Marianne Faithfull

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  • #87993  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,877

    Kein Thread über Marianne Faithfull hier im Forum? Jetzt schon!

    Mir ist auf dem Flohmarkt vor einer Weile ihr Album BROKEN ENGLISH in die Hände gefallen. Satte € 2,00 habe ich für die LP ausgegeben. Außer BROKEN ENGLISH habe ich keine einzige Aufnahme von Marianne Faithfull auf Tonträger. Und auch sonst weiß ich eigentlich nicht besonders viel über sie. Optimale Voraussetzungen also, um einen Thread über diese Sängerin zu starten. ;-) Korrekturen und Anregungen sind nicht nur deswegen willkommen.

    Marianne Faithfull hat bzw. hatte zwei Karrieren: eine als singende Swinging Sixties Ikone mit einer befristeten Stellung als Geliebte von Mick Jagger, und eine zweite als Überlebende genau jener Periode und jetzige elder stateswoman der Popmusik, komplett mit Brecht/Weill-Interpretationen und Auftritten als Schauspielerin. Zwischen diesen beiden Karrieren lag in den 70er Jahren ein Absturz in Drogenabhängigkeit und Krankheit und ein Leben auf der Straße. Die Gosse.

    Die Platte, die Marianne Faithfull ihre zweite Karriere ermöglichte und vermutlich auch ihr Leben rettete, ist BROKEN ENGLISH. Ende der 70er aufgenommen markiert sie den Wendepunkt. Fangen wir also einfach mal in der Mitte an.

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    Marianne Faithfull – BROKEN ENGLISH (1979)

    Bereits 1977 hatte MF – nach 10 jähriger Veröffentlichungspause – ein Album mit Country- und Popsongs – DREAMIN‘ MY DREAMS – aufgenommen. Hier war zum ersten mal ihre gegenüber der mädchenhaften Stimme aus den 60er Jahren drogen- und krankheitsbedingt völlig veränderte, deutlich tiefere und gebrochene Stimme zu hören. Auf DREAMIN‘ hat man diese Stimme jedoch produktionstechnisch zu glätten versucht und auch die Songauswahl, die Arrangements und das weichgezeichnete Cover wirken brav, harm- und belanglos. Aber immerhin war das Album kommerziell erfolgreich genug um Marianne Faithfull Selbstvertrauen zu geben, weiterzumachen.

    Diese Chance nutze MF zu einem radikalen Neuanfang. Sie war über ihren damaligen boyfriend Ben Brierly von der Punk Band The Vibrators mit der damals aktuellen musikalischen Szene in Berührung gekommen. Ende der 70er sind das im UK Punk und dessen Ausläufer: Elvis Costello, The Jam, The Police, The Clash, Ska Revival und beginnender Elektropop geben den Ton an und es ist der Zorn und die Energie dieser Musik, die für BE Pate stehen.

    Mit dem Gitarristen Barry Reynolds stellte sie eine Band zusammen, die Material für ein neues Album erarbeitet. Hier ist nichts mehr zu hören, was auch nur versucht an das Bild des singenden Mädchens aus den 60ern anzuknüpfen. Zwar gibt es auf BE den einen oder anderen Blick zurück, aber hier ist er nicht nostalgisch sondern enttäuscht, bitter und zornig. Chris Blackwell von ISLAND RECORDS erkennt das Potential und so bekommt Marianne Faithfull die Chance für einen musikalischen Neustart.

