Jazz zwischen Kunst und Kommerz

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    hal-croves
    אור

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    gypsy tail windEs ging auch mir – ich betone das gerne für alle Fälle noch mal – nie darum, die kommerziellen Aspekte auszublenden. Ich denke gerade Musiker aus so randständigen Bereichen wie der freien Improvisation (da ist ja „Jazz“ schon grosser Mainstream im Vergleich) wissen, wie hart es ist, allein von der Musik zu leben. Dennoch wollen sie eben keine grauhaarigen Connoisseurs im Publikum, die nach zehn Minuten im Schlummer versinken, den sie in der Nacht nicht mehr finden, sondern Leute, die mit aufrichtigem Interesse kommen und zuhören. Also: Qualitat statt Quantität, was das Publikum betrifft. Das zumal aus der Sicht der Künstler. Natürlich heisst das, dass man dann vielleicht weniger Geld kriegt, aber je nachdem, wo man auftritt und was man dem Publikum vorsetzt, kommen eh nur die Leute, die man auch haben will. Ich finde eine solche Haltung bewundernswert, wenigstens solange man sie sich leisten kann … aber den Urlaub in Brasilien und den Shopping Trip in New York wird man so nicht kriegen. Das sind halt Fragen der Einstellung, die doch letztlich damit, ob man Kunst macht oder sich in einer Firma verdingt (den „bürgerlichen Beruf“ als erfüllend empfinden? sehr komisch!), wenig zu tun haben.

    Diese Einstellung ist vollkommen ehrenwert, und ich stimme Dir völlig darin zu, dass die Möglichkeit, Kunst zu machen, von der Art des Lebensunterhalts grundsätzlich unberührt bleibt. Ein klein wenig irritiert mich lediglich noch das Problem (aber vielleicht ist es ja gar keins?), wie die Abgrenzung zum Musizieren als Hobby gelingen soll – denn davon bin ich ganz grundsätzlich ausgegangen, dass es in dieser Diskussion nicht um Hobbymusiker geht. Nicht dass ich irgendetwas gegen Hobbymusiker hätte, um Gottes willen, aber ausgehend von meinen Überlegungen, die ich in meinem letzten Post über die Inanspruchnahme der Individuen durch die Lohnarbeit angestellt habe, bleibt bei mir ein Rest von Irritation, wenn wir diese Diskussion unter der unausgesprochenen Grundannahme führen, dass die Frage des Lebensunterhalts durch Musik insofern völlig irrelevant sei, als er für die Allermeisten (auch unter denen, die hier Thema sind?) ohnehin nicht realisiert werden könne. Denn dann wäre die Spannung aus dem ganzen Thema der Diskussion im Grunde völlig raus; die Moral von der Geschicht würde dann eben lauten, dass, wer von der Musik nicht leben kann, halt arbeiten gehen muss – Punkt. Aber das kann es doch nicht sein; auch ohne auf eine Figur wie Zahnfleischbluter Murphy rekurrieren zu müssen, sollte doch mehr in der Vorstellung stecken, die wir uns vom Jazzmusiker machen, als dass er zwischen Büro und Abendessen mit der Familie eine kleine Jam einlegt und am Wochenende im Club aufspielt, anstatt zum Angeln zu fahren. Oder sind das nur abstruse Flausen?

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    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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    #9118283  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

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    Die Hobbymusiker-Debatte war in der Schweiz in den Sechzigern ganz gross … Profis wurden misstrauisch betrachtet, weil „das ja nicht möglich ist“. Also „aufrechte“ Musik und zugleich davon leben, das geht nicht. Die wichtigen Jazzfestivals hiessen damals demnach „Amateurjazzfestivals“. Ich weiss nicht, ob es diese Diskussion in Deutschland auch gab, ich glaube zumindest nicht in dem selben Aussmass (und irgendwie dünkt mich, ich hätte dazu schon einmal ein paar Zeilen geschrieben – alledings finde ich auf die Schnelle nichts).

