Retromania | ist Pop tot?

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  • #8682839  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,855

    tolomoquinkolomRetroxy!?

    Ich mag nach der Sampling-Geschichte nicht wieder einen Exkurs starten, daher nur so viel: für mich sind die Alben ROXY MUSIC und FOR YOUR PLEASURE nicht retro, denn beide Werke enthalten neben zwitschernder Elektronik, Elvis-Schmalz und Pop-Glitter auch Ironie. Letztere sehe ich in dem, was du im Bezug auf das glamouröse Cover Karl Stoeckers Karikatur nennst, eine Hommage des ex-Kunststudenten Bryan Ferry an Gil Elvgren bzw. an Mel Ramos ist und als Kunstaneignung Pin-ups in andere Medien transformiert. Genau diese ironische – mitunter lakonische – Brechung stellt jenen bereits vorher erwähnten kreativen Eigenanteil von Künstlern dar, der (in diesem Fall) sogar so weit reicht, dass er innovativ auf andere wirkt (New Wave, Ambient).

    Das Innencover des Albums FOR YOUR PLEASURE weist deutlich auf die personelle Aufgabenverteilung hin: während die eine Hälfte in ihren Monturen wie Kraftwerksarbeiter wirken (Manzanera und Thompson), sieht man die andere als Diva (Eno), Raumschiffbesatzung (Manzanera) und Elvis (Ferry) – übrigens alle mit Gitarren bewaffnet. Dazwischengekommen ist den beiden Arbeitersöhnen Ferry und Eno dann allerdings ihr Ego. Interesse an Zukunft, die Experimentierlust (Synthesizer, Samples, Tapes) und musikalische Vorwärtsbewegung (Ambient, Minimal) des einen passte nicht länger zum Interesse an Vergangenheit, zur Erfolgs- bzw. Besitzstandswahrung, dem Hang zu Ästhetizismen und dem musikalischen Rückwärtsdrang (Crooner, Fashion, Coverversionen) des anderen.

    Sehr schön formuliert, tolo,

    und dem möchte ich auch nicht widersprechen. Eher möchte ich ergänzen oder bestätigen, dass die auch von Dir hier diagnostizierte Rückbezüglichkeit Roxy Musics – sowohl was die Musik, das styling der Band, als auch das Cover Design betrifft – natürlich eine kreative Leistung ist. Ich möchte mich nicht auf den Begriff „retro“ versteifen und schon gar nicht eine pauschale Wertung dieses Begriffes vornehmen. Ich bin ja vielmehr der Auffassung, dass die bewusste und geistreiche Rückbezüglichkeit auch im Pop diesen nur bereichert. Ich das bei Roxy Music sogar in besonders schöner Weise verwirklicht.

    Im Jahr 1972 sah sich Pop mit den Augen von Bryan Ferry und Eno selbst im Spiegel und erkannte, dass er eine grotesk schillernde Schönheit ist. Glanz und Elend, Aufstieg und Dekadenz, Rausch und Kater, das alles lag nahe beieinander. Musik von und für narzisstische Großstadthedonisten – Kunstlied 2.0.

    Ich empfinde den vermeintlichen Bruch zwischen den ersten beiden Alben und den späteren übrigens gar nicht als so stark. Das hört sich für mich eher wie ein Reifeprozess an und gerade die letzten beiden Alben FLESH & BLOOD und AVALON schätze ich in ihrer urbanen Eleganz sehr.

    „Here´s looking at you kid
    Hard to forget
    Here´s looking at you kid
    At least not yet
    Your memory stays
    It lingers ever
    Will fade away never“

    (2HB – was ausbuchstabiert TO HUMPHREY BOGART heißt – Roxy Music, 1972)

    Nachgereicht zwei in ihrer Widersprüchlichkeit sehr amüsante Zitate aus dem Roxy Music Thread:

    KritikersLieblingRoxy Music haben mit dem Cover von „Jealous Guy“ eine wunderschöne Ballade. Ansonsten halte ich sie für eine Ästheten-Designer-Band für Aktionäre und Bankangestellte. „Money For Nothing“

    otisdas ist jetzt mal gut, kl. ich kann mich noch exakt erinnern als die erste roxy (und ich rede nur von der ersten!!!!) rauskam. es war für mich eine offenbarung. im nachhinein würde ich sagen glampunk. sie hatte power bis zum geht nicht mehr (virginia plain), ein tolle emotionsarme kälte, die als solche gemeint war, und echte könner. es war abolut kein l’art pour l’art. es war eine absage an die klassische rockmusik mit ihrer mittlerweile klischeehaft gewordenen emotionalität. es war ein spiel mit zitaten, ein spiel mit den großen gefühlen, ein spiel mit den großen auftritten. es war vielleicht die erste post-moderne rockplatte (wenn man sich mal auf diesen begriff einlassen möchte!)(…)

