Retromania | ist Pop tot?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Retromania | ist Pop tot?

Ansicht von 15 Beiträgen - 211 bis 225 (von insgesamt 373)
  • Autor
    Beiträge
  • #8682599  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,876

    Interessanter Thread, den ich aber nur diagonal gelesen habe. Aber sellbst das fand ich sehr anregend. Zu ein paar Sachen würde ich dann auch noch mal gerne meine Senf dazu geben.

    Sonic JuiceNick Waterhouse wird allzuoft in irreführende Zusammenhänge von Winehouse bis 60s Soul gestellt, die offenkundig sehr wenig mit seinem Sound zu tun haben. Bei genauerem Hinhören ist es auch hier sehr schwer, überhaupt klare Vorbilder auszumachen, die früher mehr oder weniger genau so klangen. Gritty Blue Eyed R&B der frühen 60er jenseits von Georgie Fame und den britischen Beat Bands? Beispiele bitte!

    Es behauptet niemand, dass Kitty, Daisy & Lewis oder Nick Waterhouse exakte Repliken von Künstlern früherer Epochen sind. Aber die verwendeten Versatzstücke sind doch offensichtlich. Das betrifft ebenso die Musik der Vorbilder aus den 50ern hier (R’n’R, Sun Records) oder den 60ern dort (R&B, Soul, Atlantic, Stax, you name them…), von der man sich wie aus einem Musterkoffer bedient wie auch die Covergestaltung, Haarschnitt, Hornbrille und selbst der Hinweis darauf, welche vintage Tonbandmaschine man benutzt. Der demonstrativ zur Schau gestellte Vinyl-Fetischismus vervollständigt das Bild. Kann man bei Nick Waterhouse nicht sogar 7“-Single-Pucks mit seinen Initialen kaufen? Limitiert und damit künstlich mit der Aura des Unikats versehen? Posen, Codes, Rollenspiele, das ist es, was nicht nur diese Art von Pop zu einem wesentlichen Teil überhaupt ausmacht. Dagegen ist ja auch gar nichts einzuwenden. Das Paradoxe daran ist nur, dass durch den Bezug auf die „Originale“ so etwas wie Authentizität und zeitlose Qualität vorgetäuscht wird, oder zumindest dem Konsumenten die Möglichkeit gegeben wird, sie hineinzuinterpretieren. Vielleicht färbt ja ein bisschen was davon sogar auf einen selbst ab? Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Da ist überhaupt nichts authentisch. Wobei ich bei Pop ja gar nicht mal Authentizität und Zeitlosigkeit einfordern würde. Pop ist doch viel mehr die Kunst der geschickt gestalteten Oberfläche und gibt jedem die Chance auf 15 Minuten Ruhm. Dagegen ist nichts zu sagen.

    Ich habe übrigens nichts gegen KD&L und NW. Das ist doch prima Pop!

    Da fällt mir ein: „Eighties pop music looks authentically dated . .. therefore it is indeed authentically. I think it’s quite funny that pop, by not claiming to be authentic, is so much more authentic“ Gesagt hat das Neil Tennant, die eine Hälfte der Pet Shop Boys. Und der muss es wissen.

    In den achtziger Jahren schien dann postmodernes Denken geeignet, Popmusik zu erklären. Jetzt gab es eingestandene Revivals, ausgestellte Bezugnahmen auf frühere Zustände. Man hatte begriffen, dass der Pop-Moment aus zwei Teilen bestand und wollte nun schon gezielt beides selbst praktizieren: das Material für die Fetischisierungen liefern und seinerseits altes Material seiner vervollständigenden Zweitrezeption zuführen. Weite Bereiche der Soulmusik der sechziger Jahre, später auch des US-Garagen-Rock der sechziger Jahre wurden in den achtziger Jahre erst verstanden, klassifiziert, archiviert und – vor allem – reproduziert.
    Die Kunst besteht darin, Erregungsmaterial zu sein. (Diedrich Diedrichsen)

