Lesefrüchte

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  • #8674955  | PERMALINK

    genosse-schulz

    Registriert seit: 06.01.2009

    Beiträge: 5,321

    Marx/Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“, Kap.1, S.6

    „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“

    Seit ’89 nicht mehr gelesen und jetzt entsprechend überrascht gewesen: Apokalypse statt Revolution. Das wurde in der DDR aber nicht thematisiert. Gefällt natürlich dem Doomer in mir.

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      #8674957  | PERMALINK

      brundlefly

      Registriert seit: 27.12.2008

      Beiträge: 4,766

      „Woher kommt das Wort „Problem“? Ich glaube, dass in der Vorkriegsliteratur – ich meine in der Literatur aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg – in Deutschland sowie in anderen Ländern, ganz bestimmt auch in Amerika, das Wort „Problem“ entweder nie oder fast nie aufgetaucht ist, wie wir es heute benutzen.
      „Ich habe ein Problem mit meinem Magen.“ „Ich habe ein Problem mit meiner Ehe.“ Ich kann mir kaum vorstellen, dass Thomas Mann in der deutschen Sprache oder Hemingway oder Faulkner je so etwas in den Mund seiner Charaktere gelegt hätte. Nein, nein: „Mein Magen tut mir weh.“ Oder: „Wir leiden beide unter unserer kaputten Ehe.“ Oder: „Du liebst mich nicht mehr.“ Nicht: „Ich habe ein Problem mit meiner Ehe.“ Dieses Eindringen in unsere Sprache – ganz bestimmt auch ins Englische und in viele andere Sprachen – hat mit dem Siegeszug des Computers zu tun.
      Der Computer wurde eingeführt als „General Problem Solver“, als „Lösung für alles“. Die ganze Sache, dass man etwas einem Computer übergeben kann, hat eigentlich vor 40 Jahren als Witz angefangen: „Ach, frag doch mal deinen Computer.“ Das war ein Witz. Aber langsam wurde es ernst genommen.
      Wir haben ein Problem und ein Problem verlangt nach einer Lösung. Problem und Lösung – diese beiden Begriffe sind untrennbar miteinander verbunden. Das bedeutet: Wenn man ein Problem hat, gibt es ein gewisses Verfahren – es könnte ein mathematisches sein, Algebra -, das man auf dieses Problem anwenden kann. Was dabei herauskommt, ist dann die Lösung. Damit ist dieses Problem erledigt.
      (…)
      Auf der breitesten Ebene sowie auf der Ebene des Einzelnen hat uns dieser Begriff „Problem“ in einem gewissen Sinne korrumpiert.“

      Aus: Joseph Weizenbaum, Inseln der Vernunft im Cyberstrom?

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      http://hyphish.wordpress.com "Every generation has its one defining moment. We are yours."
      #8674959  | PERMALINK

      wenzel

      Registriert seit: 25.01.2008

      Beiträge: 5,471

      passt nicht wirklich in diesen thread, aber Clemens Meyer hat eine Sprechstimme wie jemand, der noch die Gründung der DDR miterlebt hat.

      http://www.deutschlandradiokultur.de/clemens-meyer-in-frankfurt-ja-fuck-es-ist-so.2156.de.html?dram:article_id=322135

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      #8674961  | PERMALINK

      herumwandler

      Registriert seit: 25.08.2013

      Beiträge: 46

      genosse schulzMarx/Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“, Kap.1, S.6

      „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“

      Seit ’89 nicht mehr gelesen und jetzt entsprechend überrascht gewesen: Apokalypse statt Revolution. Das wurde in der DDR aber nicht thematisiert. Gefällt natürlich dem Doomer in mir.

      Das halte ich für eine Fehlinterpretation. Gemeint ist damit doch wohl, dass die bisherigen Klassen verschwinden (und neue entstehen) und nicht, dass die Welt untergeht.

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      #8674963  | PERMALINK

      cleetus

      Registriert seit: 29.06.2006

      Beiträge: 17,267

      Aus der Zeit vom letzten Donnerstag (abgedruckt waren nur die letzten vier Zeilen, hier der Vollständigkeit halber in Gänze), Thema war ‚Deutsche im Ausland‘:

      „Horch! Die Campanile Glocken!“
      Pirna macht sich auf die Socken,
      herrlich an der Adria,
      liegt das Cafe Quadri! Ja!
      Lehrerinnen, säch’sche Grazien,
      sitzen bei den Procurazien –
      Wo das blonde Frauenbild
      „Ober! Einen Wääärmuth!“ brüllt.

      Alfred Kerr

      --

      Don't be fooled by the rocks that I got - I'm still, I'm still Jenny from the block
      #8674965  | PERMALINK

      cleetus

      Registriert seit: 29.06.2006

      Beiträge: 17,267

      Norman Douglas – Venus in the kitchen:

      „Der Aal passt hervorragend zum Schwein, denn er ist unter den Fischen, was das Schwein unter den Vierfüsslern ist.“

      „…ein ausgenommenes Spanferkel mit dicken, entgräteten, in Essig gewaschenen Aalstücken, Pfefferkörnern, Gewürznelken und Salbei zu füllen.“

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      Don't be fooled by the rocks that I got - I'm still, I'm still Jenny from the block
      #8674967  | PERMALINK

      hal-croves
      אור

      Registriert seit: 05.09.2012

      Beiträge: 4,617

      Naivität des Bösen

      Weder eine dichte Grenze noch ein hartes Wort der Kanzlerin werden die Flüchtlinge aufhalten

