld.

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    #9118361  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,710

    Man sollte bei Blue Note mehrere Dinge nicht vergessen. Die Auflagen der Blue Note-Alben war unglaublich klein, 1000 Stück hier, 2000, mal 3000. So viele produziert auch das deutsche This Charming Man Records-Label von seinen Punk, Metal und Indie-Bands. Daher sind die Originale auch so teuer und gesucht.

    Das Gute für Blue Note war, dass sie bis auf den heutigen Tag gefragt sind. Langfristig war das also ein erfolgreiches Geschäftsmodell – aber in den 1940ern war Blue Note ein winziges Label, das ständig vor dem Aus stand. Wenn du Alfred Lion in 1947 gesagt hättest, dass seine Platten in 50 Jahren zu den gesuchtesten überhaupt zählen würden, hätte er vielleicht geantwortet: „Das ist ja schön, aber ich hätte gerne jetzt etwas Geld, um meine Miete zu bezahlen“.

    Der Vergleich mit Motown hinkt also wie gypsy schon zu Recht anmerkte.

    Dass Alfred Löw durchhielt, kann man nur mit einem enormen Maß an Leidenschaft und Idealismus erklären. Er liebte den Jazz – darüber besteht Einigkeit. Als europäischer Jude, der von den Nazis fliehen musste, besaß er Respekt vor den (vornehmlich) afroamerikanischen Musikern und hatte auch gewisse ganz unamerikanische Vorstellungen, beispielsweise dass Zeit für Proben unterstützenswert sind. Daher bot er bessere Bedingungen für Musiker als die anderen unabhängigen Jazzlabels wie Prestige oder die Westcoast-Label.

    Mit anderen Worten: Ja, das Blue Note Beispiel beweist, dass „ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss“. Aber erst Jahrzehnte nach den äußerst mühsamen Anfängen, nach sehr vielen Entbehrungen und nur mit unendlich viel Idealismus und Beharrlichkeit.

    Ein besseres Beispiel wäre vielleicht ECM. Ein Indie-Label, das sich mit einem gigantischen Hit-Album am Markt etablieren konnte und sich dauerhaft behauptete, weil es einen eigenen Stil und eine eigene Ästhetik perfektionierte, der jederzeit wiedererkennbar ist.

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #9118363  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ja, an ECM dachte ich im Zusammenhang dieser Diskussion auch schon!

    Kurzfristig war wohl das Geschaftsmodell von Prestige (schnelle Produktion, keine Proben, eigentlich nicht mal zweite Takes .. Jam Sessions, für die einer der Beteiligten – Mal Waldron, Kenny Burrell – ein paar Originals und/oder rudimentäre Arrangements beisteuerte) erfolgreicher. Auch Bob Weinstock nahm auf Vorrat auf – aber billiger und schneller – und als mancher Musiker weiterzog und vom neuen Label aufwändig beworben wurde, profitierte er im Windschatten kräftig mit … am extremsten wohl bei Miles, aber sein letztes Coltrane-Album erschien glaube ich 1964).

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    #9118365  | PERMALINK

    staggerlee

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    Zunächst mal vielen Dank für den Tip Urs Leimgruber gypsy tail wind (ist bestellt). Du beschreibst ja recht gut, daß die Situation von Jazzmusikern z.B. in den 50ern in Bezug auf Verdienstmöglichkeiten eine ganz andere war, als heutzutage. Insgesamt- als älteres Semester- denke ich ohnehin, daß die Anpassungsleistung die von der jüngeren Generation verlangt wird, eine ganz andere ist als in meiner Jugend. Ich vermute (ist aber eine reine Spekulation), daß die Situation für die (Jazz-) Labels ebenso sich geändert hat- und zwar nicht zum Besseren. Die Beispiele die hier angeführt werden, sind ja nicht gerade aktuell und die Marktsituation sieht (so denke ich zumindest) im Jazzbereich nicht unbedingt rosiger aus, als im Popbereich (die Zeiten, daß eine Band mal einfach so 2- 3 Platten rausbringen konnten, ohne sofort den großen Erfolg einzuspielen oder sich ein Label aus Prestigegründen künstlerisch wertvolle Jazzmusik leisten konnte, sind wohl eher vorbei). Der Hang zum unternehmerischen Risiko wie damals bei Impulse Records scheint mir doch tendentiell eingeschränkt. Gegenbeispiele gibt es sicherlich.