    DD bezieht sich hier auf eine Ära der späten 70er frühen 80er Jahre, in denen vor allem in GB viele Bands aus dem Boden schossen, die sich mehr oder weniger auf Vorbilder aus der Vergangenheit bezogen, diese zitierten, imitierten oder ironisch mit deren Stilmitteln spielten: Dexys Midnight Runners schwelgten im Celtic Soul von Van Morrison, Heaven 17, Culture Club und andere bedienten sich bei Motown, The Associates und Japan konnten und wollten ihre Verehrung für David Bowie bzw. Roxy Music nicht leugnen, Soft Cells erster Hit war ein Cover eines Northern Soul-Stückes und The Stray Cats wirkten wie durch einen timetunnel geschleuste Teddyboys. Selbst der hier im Forum so verehrte Paul Weller wechselte auf den Alben von Style Council von einem Stück zum anderen den Stil, von Bossa Nova bis zum Streichquartet. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Dabei hatte man noch 1977 behauptet, dass alle Popmusik aus der Zeit davor auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Eigentlich wundert es nicht, dass eine Diskussion über angebliche Retromania losgetreten wird. Es wundert nur, dass das erst jetzt passiert. Aber vielleicht war das damals bloß nicht so offensichtlich zu erkennen: Anfang der 80er wusste man als um-die-20-jähriger nicht, woher Dexys JACKIE WILSON SAID kam und wenn man sich nicht auf den Weg in einen Plattenladen machte und dort mit viel Glück eine ganz bestimmte Platte von Van Morrison erwarb, erfuhr man es auch nicht so schnell. Heute kann man sich Gloria Jones‘ TAINTED LOVE im web anhören, damals wusste kaum jemand, dass Soft Cells Hit eine Coverversion davon war.

    Wie soll man diese Lust am Zitieren und an Bezügen auf Überliefertes nennen? Eine Art Erinnerungskultur, die Klänge, Bilder und Images aus der Vergangenheit gezielt einsetzt um in der Gegenwart den Rezipienten in Erregung zu versetzen? Motown, Van Morrison, Bowie und Roxy Music, Bossa Nova und R’n’R rufen Erinnerungen hervor, sind mit Bedeutungen, Konnotationen und Bewertungen besetzt, die beim Hörer etwas auslösen – je nachdem über welchen eigenen Erfahrungsschatz er selbst verfügt.

    Auch Pop braucht gemeinsam gemachte Erfahrungen und Erinnerungen, die Bedeutung und Identität stiften. Dabei geht es auch um Wiedererkennbarkeit von Stilmitteln, um Verweise und Zitate deren Zusammenhang man kennt und die man einzuordnen und zu bewerten weiß. Erst durch den Verweis auf etwas Bekanntes gewinnt Pop überhaupt Sinn. So verstehe ich DD hier. Es ist überhaupt keine Frage, ob Pop sich nicht immer schon in einem Referenzsystem von Überliefertem aus Fakten und Legenden bewegte. Die Frage ist eher, auf welchem Niveau das geschieht, mit welchem Kenntnisreichtum und welcher Raffinesse und ob und wie das vom Hörer auch wahrgenommen wird.

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    Highlights von Rolling-Stone.de
    Werbung
    #8682601  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    MikkoPop ist weder tot noch arriviert oder saturiert. Aktuelle Pop Musik ist für Jugendliche immer noch identitätsstiftend. Allerdings sicher nicht mehr in den Maße und so ausschließlich wie sie es vor Jahrzehnten war. Das liegt aber mit Sicherheit nicht an der Etabliertheit neuer Pop Musik. Es liegt eben daran, dass sich die Zeiten schlicht gewandelt haben, wie es hier ja schon vielfach beschrieben wurde.
    Und diese „Spezialisten“ gibt es, seit Pop Musik im Feuilleton arrivierter Zeitungen angekommen ist. In England und den USA hat es sie vermutlich etwas früher gegeben als bei uns. Aber letztlich sind es eben auch nur jene Spezialisten, die sich über Begriffe wie „Retro“ Gedanken machen und darüber vermeintlich schlaue Abhandlungen schreiben.