      1. Im Herbst der Illusionen
      Es ändert sich etwas in Flüchtlingsdeutschland. Der Sommer war geprägt von Hilfsbereitschaft und Idealismus, die immensen Probleme, die ein solcher Zustrom von Flüchtlingen unweigerlich bringen würde, wurden erst einmal nach hinten geschoben. Dabei hätte man es von Anfang an wissen können, die Politik hätte es wissen müssen: Flüchtlinge ziehen mehr Flüchtlinge nach sich, unter ihnen sind Islamisten, Terroristen und Kriminelle, nicht alle werden sich den Regeln fügen, die in Deutschland herrschen, es wird zu Engpässen kommen, zu Durcheinander, zu Gewalt. Viele wollten das nicht sehen, jetzt sehen es alle, gut so.
      In diesem Herbst macht sich eine andere Stimmung breit. Doch handelt es sich dabei keineswegs um einen Wechsel von Idealismus zu Realismus, wie viele behaupten, im Gegenteil: Deutschland leidet in der Flüchtlingsfrage unter galoppierendem Realitätsverlust, die Illusionen sind zahlreicher geworden, als sie es im Sommer je waren. Und sie haben ihre Farbe gewechselt, sie tragen jetzt Schwarz: Die Angst davor, dass der Zustrom von jährlich einer Million zu 80 Millionen Deutschland überfordern könnte, bekommt mehr und mehr panische Züge, entsprechend schießen wirklichkeitsfremde Abgrenzungswünsche ins Kraut, Gewaltfantasien gegen Flüchtlinge machen sich breit. Und unter der falschen Fahne der »Realpolitik« wird im Mittleren Osten wieder mehr in Illusionen investiert und mit Bomben außenpolitischer Voodoo betrieben.
      Es wird Zeit, dass Amerikaner und Europäer, dass insbesondere auch die Deutschen sich von ihren Illusionen und Obsessionen befreien und sich ihren Ängsten stellen.

      2. Die Araber wollen ihr Leben nicht mehr vergeuden
      Zunächst mal wird in diesen hektischen Tagen verdrängt, dass es um weit mehr geht als um Flüchtlinge und um Syrien, sondern um einen epochalen Einschnitt, der sich seit zwei Jahrzehnten anbahnt. Jetzt, da Millionen Araber sich hierher aufgemacht haben, lässt sich eines nicht mehr übersehen: Im Mittleren Osten leben nicht etwa Ölquellen, dort leben Menschen. Und diese Menschen haben seit mindestens zwanzig Jahren mehr und mehr die Schnauze voll, sie wollen nicht länger ihr Leben lassen oder vergeuden, nicht in korrupten, heuchlerischen Diktaturen und nicht im Chaos. Das Ende ihrer Geduld hat drei verschiedene Ausdrucksformen angenommen: den islamistischen Terrorismus, den Versuch, in Aufständen die Diktatoren abzuschütteln, und eben die massenhafte Flucht. Selbstverständlich sind diese drei Spielarten von »Es reicht« moralisch unterschiedlich zu bewerten, verleugnen lassen sie sich indes nicht. Darum ist es auch illusorisch, zu glauben, man könnte den Terrorismus ersticken oder den Flüchtlingsstrom stoppen, ohne den Menschen dort die Aussicht auf ein besseres Leben zu eröffnen.
      Jetzt, im Angesicht der Massenflucht, wird auch klar, welchen Nutzen die Diktatoren des Mittleren Ostens für den Westen hatten und größtenteils immer noch haben. Diese Männer bewachen für uns die Ölquellen und halten uns die arabischen sowie afrikanischen Flüchtlinge vom Leib. Sie tun das, was westliche Politiker sich nicht trauen würden, sie schießen Menschen nieder und verschleppen sie in ihre Folterkeller, sie werfen Giftgas und bedrohen die Angehörigen derer, die fliehen. Das allerdings ist funktionierende Abschreckung.