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
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      #8682841  | PERMALINK

      tolomoquinkolom

      Registriert seit: 07.08.2008

      Beiträge: 8,651

      AlbertoDie Nullerjahre werden allgemein als Phase des Stillstands charakterisiert. Entsprechend ist die Musik. Aber wie geht es jetzt weiter? Bleibt der Stillstand? Macht doch noch mal einer was Innovatives?

      Ich fürchte, falls sich Jubiläumsabzocke, Reenactments, Memory-boom und andere Dysfunktionen wie Mashups, Clouding und iPoding fortsetzen, dürften aufgrund allgemeinem Desinteresses die Chancen auf Innovationen weiter sinken und die musikalischen Grabkammern der Popmusik und die der ‘Rock and Roll Hall of Fame and Mausoleum’ werden künftig mit Amateuren, Imitatoren, Kuratoren, Second-Hand- und Fast-Food-Künstlern aufgefüllt. Laut Reynolds haben Retromanie und iPod-Sucht die Gemeinsamkeit, dass beides soziale Rückzüge aus dem Alltag sind. Für Überraschungen oder gar Innovatives ist da gar kein Platz.

      Die Musikindustrie, die diese lukrative Retrowelle erfolgreich steuert und den Käufern signalisiert, was sie zu mögen haben, wird kaum Interesse an musikalischen Innovationen mit ungewissen finanziellen Erfolgsaussichten zeigen. Auch keine Hilfe sind Musikmagazine, die aus Mangel an Alternativen der in die Jahre gekommenen nostalgieseeligen The-best-years-of-our-live-Fraktion hinterherschreiben und -rezensieren, weil ihnen die musikhörenden Kids davonliefen, die sich partout nicht von vierzigjährigen Redakteuren erzählen lassen wollten, was gerade musikalisch der angesagte heiße Scheiß sei. Was bleibt, ist dann halt Stagnation, redaktionsgestützte Retromanie und journalistisches Promoten von Alte-Säcke-Musik. Diese ist immerhin ein recht einträgliches Geschäft und die Sache mit arbeitsplatzerhaltenden Anzeigenschaltungen der Musikindustrie nutzt schließlich auch dem Überleben der Magazine.

      Ganz nebenbei erklärt sich auch, weshalb 2012 Dinosaurier wie Bruce Springsteen, Bob Dylan, Neil Young, Jimmy Cliff, Leonard Cohen, Dr. John, Bonnie Raitt, Donald Fagen u.a. bestimmte Magazin-Jahresbesten-Charts bevölkern, die dies bereits schon vor vierzig Jahren taten. Nein, Retromanie gibt es wirklich nicht.
      .

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      #8682843  | PERMALINK

      herr-rossi
      Moderator
      -

      Registriert seit: 15.05.2005

      Beiträge: 84,853

      tolomoquinkolomGanz nebenbei erklärt sich auch, weshalb 2012 Dinosaurier wie Bruce Springsteen, Bob Dylan, Neil Young, Jimmy Cliff, Leonard Cohen, Dr. John, Bonnie Raitt, Donald Fagen u.a. bestimmte Magazin-Jahresbesten-Charts bevölkern, die dies bereits schon vor vierzig Jahren taten. Nein, Retromanie gibt es wirklich nicht.

      Und immer noch haust Du unterschiedliche Phänomene in einen Sack. Schlichter Konservativismus ist nicht „retro“.

      Eine längere Widerrede zum Gesamtkomplex dann heute abend, hat sich einiges angesammelt, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll …

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      #8682845  | PERMALINK

      tolomoquinkolom

      Registriert seit: 07.08.2008

      Beiträge: 8,651

      Staggerlee
      Das Internet bedeutet was?

      Welche Auswirkungen hat das Ende der Plattenindustrie, dem Ende des Urheberrechts (und somit auch den Begriff des Künstlers als Urheber des Werks) und einen unendlichen Pool an Quellen, bzw. Zugriff auf Quellen? Was bedeutet das für die Entwicklung von Popmusik?