    Wer Pop Musik als zum täglichen Leben gehörend begreift, kommt nicht auf solche Gedanken. Es gibt nur gute oder schlechte Pop Musik (und natürlich die eine oder andere Grauzone). Der Begriff „retro“ hilft bei der Unterscheidung mit Sicherheit kein bisschen.

    Ich fragte, ob das, was die „Spezialisten“ unter Pop verstehen, nicht so eine Art „Kunstlied 2.0“ etc. sei. Darin, dass Pop weder tot noch arriviert oder saturiert sei, stimme ich Dir zu, denn dazu ist er zu vielgestaltig. Auch stimme ich Dir in der Aussage zu, dass es nur gute oder schlechte Popmusik (und natürlich die eine oder andere Grauzone) gebe; allerdings gibt es andererseits ebenso – gerade bei den „Spezialisten“ – nicht nur die erwähnte qualitative Distinktion im Pop, sondern auch ein persönliches Distinktionsbedürfnis als auskennerischer Spezialist. Und letzteres trübt nach meinem Dafürhalten in erheblichem Maße das Urteilsvermögen bezüglich ersterer. Leichtigkeit z.B. sowohl in der Popmusik wie auch als Charakterzug von InterpretInnen scheint weithin verpönt zu sein; gefeiert dagegen wird ausdrücklich Schwere, Weltschmerz und Ingrimm. Die Analogie zu Jorge von Burgos habe ich bereits andernorts gezogen, und ich habe den damaligen Ausführungen vorläufig nichts weiter hinzuzufügen als ein Zitat aus einem Leserkommentar zum Großen Augsburger Pharisäerbrief:

    Laurenz KambrückMir wird dabei auch einen Fünkchen klarer, warum aus Deutschland so wenig international erfolgreiche Popmusik kommt: Weil solche Herrschaften in ihren „richtigen Sozialisationen“, die Hüter des vermeintlich einzig wahren und guten Geschmacks, hier das Klima bestimmen und so Pop schlicht und ergreifend verhindern.

    Es dräut eben eher die musikalische Asozialisierung, wenn man statt mit offenen Ohren und Herzen mit Ressentiment an Musik herangeht.

    P.S.: Meine Erfahrung mit Internetforen sagt mir, dass es ratsam sein könnte, explizit zu betonen, dass die voranstehenden Ausführungen sich nicht in erster Linie auf dieses Forum beziehen. ;-)

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682603  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    FriedrichAuch Pop braucht gemeinsam gemachte Erfahrungen und Erinnerungen, die Bedeutung und Identität stiften. Dabei geht es auch um Wiedererkennbarkeit von Stilmitteln, um Verweise und Zitate deren Zusammenhang man kennt und die man einzuordnen und zu bewerten weiß. Erst durch den Verweis auf etwas Bekanntes gewinnt Pop überhaupt Sinn. So verstehe ich DD hier. Es ist überhaupt keine Frage, ob Pop sich nicht immer schon in einem Referenzsystem von Überliefertem aus Fakten und Legenden bewegte. Die Frage ist eher, auf welchem Niveau das geschieht, mit welchem Kenntnisreichtum und welcher Raffinesse und ob und wie das vom Hörer auch wahrgenommen wird.

    Guter Beitrag.

    Hal CrovesIch fragte, ob das, was die „Spezialisten“ unter Pop verstehen, nicht so eine Art „Kunstlied 2.0“ etc. sei.

    Ja, da könntest Du richtig liegen. Das habe ich oben überlesen. Ich würde zwar in puncto „Schwere“ nicht so weit gehen wie Du, aber eine gewisse „Bedeutung“ und „Tiefe“ brauchen hiesige „Spezialisten“, da stimme ich Dir zu.

    --

    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
    #8682605  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    Mikkoeine gewisse „Bedeutung“ und „Tiefe“ brauchen hiesige „Spezialisten“, da stimme ich Dir zu.