    Und doch, ich glaube schon, dass eine Mehrzahl der Musiker, um die es geht – Jazzmusiker im allerweitesten Sinn, also auch solche, die eher der frei improvisierenden Szene zugerechnet werden oder elektro-akustische Klänge (eai) produzieren – zumeist ohne Brotjobs auskommen bzw. solche Jobs in nicht völlig fremden Gebieten haben: Sie arbeiten in Tonstudios (als Freelancer, als Musiker für Kollegen und Projekte, als Mixer, als Produzenten), im Radio oder so, oder noch wahrscheinlicher: sie geben Unterricht. Keine Ahnung, wie das in Deutschland funktioniert, aber hier gibt es „Jugendmusikschulen“, die nicht mit den Schulen direkt verknüpft sind (aber über Verbände/Gewerkschaften organisiert, wobei hierzulande Gewerkschaften notorisch unbedeutend sind – leider/zum Glück … es gibt Sonnen- und Schattenseiten), Gymnasien bieten Musikunterricht (auch für Schüler, die das nicht aufgrund der Ausrichtung machen müssen – ich hatte z.B. die Wahl zwischen Zeichnen und Musik und belegte ersteres, da ich sowieso wusste, dass ich Musik machen würde, ich weiss nicht mehr, ob das meine Eltern teurer zu kosten kam oder nicht, ich glaube nicht, dass man als Schüler, der Musik belegt, den individuellen Instrumentalunterricht gratis gekriegt hätte, aber ist eine Weile her). Jedenfalls eröffnen sich an diesen Musikschulen (die man sich nicht als Gebäude vorstellen soll) Verdienstmöglichkeiten (wohl auch solche mit wöchentlicher Barbezahlung und natürlich auch solche, die man in privatem Rahmen weiterführen kann).

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118285  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

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    Ach so, die Jazzschulen kommen natürlich auch noch dazu … die bieten auch für „kreative“ Musiker mal die Chance, wenigstens ein Semester lang irgendeinen Kurs zu geben. Heute wird ja auch an Konservatorien – ist ja eh alles amerikanisiert, Module und Multiple Choice und so – „Improvisation“ „gelehrt“ (oder müsste man sagen: geleert? entleert? okay Leute, jetzt sche*sst euch mal alle schön aus, keine Angst, es gibt nichts, was peinlich ist, ja? oh, the horror!).

    Da bildet sich teils gewiss auch wieder eine Komplex heran, gegen den man mit den alten Argumenten der Amateur-Musiker trefflichst argumentieren könnte – bloss wollen die heutigen Musiker mit ihrer Hochschulausbildung in den meisten Fällen eben nicht allzu fachfremde Arbeiten ausführen, um die Butter aufs Brot (oder die Sojamilch in die Tasse) zu kriegen … aber ja, ich tendiere da manchmal zu grosser Skepsis. Ich halte wohl das Ausbilden von Kindern an einem Instrument, die Basics, überhaupt das Übertragen des Virus und damit auch die Grundlegung dafür, dass jemals überhaupt ein ansprechendes Niveau erreicht werden kann (was ja bei vielen, die am Gymnasium Musik als Fach belegen, überhaupt nicht gegeben ist) …. das halte ich für die durchaus ehrenvollere Aufgabe als sowas wie „creative writing“-Kurse für Fortgesetzte (also: „Wie arrangier ich einen Popsong damit er superprofessionell klingt?“ oder sowas … ich bin da wohl hoffnungslos Old School, setzte auf Kreativität, Learning by Doing, durchaus auch auf einen gewissen Grad an Imitation der „Alten“, um etwas zu begreifen und sich davon dann auch emanzipieren zu können … aber mir stellen sich diese Probleme ja nicht, da ich nicht Berufsmusiker bin ;-))