      Aus Plattenfirmen sind Dependancen von Unterhaltungskonglomeraten geworden. Aus Vinyl wurde iMusic. Aus künstlerischem Urheberrecht wurde künstlerverachtendes Filesharing. Aus Popkultur wird Internet- und Plattformkultur. Aus unendlicher Vielfalt wird unendliche Unübersichtlichkeit. Und nach Reynolds wird durch diese digitale Kultur der Einzelne immer mehr zur textuellen Entität, zum bloßen Empfänger und Sender von Daten, ein winziges Pünktchen im riesigen Netzwerklabyrinth.

      Dem hyperaktiven Fieberwahn der Hobby-Kuratoren und Amateur-Archivare im Internet – diesem Zwischending aus Müllhalde und Arche Noah des 21. Jahrhunderts – und der allgemeinen Mitteilungs- und Kommentierextase ist nichts zu banal, zu belanglos, um in diese virtuelle Welt hineingeworfen zu werden. Das gigantische Archiv wird zum Anarchiv, zu einer Ansammlung von Erinnerungsschrott und Datenmüll. Für die Popmusik könnte dies bedeuten, dass sie nicht unter diesen Bedingungen von Unbegrenztheit überleben wird und ebenfalls immer banaler, beliebiger und belangloser wird, um schließlich im Meer der ungenutzten Möglichkeiten unterzugehen.

      War Popmusik die meiste Zeit Innovativ, oder waren es eher kurze Augenblicke, die neue Stilrichtungen hervorgebracht haben- worauf eine lange Zeit der Konsolidierung folgte. Sind wir in einer Konsolidierungsphase und wen ja seit wann? Auffällig ist für mich nach wie vor, daß mir keine Stilrichtung der 0er Jahre einfällt die aus einer wirklich neuen Subkultur entstanden wäre, was nicht bedeutet das kein individueller Ausdruck mehr möglich ist.

      Das was du als Konsolidierungsphase bezeichnest, sieht eher nach einer entgültigen Abwicklung aus. Ich glaube auch nicht, dass sich Innovationen ausschließlich an neuen Stilen in der Popmusik festmachen lassen. Anstöße könnten auch aus anderen Bereichen kommen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob noch ein allgemeines Interesse besteht und Innovationen überhaupt noch willkommen wären.

      Die forcierte Flucht in Retro-Wohlfühlzonen könnte aber möglicherweise auch ein Schutz- oder Abwehrmechanismus gegen die zunehmenden Auswirkungen des Internets auf Menschen sein. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen – ausgelöst durch ein Überangebot, durch kaum mehr zu bewältigende Reizflut aus den Datenwelten – werden immer deutlicher und dürften gleichermaßen ein Problem für Musiker wie Konsumenten sein. Der Technologie- und Internetkritiker Nicholas Carr stellt dazu passend in einem seiner Bücher über De-Evolution die Frage: ‘Wer bin ich, wenn ich online bin …und was macht mein Gehirn solange?’
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      #8682847  | PERMALINK

      sonic-juice
      Moderator

      Registriert seit: 14.09.2005

      Beiträge: 10,983

      Nachdem ich mich jetzt nochmal durch die viel zu vielen Seiten von „Retromania“ gequält habe, bleibt mein Fazit: das Buch ist die manifestierte Midlife Crisis des Autors, es macht mir von der ersten bis zur letzten Seite schlechte Laune und ist bei aller durchscheinenden (Selbst-)Ironie und vielen durchaus akkurat recherchierten Darstellungen eine larmoyante Polemik, die viel Aufwand betreibt, eine vorgefasste Meinung bzw. ein Bauchgefühl mit Reflektionen und Anekdoten zu unterfüttern.