    BROKEN ENGLISH ist eine Mischung aus Originalen und Cover-Versionen. Einige Songs sind MF auf den Leib geschrieben, die Covers sind perfekt ausgewählt und passen genau in die desillusionierte Stimmung des Albums. Das in monotonem Rhythmus marschierende Titelstück ist angeregt von der politisch motivierten Gewalt Ende die 70er, die u.a. die Schlagzeilen in Deutschland beherrschte, wo die RAF bombte und um sich schoss. Deren naiven politischen Idealismus und die daraus abgeleitete Legitimation von Gewalt weist MF entschieden von sich. „Loose your father, your husband / Your mother, your children / What are you dying for? / It’s not my reality“ MFs Aufnahmen der Hausfrauen-Tragödie THE BALLAD OF LUCY JORDAN (erinnert sich irgendjemand an das Original von Dr. Hook?) und John Lennons WORKING CLASS HERO sind near definite Interpretationen dieser Stücke. Auf dem Reggae/New Wave-Stück WHY’D YA DO IT? überschüttet eine Frau ihren fremdgegangenen Liebhaber mit einer wüsten Schimpftirade, in der es nur so von four-letter-words wimmelt. Dies hier ist kein süßes Mädchen mehr, diese Frau hat die Schnauze gestrichen voll von Männern mit großen Egos und will sich nichts mehr gefallen lassen. Vielleicht ist dieses Stück der defining moment von BE. Musikalisch erinnert das Stück an das, was Grace Jones wenig später auf WARM LEATHERETTE und NIGHTCLUBBING machen sollte, wenngleich der Einfluss von black music hier nicht ganz so ausgeprägt ist. Es ist aber sicher kein Zufall, dass diese beiden Alben auch auf ISLAND unter der Regie von Chris Blackwell erschienen. Andere Stücke handeln von Marianne Faithfulls katholischer Erziehung (GUILT), parasitären Liebhabern (BRAIN DRAIN) und anderen downturnern

    Unterkühlt, kantig, mit understated groovenden bass & drums, Akkorden auf der E-Gitarre wie kleine Stromstöße, blubbernden Synthesizern, die ausgerechnet Steve Winwood overdubbed hat, hat das Album einen zeittypischen Klang, der – obwohl er offensichtlich ausgedacht und konstruiert ist – hier absolut authentisch klingt, gut in die wenig heitere Stimmung im UK der späten 70er passt aber auch gut gealtert ist. Die ideale Plattform für MFs gebrochene, krächzende Stimme, die auch schon mal als vulgär bezeichnet wurde, aber für diese Songs genau den richtigen Ton trifft: Das ehemalige Sixties Pop-Sternchen MF, die so-gerade-noch Drogen-Überlebende, ein gefallener Engel, erfindet sich Ende der 70er neu als verbitterte aber auch trotzige, selbstbewusste und reife Frau im coolen New Wave-Style, die ihre vermurkste Vergangenheit, die erlittenen Enttäuschungen und Verletzungen in ihrer Musik reflektiert und deren verlebte Stimme das glaubwürdig klingen lässt. Das grandiose Cover mit dem blau unterlegten Foto der Frau, die ihre Augen vor dem Licht und der Kamera verbirgt, gibt dazu das perfekte Bild ab.

    Im Jahr 2012 (Warum 2012, also 33 Jahre nach der Erstveröffentlichung? Verstehe das, wer will …) gab es ein Re-Issue von BE als Doppel-CD. Diese Ausgabe enthält neben dem Original-Album auch noch den ursprünglichen Mix ohne Steve Winwoods overdubs, ein paar 7“- und 12“-Mixe und eine (unspektakuläre) 1979er Aufnahme von SISTER MORPHINE sowie lesenswerte liner notes und ein paar Fotos. Außerdem einen 12-minütigen Kurzfilm von Derek Jarman, der zur Musik von drei Songs von BE produziert wurde. Gegenüber dem Originalalbum nicht unbedingt zwingend, aber eine nette Sache. Empfehlenswert!

    Eine Menge Text, ich weiß. Aber BROKEN ENGLISH gibt als Dreh- und Angelpunkt in der Karriere von Marianne Faithfull auch sehr viel her.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
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    #8909767  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,937

    Im Jones-Thread aufmerksam gemacht worden: schöner Text, Friedrich! Und ja, die Platte liegt sogar hier in der Provinz bei den Second-Hand-Händlern herum, ein Grund mehr, sich die Platte zuzulegen.

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    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #8909769  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,877

    lathoIm Jones-Thread aufmerksam gemacht worden: schöner Text, Friedrich! Und ja, die Platte liegt sogar hier in der Provinz bei den Second-Hand-Händlern herum, ein Grund mehr, sich die Platte zuzulegen.