      3. Die schwächliche Idee von den starken Männern
      Natürlich ist die Verführung groß, diesen Schutzwall aus blutrünstigen, scheinstabilen Diktaturen wieder aufrichten zu wollen. Der große Narr der westlichen Höfe, der zurzeit alle peinlichen Wahrheiten des kollektiven Unterbewusstseins ausspricht, Donald Trump also, hat auch dies klar gesagt: Mit Saddam und Gaddafi sind wir besser gefahren. Und Putin, der große Verführer aus dem Osten, singt dasselbe Lied: Kommt, wir zerstören gemeinsam alles, was sich in Syrien zwischen Assad und dem IS gebildet hat, dann stützen wir Assad oder einen seiner Verwandten, anschließend machen wir etwas Ähnliches mit Libyen, und der Flüchtlingsspuk hat ein Ende.
      Das klingt, weil es so brutal und zynisch ist, zunächst mal nach der guten alten, schmutzigen Realpolitik, nur: Nicht alles, was schmutzig ist, ist deswegen schon Realpolitik. Auch die Intervention Russlands wird das Chaos in der Region nur noch vergrößern, schließlich tut Putin nur das, was Amerikaner und Europäer mit viel größerem Mitteleinsatz immer wieder versucht haben: den Mittleren Osten mit Bomben und Gewehren wieder zu einer Region zu machen, aus der nur Öl kommt, nicht aber Terror und Menschen.
      Der Westen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Diktaturen gestützt und sie gestürzt, wenn sie zu viel Terror zuließen, er hat massiv interveniert und es wie in Syrien sein lassen, er hat die einen Islamisten gegen die anderen ausgespielt und die anderen gegen die einen – es hat alles nichts genützt. Auch das Gefuchtel dieser Monate wird schwerlich einen Fortschritt bringen. Beispielsweise auf eine marode extremistische Diktatur wie Saudi-Arabien zu setzen, die ihre äußere Stabilität nur um den Preis noch eine Weile aufrechterhalten kann, dass sie einen Krieg im Jemen führt, islamistische Ideologie exportiert und es offenbar zulässt, dass aus ihrer Mitte heraus die sunnitische Terrormiliz IS subventioniert wird. Auch ob Ägyptens Diktator Al-Sissi erfolgreich den Terrorismus unterdrückt oder ob seine Unterdrückung den Terrorismus vielmehr produziert, das weiß in Wahrheit niemand. An keiner Stelle ist es gelungen, den Teufelskreis aus Diktatur, Terrorismus, Rebellion und Flucht zu durchbrechen.
      Was der Westen da treibt, ist mit wenigen Ausnahmen (wie dem Iran-Abkommen) Voodoo-Außenpolitik. Er reagiert auf die Flüchtlingskrise genauso konfus wie seinerzeit auf den 11. September. Wenn Obama dem türkischen Präsidenten Erdoğan die Hand reicht zum Kampf gegen die Flüchtlingsursache IS, nur damit der anschließend die Kurden bombardiert, die den IS bekämpfen, so zeugt das nicht von Realitätssinn, sondern von Planlosigkeit. Wenn das Ganze dann mit Putin wiederholt wird, der zum Dank die syrischen Rebellen bombardiert, wie soll man das dann nennen? Realpolitik? Panikpolitik!
      Doch auch die westlichen Medien sind mittlerweile von Angst und Wunschdenken befallen. Seriöse Zeitungen titeln dieser Tage, die EU wolle die Ägäis »dichtmachen« und verhandele mit der Türkei, auf dass Ankara den Flüchtlingsstrom »stoppt«. Das sind keine Nachrichten, das ist Science-Fiction. Tatsächlich will Erdoğan allenfalls ein neues Flüchtlingslager bauen lassen, aber nur wenn die EU im Gegenzug 500 000 Flüchtlinge aufnimmt. Nichts ist dicht, nichts wird gestoppt.
      Es geht nur um Verlangsamung und die Rückgewinnung von Kontrolle, das ist gut, ja zwingend, aber es ändert nichts an der Grundrichtung der Geschichte.
      Ohnehin verdankt sich das, was im Mittleren Osten unter westlicher Realpolitik firmiert, im Nachhinein gesehen nur einer militärischen und ökonomischen Übermacht, bei der die eine verfehlte Großstrategie mit großem Tamtam durch die nächste kollabierende Dummheit ersetzt wurde. Aber jetzt sind alle Varianten durch.
      Nur eines haben die USA und Europa mit Arabern und Persern noch nicht probiert: sie zu behandeln wie Menschen. Die Versuche, in Afghanistan und im Irak mit militärischer Gewalt die Demokratie einzuführen, waren nicht mehr als ein Kollateralnutzen eigensüchtiger Interventionen und sind gescheitert. Barack Obamas ergreifender Kairoer Rede an die Muslime im Jahr 2009 folgten keine nachhaltigen Taten.
      Und jetzt machen sich die Menschen dort auf, um die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Verzweiflung und Hoffnung gewissermaßen zu Fuß zu überwinden. Sie treten damit zu uns in eine neue Nachbarschaftlichkeit, sie rücken uns auf den Pelz. Das ist ein epochaler Prozess.
      Und es ist ein Schock.

      4. Hoffentlich ist wenigstens die Kanzlerin schuld
      Niemand hat die Deutschen darauf vorbereitet, dass arabische Aufstände, arabischer Exodus und arabisch-persische Autoaggression zu einem Thema würden, das sie direkt – physisch, mental, finanziell – angeht, dass diese Probleme gewissermaßen zu uns ins Gästezimmer ziehen. Auch logistisch hat sich das Land nicht darauf vorbereitet, obwohl seit Anfang des Jahres klar war, dass sich Größeres anbahnt. Das ist ein schlimmes Versäumnis, auch eines von Angela Merkel. Vorwerfen kann man ihr ebenfalls, dass sie nach der Entscheidung vom 6. September zwar standhaft ihre Sätze wiederholt, aber dem »Wir schaffen das« wenig an Erklärung hinzugefügt hat.
      Nicht zuletzt wegen dieses Vakuums hat das psychologisch geschickte Angebot von Horst Seehofer an den Angsthasen in den Deutschen gefruchtet, das epochale Ereignis zu einem persönlichen Versagen der Kanzlerin umzudefinieren. Schließlich ermöglicht die Fantasie, Mutti habe bloß Mist gebaut, eine noch angenehmere Illusion: Wenn Merkel ihren Kurs korrigiert, dann geht das Problem wieder weg.
      Nüchtern betrachtet hätte wahrscheinlich sogar Seehofer selbst dieselbe Entscheidung getroffen, wenn er, was Gott verhüten möge, Kanzler wäre. Die Kanzlerin jedenfalls hat Anfang September nicht Geschichte gemacht, das haben die Flüchtlinge getan. Sie hat nur Geschichte erkannt, was auch nicht wenig ist.
      Nun kann man lange darüber streiten, wie viele Flüchtlinge weniger nach Deutschland gekommen wären, wenn die Kanzlerin sich ein wenig unfreundlicher gezeigt hätte. Nur, dass sich nun Menschen, die vor Assad oder dem IS weglaufen, die in notdürftigen Massenlagern sitzen und sich vor dem Winter fürchten und die nicht zuletzt von ihren bereits in Deutschland angekommenen Verwandten per Handy um die relativ anständige Behandlung hier wissen, durch ein böses Wort der Kanzlerin in nennenswerter Zahl abschrecken ließen – diese Vorstellung ist naiv, eine Flucht vor der Realität.
      Man muss auch am gesunden machtpolitischen Menschenverstand derer zweifeln, die der Kanzlerin eine »Umkehr« empfehlen, denn egal, wie sie es formuliert, es würde als Resignation empfunden und das baldige Ende ihrer Kanzlerschaft einleiten. Und, was schlimmer ist, sie würde eine Entmutigungsspirale in Gang setzen, bei der am Ende auch deutlich weniger Flüchtlinge als Überlastung empfunden würden.
      Noch etwas zum Realismus: Man kann eine Million Flüchtlinge, die schon hier sind, nicht abschreckend behandeln, um weiteren Zuzug zu entmutigen, und sie zugleich integrieren. Wer abschreckt, schafft unversöhnliche Parallelgesellschaften. Es gibt auch eine Naivität des Bösen.