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118287  | PERMALINK

    ferry

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    Hal CrovesSofern das harmonisch funktioniert – in dem Sinne, dass der „bürgerliche Beruf“ als ebenso erfüllend empfunden wird wie das Musikmachen -, ist das natürlich ein verwirklichter Idealzustand. Mir fällt jetzt erst mal kein individuelles Beispiel ein, will damit aber nicht behaupten, dass es keines gebe; Du hast da bestimmt jemanden vor Augen.
    Allerdings kommt mir dieses „Modell“ tatsächlich wie ein sehr idealistisches Ideal vor, und zwar aus mehr als einem Grund. Zunächst ist da die Liebe zur Musik, die in einer, wie Du schreibst, großen Kunst zum Ausdruck kommt; wenn ein Musiker, der das, was er ausdrücken will, auch wirklich ausdrücken kann, einem „bürgerlichen Beruf“ nachgehen muss, der doch in aller Regel durch Entfremdung von den individuellen Bedürfnissen geprägt ist, dann muss nach meinem Dafürhalten doch wie von selbst der Wunsch entstehen, von der Musik leben zu können. Und dann nimmt der Beruf das Individuum doch sehr in Beschlag. Um heutzutage eine Stelle zu behalten, genügt es ja immer seltener, seine Arbeit anständig zu erledigen; vielmehr wird ein ständiges Streben nach Selbstoptimierung im Interesse der Firma verlangt. Die zunehmende Prekarisierung unter den Vorzeichen einer globalen Wirtschaftskrise tut ihr übriges. Unter diesen Bedingungen erscheint mir ein harmonisches Zusammengehen von kompromissloser L’art-pour-l’art-Musik und Lohnarbeit als äußerst schwierig – und äußerst unwahrscheinlich.

    Das Ideal (im Wunschdenken) ist bestimmt der Künstler, der seine grosse Kunst abseits von aller Bürgerlichkeit ausübt.
    Das muss man aber bestimmt noch etwas differenzierter betrachten. Selbst der abseitigste Freejazzer wird sich von der Bürgerlichkeit und dem System nicht komplett abkoppeln können. Er kann da noch soviele Notensysteme kaputtblasen wie er will, im Alltag schert er dann doch wieder in irgendeine Reihe ein.
    Andererseits erscheint es doch durchaus nicht unmöglich, dass man einen bürgerlichen Beruf ausübt und bereit ist, den künstlerischen ‚Preis‘ dafür zu bezahlen. Im Endeffekt geht es doch um das Bewusstsein zu der von Dir angeführten Entfremdung, Systemoptimierung etc.

    Zum Thema Kunst vs. Kommerz: Ich meine schon, dass man unterscheiden kann bzw. sollte zwischen gefälliger, schöner Musik und Musik, die absichtlich als gefällig und schön produziert worden ist um entsprechende Verkaufszahlen und Beifall zu erzielen. Und auch die Massentauglichkeit ist noch kein Kriterium. Wenn man als Beispiel mal „The Sidewinder“ nimmt, ist das kein etwa kein grosser Hardbop? Oder was ist z.B. ist „My Favorite Things“? Kein grosser Jazz ?

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    #9118289  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    ferryDas Ideal (im Wunschdenken) ist bestimmt der Künstler, der seine grosse Kunst abseits von aller Bürgerlichkeit ausübt.
    Das muss man aber bestimmt noch etwas differenzierter betrachten. Selbst der abseitigste Freejazzer wird sich von der Bürgerlichkeit und dem System nicht komplett abkoppeln können. Er kann da noch soviele Notensysteme kaputtblasen wie er will, im Alltag schert er dann doch wieder in irgendeine Reihe ein.
    Andererseits erscheint es doch durchaus nicht unmöglich, dass man einen bürgerlichen Beruf ausübt und bereit ist, den künstlerischen ‚Preis‘ dafür zu bezahlen. Im Endeffekt geht es doch um das Bewusstsein zu der von Dir angeführten Entfremdung, Systemoptimierung etc.

    Den Preis zahlen, in künstlerischer Hinsicht, muss aber doch eher gerade derjenige, der die Musik zum Beruf macht und eben darauf angewiesen ist, damit auch ein gewisses Einkommen zu generieren?

    ferryZum Thema Kunst vs. Kommerz: Ich meine schon, dass man unterscheiden kann bzw. sollte zwischen gefälliger, schöner Musik und Musik, die absichtlich als gefällig und schön produziert worden ist um entsprechende Verkaufszahlen und Beifall zu erzielen. Und auch die Massentauglichkeit ist noch kein Kriterium. Wenn man als Beispiel mal „The Sidewinder“ nimmt, ist das kein etwa kein grosser Hardbop? Oder was ist z.B. ist „My Favorite Things“? Kein grosser Jazz ?