    Das erinnert mich an die Rezeption des ersten Kinofilms von Otto Waalkes durch die SED. :lol:

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682607  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,917

    Hal Croves[…]nicht nur die erwähnte qualitative Distinktion im Pop, sondern auch ein persönliches Distinktionsbedürfnis als auskennerischer Spezialist. […]

    Natürlich gab und gibt es das im UK und in den US: vielleicht stehen da die Klassengesellschaft sowie die vielschichtige Einwanderergesellschaft dahinter. Und es, das Distinktionsbedürfnis, ist Vorraussetzung für gute, weil sich von den anderen absetzende Pop-Musik. Und das ist in meinen Augen auch der Grund dafür, warum aus Deutschland, dem Land der Massengesellschaft (bloß nicht auffallen, wir gehören doch alle zusammen) keine oder nur wenige gute Pop-Musik kommt – man rennt halt lieber offene Türen ein, als sich zu weigern, besagte Tür aufzumachen (um im Bild zu bleiben).

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #8682609  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    lathoNatürlich gab und gibt es das im UK und in den US: vielleicht stehen da die Klassengesellschaft sowie die vielschichtige Einwanderergesellschaft dahinter. Und es, das Distinktionsbedürfnis, ist Vorraussetzung für gute, weil sich von den anderen absetzende Pop-Musik. Und das ist in meinen Augen auch der Grund dafür, warum aus Deutschland, dem Land der Massengesellschaft (bloß nicht auffallen, wir gehören doch alle zusammen) keine oder nur wenige gute Pop-Musik kommt – man rennt halt lieber offene Türen ein, als sich zu weigern, besagte Tür aufzumachen (um im Bild zu bleiben).

    Das ist kompletter Humbug. Gerade die amerikanische und die britische Gesellschaft sind geprägt von einem ausgesprochenen Argwohn gegen kulturellen Elitismus. Und wo fände man ein stärkeres Anpassungsbestreben als in den amerikanischen Suburbs?
    Ich habe selten einen derart substanzlosen, lediglich der Provokation dienenden Quatsch gelesen. Offenbar war meine hier geäußerte Skepsis vollauf berechtigt.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682611  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,917

    Hal CrovesDas ist kompletter Humbug. Gerade die amerikanische und die britische Gesellschaft sind geprägt von einem ausgesprochenen Argwohn gegen kulturellen Elitismus. Und wo fände man ein stärkeres Anpassungsbestreben als in den amerikanischen Suburbs?
    Ich habe selten einen derart substanzlosen, lediglich der Provokation dienenden Quatsch gelesen. Offenbar war meine hier geäußerte Skepsis vollauf berechtigt.

    Was meinen anderen Post im Ava-Thread betrifft: schon überraschend, wie jemand mit deinen musikalischen Vorlieben derart humorlos sein kann.

    Und hier scheinen wir aneinander vorbei zu reden. Ich meinte nicht Elitismus sondern Abgrenzung – das hat etwas mit anders, nicht mit besser zu tun. Die US-Suburbs waren vor allem weiß und von der Herkunft her zumeist homogen geprägt – das ist aber nicht prägend für die Entstehung der Pop-Musik.

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #8682613  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    Gelegentlich vor Ärger aus der Haut zu fahren hat nun gar nichts mit Humorlosigkeit zu tun; und das war jetzt in über drei Monaten bei mir das erste Mal. Und selbstverständlich hat die Art von Abgrenzung, von der in den letzten Beiträgen von mir und Mikko, auf die Du Dich ja beziehst, die Rede war, etwas mit Elitismus zu tun, nur eben im popkulturellen Feld.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682615  | PERMALINK

    alberto

    Registriert seit: 04.12.2007

    Beiträge: 1,942

    lathoNatürlich gab und gibt es das im UK und in den US: vielleicht stehen da die Klassengesellschaft sowie die vielschichtige Einwanderergesellschaft dahinter. Und es, das Distinktionsbedürfnis, ist Vorraussetzung für gute, weil sich von den anderen absetzende Pop-Musik. Und das ist in meinen Augen auch der Grund dafür, warum aus Deutschland, dem Land der Massengesellschaft (bloß nicht auffallen, wir gehören doch alle zusammen) keine oder nur wenige gute Pop-Musik kommt – man rennt halt lieber offene Türen ein, als sich zu weigern, besagte Tür aufzumachen (um im Bild zu bleiben).