    --

    #9118367  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Na ja, Impulse! war ja ein Boutique-Label, das Creed Taylor sich geschaffen hatte – im Rahmen des äusserst konservativen grossen Labels ABC-Paramount. Dass da viel auf dem Spiel stand, denke ich nicht – man versuchte halt mal, mit ein paar teuren Produktion („Genius + Soul = Jazz“, „Africa/Brass“) und aufsehen erregenden Line-Ups („Africa/Brass“, Jay & Kai Reunion, Oliver Nelsons „Blues and the Abstract Truth“) einen tollen Start hinzulegen … wenn das nicht geklappt hätte, wenn die Alben von Coltrane das Label nicht rasch und nachhaltig etabliert hätte, hätte da wohl einfach irgendein Sesselfurzer wieder den Stecker gezogen …

    Creed Taylor ist aber zum Thema gleich noch ein interessanter Name – der Mann hatte stets einen guten Riecher (Siggi Loch ist auch so einer, von Philips, dem Doldinger Quartett bis zu ACT). Als Granz Verve verkaufte, produzierte er dort (für MGM dann) ein paar der ganz grossen Hits, „Jazz Samba“ vor allem … später gründete er das CTI-Label mit seinem wabernden Soft-Porno-Sound und den roten Sonnen und blau-schwarzen afrikanischen Landschaften auf den Covern … auch da eine ganz klare Handschrift, von den Line-Ups über den Sound der Produktionen bis zum Aussehen und dem haptischen (dicke laminierte Pappe, Foldouts).

    Es gibt sie übrigens schon, die aktuellen Label, die etwas wagen: Clean Feed, No Business, AUM Fidelity … auch ältere wie Hat Hut, Nessa, Okka Disk, es gibt auch noch einzelne Indies, die seit Jahrzehnten aktiv sind, Delmark fällt mir als erstes ein (bisher auch als einziges, zugegeben, aber Nessa und Hat sind auch schon ein paar Jahrzehnte unterwegs). Wie rentabel das ist, ist eine andere Frage, grosse Sprünge macht wohl keiner (ausser vielleicht Eicher – ECM ist ja schon eine einzigartige Erfolgsgeschichte), bei den meisten Labeln dürfte die Liebe zur Musik zentral sein, das Anliegen, diesen Musikern einen Outlet zu bieten, und das halt durchzuziehen, solange man finanziell über die Runden kommt.

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    #9118369  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,361

    bullschuetzMotown – Definitiv. Eine Firma, verschiedene Produktlinien. Rigide Kontrolle und recht straffe Grenzen für individuelle künstlerische Verwirklichungsbedürfnisse. Wer aus diesem Korsett raus wollte, musste ein Rebellenrückgrat haben und einen kommerziellen Appeal, der sich als Machtfaktor nutzen ließ.

    Hier war natürlich noch ein wesentlicher Faktor, daß Berry Gordy wie kein Zweiter vor ihm die Tastur der Medien zugunsten seiner Produktpalette bedienen btw manipulieren konnte. Und vermutlich ist die Tatsache, daß Pop Radiostationen Motown Künstler zu deren Ikonen erhoben, das erste tatsächliche Crossover-Projekt der Musikgeschichte im großen Stil.

    Und Berry beliesz es nicht beim Radio, er (be)nutzte Fernsehen – zB Shows wie „American Bandstand“ oder die „Ed Sullivan Show“ drehte Filme und als dies alles beim Zielpublikum „gesackt“ ist, öffneten sich wie Austern die echten Topadressen wie zB das New Yorker „Copacabana“ oder andere Clubs weltweit für Supremes, Temptations……..

    Dies mehr als historische Nachbetrachtung der Gründe des Erfolgslaufes Produkt Motown, denn das heutige mediale Umfeld ist klarerweise ein komplett anderes…….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
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