      5. Zäune und andere Gewaltfantasien
      Viktor Orbán glaubt an Zäune, das kann er auch. Denn der seine hält zurzeit tatsächlich Flüchtlinge ab. Weil die einfach dran vorbeigehen, sie wollten eh nicht zu ihm, sondern nach Österreich, Deutschland oder Schweden. Würden die genannten Länder allerdings ebenfalls Zäune bauen, womöglich sogar höhere als der Ungar, dann würde sein Zaun schneller eingedrückt, als ein Syrer eine SMS schicken kann.
      Es sei denn, die ungarische Regierung würde genügend Soldaten dorthin abkommandieren, die auch bereit wären, von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen. Orbán selbst hat diesen Gedanken schon formuliert. Aber auch die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner drohte bereits ein »strengeres Vorgehen an den Grenzen« an, »das heißt auch mit Gewalteinsatz«. Und in dieser Woche schrieb ein Leitartikler der FAZ, es sei möglich, »dass Europa aus Verzweiflung zur Sicherung seiner Seegrenzen im östlichen Mittelmeer noch zu letzten, militärischen Mitteln greift«. Deutsche Soldaten gegen unbewaffnete Familien aus Syrien? Das eben ist die grausame Wahrheit: Wer eine Mauer nicht zur Kontrolle, sondern zur Abschottung errichtet, der braucht zu der Mauer einen Schießbefehl. Man sieht, wie schnell aus dem Zuviel des Guten ein Zuviel des Bösen werden kann.
      Natürlich, das sind Gewaltfantasien, so wird es kaum kommen, weil die dann entstehenden Bilder die Deutschen mehr überfordern würden als alle überfüllten Turnhallen zusammen.
      Dennoch zeigen diese Albträumereien, wo die Angst landet, wenn der Wirklichkeitssinn verloren geht. Gibt man ihr nach, dann wird die ganze Gesellschaft davon vergiftet. Denn die Fantasie einer dichten Grenze muss diejenigen, die da abgewehrt werden sollen, umdeuten – von Opfern zu Invasoren, von Mitmenschen zu Feinden. Lassen wir auch hier noch mal den Hofnarren die Wahrheit sagen: Die Mexikaner »bringen Drogen. Sie bringen Verbrechen. Sie sind Vergewaltiger.« Das sagt Donald Trump, der aus dem wenig effizienten Zaun an der mexikanischen Grenze eine unüberwindliche Mauer machen will. Starke Mauern brauchen eine starke, aggressive Legende.
      So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht, allerdings hat der überforderte Innenminister jüngst einen Schritt in diese Richtung getan, als er in einem Interview mit dem heute journal einseitig den verwöhnten, gewaltbereiten, Taxi fahrenden Flüchtling an die Wand malte.
      Anders als die blutige Illusion einer dichten Grenze ist der Wunsch nach Kontrolle absolut nachvollziehbar und auch in gewissem Maße realisierbar. Natürlich möchte man wissen, wer da kommt, im Zweifel auch Kriminelle oder Terroristen herausfischen können. Doch wer sich nicht der Gewaltlogik der dichten Grenze hingeben will, der wird rasch sehen: Dichte Grenzen schaffen nicht mehr Kontrolle, sondern weniger, sie treiben die Menschen in die Illegalität. Nur wenn Flüchtlinge mehrheitlich auf eine Willkommenskultur, eine Verwaltung und einen Verteilungsschlüssel treffen, die sie leidlich lebbar finden, werden sie sich auch registrieren lassen.