      Am Ende bin ich immer noch nicht schlauer, was eigentlich das wahre Problem (des Autors) ist. Selbst wenn sich zur Zeit irgendetwas popgeschichtlich ganz aufregendes ereignen würde, wäre Simons in seinem Alter wohl kaum die Zielgruppe dafür. Bemitleidet er die Jugend, weil sie nicht so tolle Zeiten haben kann wie er während der frühen 80er? Vielleicht fehlt den Kids ja gar nichts? Vielleicht fühlen sie sich mit Sachen wie X-Box, Online Gaming, Skaten, Comics, Blogs, Forums, diversen musikalischen Mikroszenen ohne den großen übergreifenden neuen Popentwurf ja ganz wohl? Wenn sie heute zu Justin Bieber, Lady Gaga, Grimes, Frank Ocean, Cro oder Jake Bugg pilgern und dabei haufenweise „teenage kicks“ kriegen wie Reynolds vielleicht bei Gang of Four vor 30 Jahren, was fehlt dann wem? Aber er fragt sie auch nicht, was für eine solche Untersuchung eigentlich naheliegender gewesen wäre als naserümpfend durch irgendwelche Rock’n’Roll-Museen zu wandern.

      Davon abgesehen ist Pop als „Novelty“ ja nur ein bestimmtes Phänomen der populären Musikkultur. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn Künstler heute auf die Tradition etablierter musikalischer Genres wie Soul, Rhythm & Blues, Jazz, Hip Hop, Country, Reggae und Folk aufbauen und diese Formen mit aktuellen Texten und Gefühlen füllen? Diese Genres verdienen es, fortgeschrieben und neu interpretiert zu werden. Genauso wie es hoffentlich immer Thriller, Western, Romantic Comedies und Sci Fi im Kino oder den großen Gesellschaftsroman in der Literatur geben wird. Es reicht im Grunde, dass eine neue Stimme in eigenen Worten das gleiche besingt wie seine viele Vorgänger, damit es aktuell und anschlussfähig für Gleichaltrige ist.

      Man darf auch nicht vergessen, dass das 20. Jahrhundert in Bezug auf die Geschwindigkeit der Entwicklung und Diversifizierung kultureller Formensprachen absolut beispiellos war. Was sich früher allenfalls über mehrere Generationen bzw. Epochen langsam entwickelt hat (etwa von der Klassik zur Romantik), passierte in der Popkultur binnen weniger Jahre. Jetzt darüber zu klagen, dass in der letzten Dekade vielleicht etwas weniger Neues passierte als in den davor liegenden Jahrzehnten, ist schon sehr dekadent und kurzsichtig.

      Ich vermisse jedenfalls nichts – vielmehr komme ich kaum hinterher damit, Popmusik von heute halbwegs vollständig zu erfassen (geschweige denn die 100 Jahre zuvor)- und lasse mir das von Reynolds & Co. auch nicht einreden. Wenn Pop, so wie er ihn versteht, tot ist, dann sei es so. Und wenn tatsächlich irgendwann mal wieder ein Bedarf für umstürzlerische neue Sounds in der Luft liegen sollte, dann werden sich dafür auch Künstler finden. Talent gibt es immer, es äußerst sich nur je nach Umfeld und Zeit auf unterschiedliche Weise. An uns Alten wird das aber wahrscheinlich ohnehin vorbei gehen, genauso wie man ggf. einst Dark Wave, Acid House, Rave,Techno, Aggro Berlin, Emo oder Visual Kei als Subkultur nicht verstanden hat.

      --

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      #8682849  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

      Registriert seit: 01.01.1970

      Beiträge: 0

      Sonic JuiceWenn Pop, so wie er ihn versteht, tot ist, dann sei es so.

      Genau. Wenn man seine 20, 30, oder 40 Jahre alte Definition von Pop auf die heutige Zeit anwenden will ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass man Pop überhaupt nicht erst verstanden hat. Daran krankt dieser Thread schon seit der Eröffnung – und vermutlich auch das Buch…

      --

      #8682851  | PERMALINK

      latho
      No pretty face

      Registriert seit: 04.05.2003

      Beiträge: 36,823

      tolomoquinkolomAus Plattenfirmen sind Dependancen von Unterhaltungskonglomeraten geworden. Aus Vinyl wurde iMusic. Aus künstlerischem Urheberrecht wurde künstlerverachtendes Filesharing. Aus Popkultur wird Internet- und Plattformkultur. Aus unendlicher Vielfalt wird unendliche Unübersichtlichkeit. Und nach Reynolds wird durch diese digitale Kultur der Einzelne immer mehr zur textuellen Entität, zum bloßen Empfänger und Sender von Daten, ein winziges Pünktchen im riesigen Netzwerklabyrinth.
      […]

      Oh je. Das erinnert an die Virtual-Reality-Theorien aus Mitte der Neunziger. Retro-Verdacht! Und zudem damals wie heute von einer tiefen Unkenntnis der technischen Gegebenheiten geprägt.