    In Deutschland gab es bis zum Beginn der jetzt schon über ein Jahrzehnt andauernden Retro-Welle doch auch immer ein Distinktionsbedürfnis (was in meinen Augen in erster Linie ein Bedürfnis nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl abseits des Mainstreams ist), sonst hätte es außer der Heckschen Hitparade nichts geben dürfen, also keinen Krautrock, Punk, Postpunk, HipHop, Techno etc.

    --

    #8682617  | PERMALINK

    wenzel

    Registriert seit: 25.01.2008

    Beiträge: 5,575

    latho….Und es, das Distinktionsbedürfnis, ist Vorraussetzung für gute, weil sich von den anderen absetzende Pop-Musik. Und das ist in meinen Augen auch der Grund dafür, warum aus Deutschland, dem Land der Massengesellschaft (bloß nicht auffallen, wir gehören doch alle zusammen) keine oder nur wenige gute Pop-Musik kommt …

    wobei das wieder auf die fehlende Tradition zurückzuführen ist. Spontan fällt mir eigentlich nur Andreas Dorau (Popper mit starkem Distinktionsbedürfnis) als Gegenbeispiel ein.

    --

    #8682619  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    Remake, Remodel, Rewrite

    Popmusik dreht sich zunehmend in einer immer schnelleren Abfolge von Retroschleifen um sich selbst, um bei permanenter Rückschau auf das Immergleiche, schon mal dagewesene langsam zum Stillstand zu kommen. Gleichzeitig erhöht die Tonträgerindustrie als Ausdruck ihrer Retro-Ökonomie nun auch in Europa das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre.

    Popmusik wird zu einer musealen Angelegenheit und macht es sich dort gemütlich, wo sich ohne Risiken Rendite einfahren lässt; als Segment einer globalen Unterhaltungsindustrie, ein Spektakel unter vielen, schrille Wegwerfware.

    Die Kunst des Zitats mag uns zwar immer noch beeindrucken, aber wir wissen dabei immer weniger, ob dieses Zitat (oder Sample) nun aus ästhetischen oder rein ökonomischen Gründen zu hören ist. Pop wird als ‘Indie’, ‘Alternative’ oder ‘Post-Punk’ beworben. Dekonstruktion, Remix und Mashup reduzieren sich darauf, einen schwarzweißen Karopullover aufzutrennen, um daraus einen weißschwarzen Karopullover zu machen.

    [Didi Neidhart | aus: Immer Ärger mit dem Rückspiegel]

    .

    --

    #8682621  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    Langsam wird’s langweilig, tolo.

    --

    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
    #8682623  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,018

    Et ceterum censeo Carthaginem esse delendam … (Das ist retro!)

    --

    #8682625  | PERMALINK

    tolomoquinkolom

    Registriert seit: 07.08.2008

    Beiträge: 8,651

    bullschuetz tolo, eine Gegenthese:
    Was, wenn die angebliche Rückwärtsgewandtheit der Popkultur nur ein Gewinn an historischer Tiefenschärfe ist?
    Denkanstöße dazu:

    – Was manche als Verkümmerung des Gegenwartsbezugs in der Popmusik kritisieren, ist in Wahrheit eine Bereicherung des Gegenwartsbezugs um den Faktor Geschichtsbewusstsein.
    – Durch die digitale Archivierung schieben sich Vergangenes und Gegenwärtiges frei verfügbar ineinander im Modus der Gleichzeitigkeit.

    Du meinst, als Abbild einer immer komplexer gewordenen Welt mit kaum noch zu erfassenden globalen Angeboten? So, als würden alle Erinnerungen die man als Mensch im Gedächtnis eingelagert hat, gleichzeitig auf einen Schlag hochgeschwemmt? Kein Gewinn, eher ein Overkill und purer Horror.