      6. Ist Deutschland überfordert?
      Weil Europa und Deutschland sich nicht auf die Flüchtlinge vorbereitet haben, fühlt man sich nun allenthalben überfordert. Es gibt bisher keine funktionierende Flüchtlingsinfrastruktur, zu wenige Wohnungen, Sozialarbeiter, Polizisten, Ärzte, Lehrer. Stattdessen werden die Versäumnisse der Politik auf dem Rücken der Freiwilligen, der städtischen Beamten und der Flüchtlinge ausgetragen. Diese reale, politisch verschuldete Überforderung verbindet sich zurzeit mit der apokalyptischen Vorstellung eines unendlichen, nie versiegenden Flüchtlingsstromes. Tatsächlich ist nicht leicht zu sagen, wie viele Menschen noch kommen. Eines jedoch ist gewiss: So viele Fehler wie in diesem Jahr werden wohl kaum noch einmal gemacht. Die EU hat das Problem zunächst brutal verdrängt, der Flüchtlingsgipfel im April erging sich in Symbolhandlungen, viele Syrer verloren derweil jede Hoffnung auf Besserung, und in den jordanischen, libanesischen und türkischen Flüchtlingscamps wurden obendrein die Essensrationen runtergefahren, weil ihnen das Geld ausging; schließlich verwandelte der anschwellende Flüchtlingsstrom die EU binnen weniger Tage in einen unsolidarischen Hühnerhaufen. Schlechter kann man es nicht machen, 2016 kann nur besser werden.
      Ansonsten helfen bei der Frage, wann Überforderung beginnt, am ehesten Vergleiche. Nicht mit Jordanien oder dem Libanon, das sind keine hochkomplexen Industriegesellschaften. Auch der Vergleich mit unserer eigenen Vergangenheit, mit den ersten Nachkriegsjahren trägt nicht ganz, weil die zwölf Millionen Flüchtlinge, die damals binnen kürzester Zeit kamen, auf eine Not gewohnte, geschlagene deutsche Gesellschaft trafen.
      Hilfreicher ist vielleicht der Blick auf das winzige Israel mit seinen sechs Millionen Einwohnern. Die Israelis haben binnen eines Jahrzehnts eine Million russische, ukrainische, georgische und zentralasiatische – also recht kulturfremde – Juden aufgenommen, das sind 14 Prozent. Und Israel hat es verkraftet. Bezogen auf Deutschland, wären das elf Millionen für eine Dekade, also etwas mehr als eine Million pro Jahr. Ist das zu viel für uns? Jedenfalls sollte man nicht schon nach der ersten Million den Notstand ausrufen.

      7. Von wegen moralischer Imperialismus!
      Auch siebzig Jahre nach dem Krieg lässt es sich die politische Klasse in Deutschland nicht nehmen, jedes größere reale Problem zur identitären Selbstbespiegelung zu nutzen. So geschieht es nun auch beim Thema Flüchtlinge. Der erste Anstoß kam von außen, von Viktor Orbán, der den Deutschen »moralischen Imperialismus« vorwarf. Seine Bemerkung wurde von Horst Seehofer sogleich durch ein süffisantes Lächeln ratifiziert und von diversen Intellektuellen, auch von Heinrich August Winkler, aufgegriffen. Orbáns Vorwurf und Winklers Selbstbezichtigung anderer verdrehen grotesk die Tatsachen. Denn in Wirklichkeit haben ja nicht die Deutschen anderen Europäern Flüchtlinge aufgezwungen, vielmehr wurden sie von den meisten europäischen Nachbarn im Stich gelassen. Zudem haben es sich die Deutschen nicht ausgesucht, am Ende der Balkanroute zu liegen, gern hätten sie mit den Franzosen schnell mal die geografische Lage getauscht.
      Aber man fragt sich auch, wo die Vertreter dieser Imperialismus-These während der Griechenlandkrise waren, als die Deutschen von allen Seiten als kaltherzige Fast-Nazis beschimpft wurden, weil sie an ihre Hilfe Bedingungen knüpften. Man mag sich ja gar nicht ausmalen, was passiert wäre, hätten die Deutschen sich seit Anfang September auch nur annähernd ähnlich verhalten wie die Ungarn oder auch bloß wie die Franzosen in Calais. Die Hölle wäre losgebrochen. Ein wenig moralischer zu sein als andere ist darum für Deutsche derzeit schlichtweg ein Gebot politischer Weitsicht, mit Imperialismus hat das nichts, mit Pragmatismus aber sehr viel zu tun.
      Und um es mal deutlich zu sagen: Wie lange wollen ältere Deutsche noch ihre Ticks und Projektionen aus dem vergangenen Jahrhundert an jungen Leuten austoben, die einfach nur auf Bahnhöfen stehen, um zu helfen – weil sie Menschen, nicht weil sie Deutsche sind? Es ist schon ein merkwürdiges christliches Abendland, in dem man sich fürs Helfen pathologisieren lassen muss. Ist nicht vielleicht doch Mitleidlosigkeit eine Krankheit?