    Das sind eben die Platten, die man vielleicht schon mit einem Auge auf den Markt eingespielt (oder von Produzentenseite kompiliert und bebildert) hat – aber auch die Fälle, die sich nicht planen lassen. Warum wurde Kenny Dorhams „Una Mas“ nicht zum Hit, „The Sidewinder“ aber schon? Keine Ahnung, wie es genau mit Singles-Verkaufszahlen in Sachen Jazz aussah damals, wichtiger war wohl eher Airplay und dass die Dinger dann in den Jukeboxen landeten und auch gespielt wurden … ich weiss auch ehrlich gesagt gar nicht, wie das mit dem Verkaufserfolg eines Albums wie „The Sidewinder“ einzuschätzen ist (Wiki nennt Zahlen) – keine Ahung, wie sich das im Vegleich mit z.B. Miles‘ „Porgy & Bess“ darstellt (Wiki sagt nur, was man weiss: „one of Miles Davis‘ best-selling albums“). Im Vergleich mit „Jazz Samba“ (auch da finde ich auf die Schnelle keine Zahlen) war das wohl alles nicht viel … und manch ein Klassiker (auch „Kind of Blue“) verkaufte sich erst im Verlauf der Jahre richtig gut – man muss da wohl ein altes Klischee bemühen: das ist halt Musik, die über ihre Zeit hinaus haltbar ist … ich denke heute sind 5000 oder 10’000 Stück schon ziemlich viel – es würde mich mal interessieren, wie hoch z.B. die Auflagen bei ECM oder ACT sind.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118291  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

    Beiträge: 6,126

    ferryZum Thema Kunst vs. Kommerz: Ich meine schon, dass man unterscheiden kann bzw. sollte zwischen gefälliger, schöner Musik und Musik, die absichtlich als gefällig und schön produziert worden ist um entsprechende Verkaufszahlen und Beifall zu erzielen. Und auch die Massentauglichkeit ist noch kein Kriterium. Wenn man als Beispiel mal „The Sidewinder“ nimmt, ist das kein etwa kein grosser Hardbop? Oder was ist z.B. ist „My Favorite Things“? Kein grosser Jazz ?

    Wie kann man diese Unterscheidung praktisch treffen? Welchen Gradmesser gibt es, um den bösen, berechnenden, ruhmgeilen Kommerzhansel festzumachen? Und welchen Gewinn hätte man davon?

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    #9118293  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    grünschnabelWie kann man diese Unterscheidung praktisch treffen? Welchen Gradmesser gibt es, um den bösen, berechnenden, ruhmgeilen Kommerzhansel festzumachen? Und welchen Gewinn hätte man davon?

    Es geht ja gar nicht ob böse und berechnend und ruhmgeil … eher um die Frage von gewissen Zugeständnissen, etwa all die grässlichen Sänger auf so vielen Produktionen aus den späten 20ern und frühen 30ern. Man denke nur an all die tollen Soli von Bunny Berigan … um zu ihnen vorzudringen, muss man oft üble Sauce über sich ergehen lassen – und es sage mir keiner, dass die Musiker das damals nicht schon so empfanden! aber anders waren die Platten vermutlich nicht an den Mann zu bringen … auf dem „race records“-Markt sah das anders aus … dennoch, die Behauptung, dass Bix Beiderbecke als Mitglied der Whiteman Band unglücklich sein *musste*, würde ich nicht so stehen lassen wollen – bei der Beurteilung kommt es immer auf den einzelnen Fall an, mit pauschalen Herngehensweisen ist selten jemandem gedient.

    Oder: Charlie Parker with Strings … Ausverkauf? Naiver Traum eines „edlen Wilden“, Stravinsky zu spielen? Beides ist natürlich völliger Blödsinn, Parker war kein „Wilder“ (und edel war er vermutlich zuletzt), aber an „ernste“ Musik reichen die Arrangements dennoch nicht ran … aber Kommerz? Eher ein Künstler, der das macht, was er tun wollte.