    Historiker sind keine Zukunftsforscher. Und bei Pop geht oder ging es doch nicht um archäologische Artefakte, sondern um Verknüpfungen der Gegenwart, um Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen junger Menschen im Zusammenhang mit Verheißungen und ihrer Zukunft – nicht um Nostalgie. Dieser virale Befall durch Retromanie als Geisteshaltung (oder sogar als Weltanschauung) – und auf Grund des mächtigen Gravitationsfelds der Pop-Vergangenheit – hat aus einem Personenkreis, dem am meisten zuzutrauen wäre, sich wegweisend als Pioniere oder Erneuerer ins Unentdeckte voranzuwagen, Archivare bzw. Archäologen gemacht. Viele sind nur noch am Graben, Zerren und Ziehen. Die von dir vermutete Tiefenschärfe mag HDTV-Qualität haben, ist aber auch ausgeprägter Tunnelblick.

    – Das Switchen zwischen aktueller Ausdrucksform und Nutzung bewährter Genre-Techniken ist heute leichter.

    Was genau soll eigentlich mit dieser aktuellen Form ausgedrückt werden? Ich meine, was will ein DJ, ein Remix-Virtuose, ein Sample-King, ein Vintage-Künstler – und unabhängig von der Qualität – mit seinen Hervorbringungen mitteilen bzw. vermitteln?

    – Da jeder via Internet/Tonträger/Dateien/Bildkonserven über einen enzyklopädischen Zugriff auf Vorangegangenes verfügt, wird es einerseits (aus Produzentensicht) leichter, sich in aktuellen Kunsthervorbringungen auf Vergangenes zu beziehen, andererseits (aus Rezipientensicht) leichter, zu erkennen, wo sich jemand auf Vergangenes bezieht.

    Der entscheidende Faktor dürfte nicht das Sich-auf-Vergangenes-beziehen sein, sondern das Ausmaß, die Menge und die Gründe der Zitate. Wie Didi Neidhart (selbst DJ und Musiker) im deutschen Vorwort zu RETROMANIA anmerkt, wird man zwar von mal mehr, mal weniger kunstvollen Zitaten beeindruckt, aber weiß dabei immer weniger, ob diese Zitate oder Samples nun aus ästhetischen oder nur rein ökonomischen Gründen verwendet werden und zu hören sind.

    – In den 60er-Jahren wurde Pop von vielen als geschichtslos empfunden (obwohl natürlich die Musiker auch damals natürlich an Vorläufer und Traditionen anknüpften), weil diese Vorläufer und Traditionen (zum Beispiel Bluesplatten) relativ schwer zugänglich waren im Vergleich zu heute (x Fernsehsender, youtube etc). Bezeichnend ist, wie in den 60er-Jahren zum Beispiel Bob Dylan vor allem als Innovator wahrgenommen wurde, während er sich de facto in eine breite, weit zurückreichende Tradition stellte (Smiths Folk-Anthologie, Blues etc als Stichworte). Aber damals gab es noch keine Theme Time Radio Hour, die solche Zusammenhänge transparant machte.

    Standing and walking on the shoulders of giants.
    .

    --

    #8682627  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    tolomoquinkolomDer entscheidende Faktor dürfte nicht das Sich-auf-Vergangenes-beziehen sein, sondern das Ausmaß, die Menge und die Gründe der Zitate. Wie Didi Neidhart (selbst DJ und Musiker) im deutschen Vorwort zu RETROMANIA anmerkt, wird man zwar von mal mehr, mal weniger kunstvollen Zitaten beeindruckt, aber weiß dabei immer weniger, ob diese Zitate oder Samples nun aus ästhetischen oder nur rein ökonomischen Gründen verwendet werden und zu hören sind.

    Wen interessiert das und warum ist das wichtig? Entscheidend ist, ob es passt, Sinn macht und sich in den ästhetischen Rahmen fügt.

    --

    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
Ansicht von 15 Beiträgen - 211 bis 225 (von insgesamt 373)

Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.