      8. Selbstverständlich ist das Abendland in Gefahr
      Auf das Grundgesetz gibt es keinen Rabatt, weder auf das geschriebene noch auf das gelebte, so viel steht fest. Sicher ist außerdem, dass diese scheinbare Selbstverständlichkeit angesichts von mehreren Millionen überwiegend islamisch und patriarchalisch geprägten Flüchtlingen immer neu erkämpft werden muss. Allerdings scheint es eher unwahrscheinlich, dass ein Zwanzigstel oder ein Zehntel der Bevölkerung in der Lage wäre, unsere Kultur genetisch zu verändern. Viel größer ist die Gefahr, dass Deutschland und die EU sich ihren Abgrenzungs- und Gewaltfantasien hingeben. Ein aggressiver Nationalismus ist derzeit auf dem Vormarsch, er kommt von außen, aus Russland oder der Türkei, er dominiert in einigen osteuropäischen Ländern und grassiert bei radikalen linken und rechten Parteien in der gesamten EU. Dies, der aggressive Nationalismus, die Ausgrenzung und innere Deliberalisierung sind die handfesten Bedrohungen des Abendlandes. Denn all das liegt leider tatsächlich in den europäischen Genen.
      In der Flüchtlingskrise schlummert jedoch noch eine tiefere Herausforderung für das Abendland, sei es in seiner christlichen, sei es in seiner säkularisierten Gestalt. Man kann als Katheder-Christ natürlich sagen, dass der Feminismus die Familie gefährde – so lange, bis die eigene Frau einem einen Vogel zeigt; man kann sagen, dass Homosexualität etwas sehr Problematisches sei – so lange, bis der eigene Sohn schwul ist. Man kann auch sagen, diese Muslime da unten in Arabien seien kulturfremd und selbst schuld an ihrem elenden Leben – so lange, bis sie vor der Tür stehen. Christentum ist, was man den Menschen ins Gesicht sagen kann. Die Humanisierung – Christen würden sagen, das Zu-sich-selbst-Finden – des Christentums durch Begegnung erreicht jetzt also eine neue Stufe. Es wird sie erklimmen oder schweren Schaden nehmen. Eine Frage noch an die Christen und die Sozialdemokraten: An die wunderbare Brotvermehrung, daran, dass Liebe und Solidarität Knappheit überwinden können, daran glaubt ihr noch, oder?

      9. Das große Versöhnungswerk
      Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass der Mittlere Osten nicht vorankommt, ist seine ausgeprägte Ausredenkultur. Immer ist der Westen schuld, der Kolonialismus, der Imperialismus, Amerika, Israel, die EU. Das Argument vergiftet die Araber und Perser, lähmt ihren Ehrgeiz, deswegen müsste es dort eigentlich gesetzlich verboten sein.
      Für den Westen hingegen wäre ein Schuldeingeständnis eine Befreiung, weniger eine moralische als eine geistige. Denn es ist ja nicht wahr, was hier gern gedacht wird, dass der Westen dort unten alles versucht habe und denen einfach nicht zu helfen sei. Nein, der Westen hat in einer Mischung aus Nachlässigkeit und Egoismus, aus Blindheit und Arroganz im Mittleren Osten in den letzten hundert Jahren Tausende Fehler gemacht und Verbrechen begangen, bis heute. Noch nie haben Amerikaner und Europäer wirklich Fantasie, Geld und Geduld in die Frage investiert, was sie beitragen können, um einen nachhaltig menschenwürdigen arabischen Raum zu schaffen, das ist jetzt Neuland. Und da die westlichen Demokratien stark sind, intellektuell wie ökonomisch, kann man zuversichtlich sein, dass ihnen zu dem Thema spätestens ab der dritten Flüchtlingsmillion etwas Gescheites einfällt.
      Immerhin hat nun das bisher größte Versöhnungswerk zwischen Christen und Muslimen begonnen, mithin zwischen Abend- und Morgenland, denn genau das ist, richtig besehen, die Aufnahme von Millionen Muslimen, die in Not geraten sind. Vielleicht, hoffentlich ein Neuanfang von historischem Rang.
      Und sonst? Die Staaten, die sich Briten, Franzosen und Amerikaner für den Mittleren Osten zurechtgeschnitten haben, sind so nur durch eine eiserne Faust zusammenzuhalten, Syrien und der Irak womöglich nicht einmal mehr dadurch. Es wäre also gut, über einen föderalen Mittleren Osten nachzudenken.
      Aber das ist nur ein Beispiel. Zunächst einmal kommt es darauf an, dass der Westen endlich realistisch wird, sich von seinen Beengungen und Besessenheiten befreit. Denn: »Eine Grenze erkennen heißt sie überschreiten« (frei nach Baruch de Spinoza).

      VON BERND ULRICH
      (aus: DIE ZEIT Nr. 41, 08.10.2015)

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      "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
      #8674969  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

      Registriert seit: 01.01.1970

      Beiträge: 0

      1. Don’t back down
      2. Brillanter und luzider Artikel
      3. Das ist erst der Anfang
      4. Ich bin froh, dass hierzulande A. Merkel am Ruder steht
      5. O tempora, o mores

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      #8674971  | PERMALINK

      Anonym
      Inaktiv

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      #8674973  | PERMALINK

      hal-croves
      אור

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      Beiträge: 4,617

      linn1. Don’t back down
      2. Brillanter und luzider Artikel
      3. Das ist erst der Anfang
      4. Ich bin froh, dass hierzulande A. Merkel am Ruder steht
      5. O tempora, o mores

      1. Wie lieb. Ich überleg’s mir.
      2. Die ZEIT ist meistens ein onkelhaftes Ärgernis, andererseits aber das einzige große deutsche Periodikum, das manchmal (wenn auch selten) brillante und luzide Artikel bietet.
      3. Allerdings.
      4. Ich auch. Mit oder ohne Nobelpreis.
      5. Interessante Zeiten, fürwahr.