    Andererseits, der späte Frank Trumbauer … eine so tolle, frische Stimme, die sich (in der eigenen Band – wie gross der Einfluss des Erfolgsdrucks dabei war, oder wie zentral der Abgang seines musikalischen Partners, kann ich nicht wirklich einschätzen) quasi zur Zirkusnummer degradiert, lüpfig leichte Musik macht … und da und dort scheint dann der alte Genius doch wieder auf? Tragisch?

    Miles in den 80ern …. Pop-Miles? Aber klar doch! Und ist daran etwas auszusetzen? Solange das Alben wie „Star People“ oder „Tutu“ oder „Amandla“ erlaubt (und nebenher noch „Aura“ und phantastische Live-Konzerte) – überhaupt nicht! Irgendwo las ich kürzlich, jemand hätte Miles mal empfohlen, Ronald Shannon Jackson zu holen oder wenigstens anzuhören … Miles‘ Urteil über die Free-Funker im Gefolge Ornettes war jedoch soweit ich weiss ein gnadenloses – dennoch, man überlege sich das einfach mal!

    Louis Armstrong und die All Stars (ca. 1947-67 oder so): Ausverkauf, Anbiederung? Ein Onkel Tom? Oder einfach ein grossartiger Musiker und Entertainer (und der alleinige Begründer des Jazzgesangs obendrein, von wegen Onkel Tom!), der weiterspielt, bis zum Umfallen, und jeden Abend erneut alles gibt, was er gerade zu geben hat? Respekt!

    Anthony Braxton und die Standards … Anthony Braxton, der seine Seele ans Uni-System vertickt, um im gesetzeren Alter den nutty professor spielen zu können und eine sichere Rente hat? Mag sein dass das ganze „ghost trance“ Ding ein Vernebelungsplan ist für mangelnde Kreativität oder um das Publikum auf irgendeine Fährte zu locken … aber wenn schon ein Rattenfänger, dann ist Braxton sicher nicht die schlechteste Wahl. Zudem ist der Mann (wie ich letzten Sommer in Willisau erleben durfte) durchaus noch am Leben und in der Lage, phantastische, abenteuerliche, offene Musik zu spielen (man höre sich statt der ganzen Standards- oder Ghost-Trance-Geschichten z.B. einfach die beiden Duo-Alben auf Intakt mit Andrew Cyrille an – noch Fragen?)

    Das nur mal so ein paar spontane Beispiele … wie so oft fällt das Beruteilen der Gegenwart schwerer, aber einen Versuch ist es sicher wert. Und letztlich hört man doch oft mit eigenen Ohren (eher im Konzert denn auf CD, finde ich – jedenfalls interessiert mich das bei Zeitgenössischem oft mehr) ob jemand auf „play it safe“-Modus ist oder ohne Sicherheitsnetz und doppelten Boden zur Sache geht. Und wenn einer letzeres macht und dennoch Erfolg hat – dann treten natürlich oft auch Skeptiker auf den Plan … aber wie gesagt, einfach Ohren auf und selbst ein Urteil wagen (den Streit darum, dass man nicht ohne Urteil auskommt, möchte ich aber nicht wiederbeleben, bitte).

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    #9118295  | PERMALINK

    ferry

    Registriert seit: 31.10.2010

    Beiträge: 2,379

    grünschnabelWie kann man diese Unterscheidung praktisch treffen? Welchen Gradmesser gibt es, um den bösen, berechnenden, ruhmgeilen Kommerzhansel festzumachen? Und welchen Gewinn hätte man davon?

    Da kann es wohl keinen Gradmesser geben, ausser den subjektiven Empfindungen. Manchmal hört man es aber schon, dass Musik nach einer gewissen ‚Erfolgsformel‘ gestrickt worden ist. Weniger im Jazz, aber schon oft bei kommerzieller Popmusik und am deutlichsten wohl in der Schlagermusik. Da kann man für mein Empfinden die Anbiederung am deutlichsten hören. Nimm das als Geschmacksprobe ! ;-)

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    #9118297  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    Man kann auch Glenn Miller mit Count Basie vergleichen … tanzen kann man (ich nicht, wohlgemerkt) zu beidem … auch bei Miller gibt es da und dort ein feines Solo und die Musiker sind gut, aber der Unterschied ist doch klar spürbar?