      @SJ: danke, dass du Reynolds gelesen hast und danke für die Kritik. Das Buch werde ich mir definitiv sparen.

      --

      If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
      #8682855  | PERMALINK

      staggerlee

      Registriert seit: 04.02.2007

      Beiträge: 738

      Ich kann das Buch nur empfehlen. Zum Einen hat kein anderes Buch in letzter Zeit im Popdiskurs die Diskussion dermaßen angeregt, zum Anderen hat es mich insoweit amüsiert, als daß ich selbst mehr als alles andere ein (Hobby-)Kurator bin und schon immer war – insoweit konnte ich mich in dem Buch teilweise ganz gut selbst wieder finden (ich vemute, daß es u.a. deshalb so emotional im Forum diskutiert wird). Und natürlich ist es richtig: Was mich in meiner Jugend unzählige Stunden in Plattenläden gekostet hat ist heute ein Klick im Internet (mit allen dazugehörenden Folgen die Reynolds ja teilweise zutreffend beschreibt).
      Zwei kleine Anmerkungen/Nachträge hierzu:
      1.)Auffällig ist für mich schon, wie in der „Fachpresse“ (z.B. im Musikexpress) verzweifelt Minitrends ausgerufen und zu Megatrends aufgeplustert werden, die keine sind (z.B Vampire Weekend, der Wahnsinnstrend zur Worldmusic oder The Mars Volta und das Comeback des Artrocks). Ebenso auffällig ist, wie in Interviews mit Newcomern häufig Sätze fallen wie: Duch den Plattenschrank meiner Eltern bin ich auf… gestoßen. Früher undenkbar.
      2.) Ich kann mich des Eindrucks auch nicht erwehren, daß durch das Internet Strukturen zwar (zurecht) aufgebrochen sind, aber nur recht wenig produktives durch die angebliche „Basisdemokratie“ und „Schwarmintelligenz“ entstanden ist. Dies läßt sich bei der Piratenpartei oder bei dem Niedergang der Printmedien beobachten- andererseits aber sind durch das Verschwinden mancher Kleinstlabels, deren Kompetenz und Risikobereitschaft, die unabdingbar für die Entwicklung der Popmusik war (nachzulesen z.B. bei John Broven in Record Makers and Breakers), nicht unbedingt die besten Voraussetzungen geschaffen worden um nur ein Beispiel zu nennen.

      --

      #8682857  | PERMALINK

      reino

      Registriert seit: 20.06.2008

      Beiträge: 5,699

      Monroe StahrGenau. Wenn man seine 20, 30, oder 40 Jahre alte Definition von Pop auf die heutige Zeit anwenden will ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass man Pop überhaupt nicht erst verstanden hat. Daran krankt dieser Thread schon seit der Eröffnung – und vermutlich auch das Buch…

      Wie alt darf denn eine Definition von Pop bitte sein?
      Und ist eine neue Definition gleich sinnstiftender als eine alte? Oder beschreibt sie eventuell eine Leiche als leuchtende Zukunft der Musikgeschichte?

      --

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      #8682859  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

      Registriert seit: 01.01.1970

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      ReinoWie alt darf denn eine Definition von Pop bitte sein?

      sie darf gar nicht alt sein, denn die Aktualität ist das Wesen von Pop. Pop heute ist so vielfältig, so in die Nischen gegangen, teilweise so schnelllebig (und ja, natürlich dadurch aus so zersplittert), dass man nur Bruchteile mitbekommt und, wenn man nicht Teil einer Jugendbewegung ist, nur die Oberfläche wahr nimmt, die man schon kennt. Da kann leicht der Eindruck entstehen, dass Pop retro ist – im Grunde ist aber nur die eigene Auffassungsgabe alt und retro.

      --

      #8682861  | PERMALINK

      bullschuetz

      Registriert seit: 16.12.2008

      Beiträge: 2,089

      Womöglich hast Du recht.

      --

      #8682863  | PERMALINK

      reino

      Registriert seit: 20.06.2008

      Beiträge: 5,699

      Monroe Stahrsie darf gar nicht alt sein, denn die Aktualität ist das Wesen von Pop.