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      "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
      #8674975  | PERMALINK

      hal-croves
      אור

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      Beiträge: 4,617

      Uns macht man nichts weis

      »(Cook ist da – kein Aprilscherz!) Man schreibt aus Saarbrücken vom 1. April: Der Nordpolfahrer Cook, der heute abend auf seiner deutschen Vortragstournee auch unsere Stadt beglückte und einen Lichtbildervortrag radebrechte, wurde dabei von einem tragikomischen Mißgeschick verfolgt. Trotzdem unser Publikum nicht wenig sensationslüstern ist, stellten sich doch nur etwa fünfzig Personen zum Vortrage ein. Es hatte sich nämlich herumgesprochen, die Ankündigung Cooks sei ein Aprilscherz und auf den wollte niemand hineinfallen.«
      Der Kulturforscher wird gut tun, diese Notiz unmittelbar an den Bericht über das Bankett der geographischen Gesellschaft in Kopenhagen anzuschließen. Daß er vom Nordpol komme, haben ihm die Fachleute geglaubt. Daß er in Saarbrücken angelangt sei, hielten die Laien für ganz unwahrscheinlich. Als er zum erstenmal vom Nordpol erzählte, hieß es in der Welt nicht: Wiewohl unser Publikum nicht wenig sensationslüstern ist, stellten sich doch nur etwa fünfzig Personen ein, weil niemand hineinfallen wollte. Mit der Flucht der Saarbrückener, die man in einer Denkmünze festhalten müßte, endet der Siegeszug des Fortschritts. Die Vertrottelung ist nicht mehr aufzuhalten. Jetzt sind sie sogar schon gescheit! Wenn Herr Cook, dieses arme Opfer der Leute, die ihm aufgesessen sind, sich einmal eine Zigarre anzündet, werden sie sagen: Es brennt nicht! Und wenn er verhungert, werden sich Publikum und Presse darin einigen, daß sie auf den Aprilscherz nicht hineinfallen. Die Notiz selbst könnte ein Aprilscherz sein: dann ist sie dreifacher Betrug der Welt und bezeichnet umso besser einen Geisteszustand, den man ausrechnen kann, wenn man die Dummheit zur Kubikzahl erhebt.

      (Die Fackel: Nr. 347-348, 27.04.1912, S. 53-54)

      --

      "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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      hal-croves
      אור

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      linn4. Ich bin froh, dass hierzulande A. Merkel am Ruder steht

      Merkel polarisiert Deutschland in Weltbürger und Provinzler. Die Weltbürger wissen, dass Merkel – trotz einiger Fehler bzgl. mangelnder Antizipation notwendigen Handelns – selbstverständlich auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Die Provinzler wissen, dass Mutti versagt hat und das Vaterland verrät. In dieser Hinsicht gleicht Merkel Willy Brandt.

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      "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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      hal-croves
      אור

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      Sie wollen die Wahrheit wissen? Lesen Sie diesen Artikel!

      Ständig wird man belogen, betrogen und ausgenutzt. Dagegen helfen nur Anti-Lügen-Bücher. Oder? Von Jan Grossarth

      Auf der Frankfurter Buchmesse, in der Halle 3.0, wurde der Literaturkritiker Denis Scheck interviewt, und er sagte auch: „Es ist nicht wahr, dass Lesen immer schlau macht. Man kann sich auch dumm lesen. Schauen Sie sich nur einmal in dieser Halle bei den Verlagen genau um.“ Das Publikum lachte.

      Sagte er die Wahrheit? Die größte Verlagsgruppe, Random House, hatte ihren Stand ganz in der Nähe. Da konnte man ja mal nachsehen. Es gab dort Bücher, die klug klingen („Chassidismus III“ von Martin Buber) und weniger („Die Erzengel – deine mächtigen Helfer“). Manche Titel waren nichtssagend („Wasser“), andere ganz schön blöd („Wie Sie unvermeidlich glücklich werden“). Denis Scheck hatte natürlich recht, so wie man fast immer recht hat mit Relativierungen. Doch am riesigen Stand von Random House fiel noch etwas auf: Viele neue Bücher handelten von der Lüge. Und das ist nicht irgendein Thema. Sondern ein hochaktuell politisches und zugleich uraltes. Dass jemand lüge, ist ein Totschlagargument, und weil Lügen so unmoralisch ist, verbindet es die Politik mit den menschlichen Abgründen. Außerdem wurden schon oft Lügen unterstellt, wo letztlich gar keine waren.

      Eines der politischen Bücher steht aktuell auf der Bestsellerliste. Es ist „Die Freihandels-Lüge“ von Thilo Bode. Ob am Wochenende 150 000 Menschen in Berlin gegen das Freihandelsabkommen mit Amerika demonstriert hätten, gäbe es die Semantik der Lüge nicht, sondern nur die vielen Fakten und Wenns und Abers? TTIP bringe nicht so viel, wie Industrie und Politiker versprechen, argumentiert Bode darin ganz fair und sauber. Doch der Titel sagt mehr: Wir werden belogen.

      Dieser Buchtitel ist unglaublich häufig. Der Mediziner Michael Nehls hat ein neues Buch geschrieben: „Die Alzheimer-Lüge“. Darin erfährt man, dass Alzheimer nicht einfach so kommt, sondern durch Faktoren ausgelöst werde, die teilweise durch unsere Lebensweise beeinflusst seien. Aus der Verlagsvorschau: „Eine bahnbrechende Erkenntnis, die unser Leben nachhaltig beeinflussen wird.“

      Der Wunsch nach Erkenntnis ist erfreulicherweise groß. Und das nicht erst seit dem Herbst 2015. Hans-Josef Susenburger, ein Archivar der F.A.Z., findet schnell diverse Buchtitel mit „Lüge“. In den vergangenen Jahren gab es da etwa: Die Inflationslüge, Pensionslüge, Schöpfungslüge, Vorsorgelüge, Weiterbildungslüge, Joghurtlüge, Reformlüge, Soziallüge, Glückslüge, Geschlechterlüge, ADHS-Lüge, Supermarktlüge, Cholesterinlüge, CIA-Lüge, Methusalemlüge, All-inclusive-Lüge, Burnoutlüge, Reformlüge, Patchworklüge, Talentlüge, Mondlüge, Atomlüge, Ökolüge, Tetanuslüge, Pharmalüge, Virenlüge und den Klassiker des Journalisten Udo Ulfkotte, der Pegida Futter für ihr Bild von „der Presse“ gab: „So lügen Journalisten“.