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    #9118299  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

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    kurz: ja, das deutsche System ist auch eher so, dass die (Jazz)-Musiker schon von Musik leben, was allerdings Musikunterricht, Studiosachen, Musicals, kommerzielle Gigs… einschliesst – und ich hab schon mit Musikern gesprochen, die meinten, an sich wäre Ihnen ein außermusikalischer Brotjob lieber, als musikalische Jobs, die ihnen auf die Nerven gehen und mit ihnen als Musikern letztlich gar nichts zu tun haben… in Amerika ist es von meiner beschränkten Erfahrung her anders, da ist es vergleichsweise gängig, dass auch Musiker, die in Profikreisen einigermaßen etabliert sind, von außermusikalischen Jobs leben… was die Amateurdebatte betrifft: die gab es in irgendeiner Form auf jeden Fall auch in Deutschland, kann mich jedenfalls noch an die Meldung in einem alten (50er) Jazz Podium Heft erinnern, dass Klaus Doldinger demnächst ins Profi-Lager wechselt…

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    #9118301  | PERMALINK

    ferry

    Registriert seit: 31.10.2010

    Beiträge: 2,379

    gypsy tail windDen Preis zahlen, in künstlerischer Hinsicht, muss aber doch eher gerade derjenige, der die Musik zum Beruf macht und eben darauf angewiesen ist, damit auch ein gewisses Einkommen zu generieren?

    Derjenige, der die Kunst zum Beruf und keine Kompromisse macht, zahlt ja noch keinen künstlerischen Preis. Der künstlerische Preis wird doch erst bezahlt, wenn man mehr oder weniger auf den Broterwerb achten muss.
    Und der Künstler, der sich für einen bürgerlichen Beruf entscheidet, zahlt dann eben noch einen höheren (zu hohen?) Preis.

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    #9118303  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    Ach so, ich verstand das jetzt so, dass wir eh vom Brotlosen ausgehen und derjenige, der eben Berufsmusiker wird sich – wie redbeans grad beschreibt – für Kindermusical-Aufführungen an Privatschulden verdingen muss und so … ich denke jedenfalls nicht, dass sich das überhaupt aufrechnen lässt, denn der eine geht halt irgendwo was klimpern, der andere Briefe austragen – der eine nimmt hierbei Schaden, der andere dort … da geht es ja letzlich um Lebensentwürfe bzw. darum, wie weit diese sich überhaupt fügen oder planen und beeinflussen lassen.

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    #9118305  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

    Beiträge: 6,126

    gypsy tail windbei der Beurteilung kommt es immer auf den einzelnen Fall an, mit pauschalen Herngehensweisen ist selten jemandem gedient. (…) aber wie gesagt, einfach Ohren auf und selbst ein Urteil wagen (den Streit darum, dass man nicht ohne Urteil auskommt, möchte ich aber nicht wiederbeleben, bitte).

    Darin finde ich mich wieder. Bei 1000 Künstlern wird es wohl 1000 individuelle Entwürfe geben, wie man sich im Spannungsfeld von Kommerz, öff. Anerkennung, Kunstanspruch usw. platziert, welchen Weg man geht. Und jeder Künstler wird da auch im Laufe der Zeit gewisse Sachen verändern, Neues ausprobieren…

    Es gibt den leichtfüßig Konsumierbarkeit und Kunstanspruch vereinenden Künstler wohl ebenso wie den weltabgewandten, der (fast) ausschließlich in innermusikalischen Auseinandersetzungen verbleibt. Vielleicht ebenso erfolgreich auf anderer Ebene. Es gibt 1000 Facetten und keine fest angelegten Wege. Und ich bin auch überzeugt davon, dass selbst Künstler sich da nicht immer richtig einschätzen. Die sind viel zu stark mit Suchen beschäftigt.