      Und was ist an dieser Definition neu? Galt das nicht schon vor vierzig Jahren (abgesehen von der wohl ebenso alten Defintion, die Pop als Gegenentwurf zum Rock sieht)?
      Und vor allem ist diese Definition zur Aufarbeitung der Musikhistorie wenig tauglich. Denn aktuell waren ja auch 1957 der Skiffle, 1962 Bob Dylan, 1970 Hannes Wader und 1986 Biermösl Blosn
      Und inwiefern nehmen Jugendbewegungen mehr außerhalb ihrer eigenen Nische wahr?

      --

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      #8682865  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

      Registriert seit: 01.01.1970

      Beiträge: 0

      ReinoUnd vor allem ist diese Definition zur Aufarbeitung der Musikhistorie wenig tauglich.

      Pop schreibt die Musikgeschichte vorwärts. Auf“gearbeitet“ wir sie irgendwann von Rentnern in Altersheimen, die den Bezug zum Pop verloren haben.

      ReinoUnd inwiefern nehmen Jugendbewegungen mehr außerhalb ihrer eigenen Nische wahr?

      sie nehmen die Musik innerhalb ihrer Nische wahr, mehr haben sie nie getan. Von aussen siehst du heute aber nicht mal mehr das.

      --

      #8682867  | PERMALINK

      tolomoquinkolom

      Registriert seit: 07.08.2008

      Beiträge: 8,651

      Sonic JuiceNachdem ich mich jetzt nochmal durch die viel zu vielen Seiten von „Retromania“ gequält habe, bleibt mein Fazit: das Buch ist die manifestierte Midlife Crisis des Autors, es macht mir von der ersten bis zur letzten Seite schlechte Laune und ist bei aller durchscheinenden (Selbst-)Ironie und vielen durchaus akkurat recherchierten Darstellungen eine larmoyante Polemik, die viel Aufwand betreibt, eine vorgefasste Meinung bzw. ein Bauchgefühl mit Reflektionen und Anekdoten zu unterfüttern.

      Am Ende bin ich immer noch nicht schlauer, was eigentlich das wahre Problem (des Autors) ist. Selbst wenn sich zur Zeit irgendetwas popgeschichtlich ganz aufregendes ereignen würde, wäre Simons in seinem Alter wohl kaum die Zielgruppe dafür. Bemitleidet er die Jugend, weil sie nicht so tolle Zeiten haben kann wie er während der frühen 80er? Vielleicht fehlt den Kids ja gar nichts? Vielleicht fühlen sie sich mit Sachen wie X-Box, Online Gaming, Skaten, Comics, Blogs, Forums, diversen musikalischen Mikroszenen ohne den großen übergreifenden neuen Popentwurf ja ganz wohl? Wenn sie heute zu Justin Bieber, Lady Gaga, Grimes, Frank Ocean, Cro oder Jake Bugg pilgern und dabei haufenweise „teenage kicks“ kriegen wie Reynolds vielleicht bei Gang of Four vor 30 Jahren, was fehlt dann wem? Aber er fragt sie auch nicht, was für eine solche Untersuchung eigentlich naheliegender gewesen wäre als naserümpfend durch irgendwelche Rock’n’Roll-Museen zu wandern.

      Davon abgesehen ist Pop als „Novelty“ ja nur ein bestimmtes Phänomen der populären Musikkultur. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn Künstler heute auf die Tradition etablierter musikalischer Genres wie Soul, Rhythm & Blues, Jazz, Hip Hop, Country, Reggae und Folk aufbauen und diese Formen mit aktuellen Texten und Gefühlen füllen? Diese Genres verdienen es, fortgeschrieben und neu interpretiert zu werden. Genauso wie es hoffentlich immer Thriller, Western, Romantic Comedies und Sci Fi im Kino oder den großen Gesellschaftsroman in der Literatur geben wird. Es reicht im Grunde, dass eine neue Stimme in eigenen Worten das gleiche besingt wie seine viele Vorgänger, damit es aktuell und anschlussfähig für Gleichaltrige ist.

      Man darf auch nicht vergessen, dass das 20. Jahrhundert in Bezug auf die Geschwindigkeit der Entwicklung und Diversifizierung kultureller Formensprachen absolut beispiellos war. Was sich früher allenfalls über mehrere Generationen bzw. Epochen langsam entwickelt hat (etwa von der Klassik zur Romantik), passierte in der Popkultur binnen weniger Jahre. Jetzt darüber zu klagen, dass in der letzten Dekade vielleicht etwas weniger Neues passierte als in den davor liegenden Jahrzehnten, ist schon sehr dekadent und kurzsichtig.