    Thx! Ich hatte schon befürchtet, ich bin zu geschwätzig gewesen.

    Broken English ist aber in jedem Fall eine gute Platte. Weiß auch nicht, wieso die so ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Vielleicht, weil sie in MFs Oeuvre so eine Ausnahmeposition einnimmt? Die Karriere von MF sah vor BE ganz anders aus und sie sah nach BE ganz anders aus.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #8909771  | PERMALINK

    stormy-monday
    We Shall Overcome

    Registriert seit: 26.12.2007

    Beiträge: 20,063

    Guter Text, Friedrich. Erst durch latho drauf gestossen.

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    Well, my telephone rang, it would not stop It's President Biden callin' me up He said, "My friend, Maik, what do we need to make the country grow?" I said, "My friend, Joe, my friend Bob would advice you , Brigitte Bardot, Anita Ekberg, Sophia Loren" Country'll grow
    #8909773  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,877

    Stormy MondayGuter Text, Friedrich. Erst durch latho drauf gestossen.

    Nochmals danke!

    Ich kenne außer Broken English nur noch ein weiteres Album von Marianne Faithful: Strange Weather von 1987. Musikalisch ganz anders als BE. Eher Richtung American Songbook, Blues, Traditionals. Eine Komposition von Tom Waits, eine von Bob Dylan, eine von Dr. John. Bill Frisell spielt Gitarre, Dr. John hier und dort Klavier. Die Stimmungslage auf SW ist aber eigentlich ganz ähnlich wie auf BE: Der Titel Boulevard Of Broken Dreams fasst das sehr gut zusammen.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #8909775  | PERMALINK

    mick67

    Registriert seit: 15.10.2003

    Beiträge: 76,902

    Friedrich, hast Du inzwischen ihre Autobiographie gelesen?

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    #8909777  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,877

    Mick67Friedrich, hast Du inzwischen ihre Autobiographie gelesen?

    Nope, ich bin ja generell ziemlich lesefaul. Dürfte aber sehr interessant sein, denn in Marianne Faithfulls Leben gab es ja reichlich und Hin-und-Her und Auf-und-Ab.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #8909779  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Man sollte beide Bücher von ihr gelesen haben, Faithfull und Memories. Sie ergänzen sich gut. Ersteres ist chronologisch, das zweite mehr reflektiv, ein wenig nostalgisch. Jagger kommt übrigens erstaunlich gut weg!

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    #8909781  | PERMALINK

    onkelllou
    Vom Forum ernannter Troll und Stones Hasser

    Registriert seit: 19.04.2007

    Beiträge: 2,307

    Heute um 23:15 im SWR Fernsehen.
    Irina Palm Spielfilm Belgien/Frankreich/Deutschland 2007
    http://www.swrfernsehen.de/irina-palm/-/id=5791128/did=15261650/nid=5791128/sdpgid=1077575/1px9y34/index.html

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    Exile on Main Street wird vollkommen überbewertet
    #10416409  | PERMALINK

    onkelllou
    Vom Forum ernannter Troll und Stones Hasser

    Registriert seit: 19.04.2007

    Beiträge: 2,307

    Morgen auf ARTE
    22:00
    Marianne Faithfull – Der raue Glanz der Seele
    https://www.arte.tv/de/videos/067097-000-A/marianne-faithfull-der-raue-glanz-der-seele/

    23:05
    Marianne Faithfull – Live in Hollywood 2005
    https://www.arte.tv/de/videos/067826-000-A/marianne-faithfull-live-in-hollywood-2005/

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    Exile on Main Street wird vollkommen überbewertet
    #11670441  | PERMALINK

    august-ramone
    Ich habe fertig!

    Registriert seit: 19.08.2005

    Beiträge: 62,200

    Happy Birthday Marianne zum 75. Geburtstag.

    Hier eine Kurzzusammenfassung ihres bisherigen Lebens von „As Tears Go By“ bis Corona auf der Intensivstation.

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    http://www.radiostonefm.de/ Wenn es um Menschenleben geht, ist es zweitrangig, dass der Dax einbricht und das Bruttoinlandsprodukt schrumpft.
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