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    #9118307  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,106

    ferryManchmal hört man es aber schon, dass Musik nach einer gewissen ‚Erfolgsformel‘ gestrickt worden ist. Weniger im Jazz, aber schon oft bei kommerzieller Popmusik und am deutlichsten wohl in der Schlagermusik. Da kann man für mein Empfinden die Anbiederung am deutlichsten hören.

    Schonschon – aber selbst darauf lässt sich nicht unbedingt ein vernichtendes Qualitätsurteil gründen.

    Entschuldigung, wenn ich an dieser Stelle etwas abschweife, mein Jazzwissen ist einfach zu gering – aber ein Seitenblick auf Motown ist in diesem Zusammenhang doch sehr interessant: Die Musiker, die im Studio arbeiteten, verstanden sich teilweise eigentlich eher als Jazzer und spielten nach Feierabend oft in Jazzclubs; was sie tagsüber im Motown-Studio so trieben, nahmen sie künstlerisch oft gar nicht mal sonderlich ernst, es war eher ein berechenbar bezahlter, halbwegs solider musikalischer Brotjob. Und Songwriting, Produktion, Arrangement – das alles richtete sich bei Motown ganz stark nach kommerziellen Überlegungen. Wahwah-Pedal ist grade in und hat schon kommerzielles Potenzial offenbart? Na, dann verpassen wir den Temptations aber mal hurtig ein bisschen Wahwah-Psychedelik … Diese berechnende Haltung ging so weit, dass Singles, die sich als erfolgreich erwiesen hatten, gradenlos, hart an der Grenze zum 1:1-Maßstab plagiiert, nochmal aufgelegt, geringfügig variiert wurden. Seien es Where did our love go und Baby Love von den Supremes, seien es diverse Four-Tops-Nummern, sei es das Groove-Wiederholungs-Bubenstück I want you back/ABC bei den jackson Five – immer wieder wurde da, wenn erst mal eine Erfolgsformel gefunden war, der Schwamm in fast schon ulkiger Weise ausgewrungen. Und erst wenn dann die dritte Single nach demselben Muster in den Charts nicht mehr zündete, bequemte man sich zur Entwicklung einer neuen Blaupause. Man kann zusammengefasst sagen: Motown war ein geradezu schamlos radikalkommerzielles Hitproduktions-Unternehmen.

    Und die Musik ist phantastisch, innovativ, abenteuerlustig, maßstabsetzend, Weltkulturerbe. Tja.

    --

    #9118309  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,855

    gypsy tail windAch so, die Jazzschulen kommen natürlich auch noch dazu … die bieten auch für „kreative“ Musiker mal die Chance, wenigstens ein Semester lang irgendeinen Kurs zu geben. Heute wird ja auch an Konservatorien – ist ja eh alles amerikanisiert, Module und Multiple Choice und so – „Improvisation“ „gelehrt“ (oder müsste man sagen: geleert? entleert? okay Leute, jetzt sche*sst euch mal alle schön aus, keine Angst, es gibt nichts, was peinlich ist, ja? oh, the horror!).

    Da bildet sich teils gewiss auch wieder eine Komplex heran, gegen den man mit den alten Argumenten der Amateur-Musiker trefflichst argumentieren könnte – bloss wollen die heutigen Musiker mit ihrer Hochschulausbildung in den meisten Fällen eben nicht allzu fachfremde Arbeiten ausführen, um die Butter aufs Brot (oder die Sojamilch in die Tasse) zu kriegen … aber ja, ich tendiere da manchmal zu grosser Skepsis.

    Gab’s da mal ein traumatisches Erlebnis? ;-) Ich kann zwar nur vom Kölner Umfeld reden, aber da hat m. E. der „akademische Jazz“ einige sehr gute Musiker hervorgebracht (oder zumindest nicht zerstört). Spontan fallen mir Frank Gratkowski, Hayden Chisholm, Pablo Held, Robert Landfermann, Angelika Niescier, Jonas Burgwinkel oder Sebastian Gramss ein.

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
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