      Naja, schlechte Laune entsteht manchmal auch dadurch, dass man etwas liest, was einem nicht so gefällt, weil darin vielleicht eine Erkenntnis mit persönlichem Bezug aufflackert, der man gar nicht begegnen wollte. Ich habe nicht den Eindruck, dass Simon Reynolds mit RETROMANIA die Absicht hatte, ein Buch zur Belustigung zu schreiben; dies tun andere Autoren bereits zur Genüge. Und es geht auch keineswegs nur um Jugend und Musik. Die sympathische Selbstironie des Autors verhindert zudem, das man sein lesenswertes Buch als anklagende Abrechnung wahrnimmt.

      Die von dir erwähnte Midlife Crisis greife ich allerdings gerne auf, würde sie aber nicht auf den Autor, sondern auf die Popmusik beziehen. Das ‘Problem’ (eigentlich ist es ein Kulturdilemma), das du dem Autor zuschreibst und dich nach Lektüre ‘immer noch nicht schlauer’ zurücklässt, wird im aufschlussreichen Kapitel ‘Merkwürdige Verwandlungen’ doch ganz wunderbar entwirrt. Die verblüffenden Zusammenhänge mit den Entwicklungen in der Architektur, aber vor allem jene in der Mode (und ihren Designern) zeigen – zwar zeitversetzt – ein sehr ähnliches ‘Schnittmuster’ wie in der Popmusik (und deren ‘Designern’). Was man aus Umsatzgründen in der Modebranche erfolgreich durchführt – das Ausrufen immer neuer Trends – versucht die Musikindustrie auf ähnliche Weise und mit den gleichen Gründen durch das Ausrufen ständig wechselnder Hypes, Star-Darstellern und dem Erfinden angeblich neuer Musikstile zu tun.

      Dein Satz ‘Genauso wie es hoffentlich immer Thriller, Western, Romantic Comedies und Sci Fi im Kino oder den großen Gesellschaftsroman in der Literatur geben wird’ wäre eine eigene Diskussion Wert. Nur soviel: Western und Sci Fi halte ich als aktuelles Filmgenre für tot. Das eine haben nicht nur infantil-patriotisches Kastastrophengedröhne und Comic-Superhelden erlegt (Drähte sind die neuen Pferde), das andere George Lucas fast im Alleingang mit seinen faschistoiden Märchenoperetten um Sternenkrieger (Science wird zur bunten Bubblegum-Blase).

      Du fragst, was eigentlich ‘so schlimm daran sei, wenn Künstler heute auf die Tradition etablierter musikalischer Genres wie Soul, Rhythm & Blues, Jazz, Hip Hop, Country, Reggae und Folk aufbauen und diese Formen mit aktuellen Texten und Gefühlen füllen?’ Daran ist freilich nichts schlimm, denn diese Rückgriffe auf Vorbilder hat es immer schon gegeben und sie gehören im Grunde zum Starter-set für Jungmusiker. Wenn sich aber – und darum geht es Reynolds u.a. in RETROMANIA – die Aneignungstechniken aus marktkonformen Gründen zunehmend darauf beschränken bereits Vorhandenes zu kopieren und/oder neu zu mischen, sollten Fragen nach dem Zustand der aktuellen Popmusik bzw. der Popkultur und den Direktiven der sie steuernden Industrie erlaubt sein. Die durchgeführten Untersuchungen von z.B. Billboard hinsichtlich der Ursachen der wachsenden Verschiebungen im Rezeptionsverhalten zwischen aktueller Musik und Archivprodukten sind kein unterstelltes Bauchgefühl sondern Fakten.
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      #8682869  | PERMALINK

      sonic-juice
      Moderator

      Registriert seit: 14.09.2005

      Beiträge: 10,983

      Die grundlegende Frage bleibt aber doch: „so fucking what?“
      Muss jetzt ein Ruck durch die Popwelt gehen? Im Grunde hat sich Pop so entwickelt, wie es logischerweise bei den gegebenen technischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu erwarten war. Man kann das nur akzeptieren und sich weiterhin die Rosinen raussuchen oder sich darüber grämen und als alter Sack nostalgisch und kulturpessimistisch (also „retro“) werden.

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