      Das hat was.

      Was fällt auf? Zum Beispiel, dass die Lügen, von denen wir erfahren dürfen, oft entweder mit unserem Körper zu tun haben, den politischen Realitäten oder mit Gott. Die Lügen der Ernährungs- und Pharmaindustrie, der Finanz- und Wirtschaftseliten und der Theologen kommen relativ häufig vor. Dabei wurde es von Moses gerade den Theologen verboten zu lügen (zum achten Gebot gehört auch dazu, dass man nicht Vorurteile bemühen sollte, Klischees, nicht anderen schmeicheln soll, et cetera). Die Moses-Lüge? Letztlich aber war es ein Theologe, der mit diesen Büchern überhaupt angefangen hat. Martin Luther schrieb 1543 den Longseller: „Von den Juden und ihren Lügen“ (Verlag Hans Lufft).

      Zurück zur diesjährigen Buchmesse. Der Verlag Pantheon geht mit „Die Alles-ist-möglich-Lüge“ ins Rennen. Nicht alles gleichzeitig sei möglich, lautet grob vereinfacht die These. Man muss sich entscheiden. Diejenigen, die behaupten, alles sei möglich, seien einer Lüge aufgesessen. Auch die Esoteriksparte von Random House befasst sich in diesem Herbst auffallend oft mit der Lüge. In den Vorschauen geht es um die „Milch-Lüge“ (doch nicht so gesund, wie lange gedacht, teils ungesund, nicht so viel trinken, die modernen Kühe leiden) – und einmal auch um die Lüge an sich. Vielleicht liefert dieses Buch eine Erklärung, warum so viele Bücher von der Lüge handeln: Bar Stenvik, „Blöff“ (Riemann). Das Buch wird so beworben: „Bar Stenvik zeigt, wie unser Wunsch nach Wahrheit und Authentizität geradezu einen Markt für ständig neue Bluffs schafft: Was ist echt, was ist Täuschung?“ Er meint, dass es unser Wunsch nach Wahrheit sei, der den Markt für Blöffs eröffne.

      In diesen Tagen erscheint im Verlag Ludwig „Die Mutterglück-Lüge“ von Sarah Fischer. Darin verrät sie, dass sie eigentlich lieber ein Vater geworden wäre und mit dem Begriff des Mutterglücks hadert. „Die Fleiß-Lüge. Warum Frauen im Hamsterrad landen und Männer im Vorstand“ ist hingegen der Titel des neuen Werks von Brigitte Witzer im Verlag Ariston. Darin ist zu erfahren, dass auch das Glück der arbeitenden Frau begrenzt ist. Verlagswerbung: „Ein Augenöffner!“

      Bei so vielen Augenöffnern kann es einem ganz hell im Kopf werden: Es ist nicht alles gleichzeitig möglich, arbeiten ist besser als Hausfrau sein, aber zu viel Fleiß im Office führt auch ins Unglück. Das nannte Hegel Dialektik. So werden am Ende der Zeiten alle Lügen einander aufgehoben haben. Ein Beispiel für eine diskursiv-dialektische Spirale, die zu höherer Einsicht führt, liefert das bald auch bei Ludwig erscheinende Werk von Detlef Brendel und Sven-David Müller: „Die Zucker-Lüge. Wie das Lebensmittel-Kartell uns einredet, dass Essen krank macht.“ Man denkt: Da geht es um die Zuckerindustrie. Aber die Erwartung löst sich schon im Klappentext dialektisch auf. Es geht gegen die Anti-Zucker-Hysteriker. Hatten also erst kürzlich aufsehenerregende Sachbücher wie „Zucker – der heimliche Killer“ (GU) und „Zuckerfrei glücklich in 8 Wochen“ (Goldmann) oder „Warum der Zucker uns umbringt“ (Systemed) oder Hans-Ulrich Grimms „Warum die Zucker-Mafia uns krank macht“ in die Kerbe geschlagen, dass uns die perfide Zuckerindustrie arg kränke, so werden in diesem Buch die Lebensmittelratgeber selbst zu Lügnern. Verlagswerbung: „Keine Angst vor den Angstmachern“.

      Das ist klug gesagt. Apropos Zucker-Mafia: Der Titel führt zu einem weiteren Feld ertragreicher Titel-Schemata. Wir fragten das Archiv auch nach solchen Büchern, die mit „Wahn“ oder „Mafia“ titeln. Susenburger fand zahlreiche, und auch wieder eine dialektische Fülle von Diagnosen des Irrsinns. Der Gotteswahn und Atheismuswahn, Sojawahn und vegetarische Wahn, Hexenwahn und Wahn der Freiheit, Gender-Wahn, Wachstums- und Akademisierungswahn. Auch zum Suchwort Mafia findet Susenburger vieles: Spendenmafia, Gesundheitsmafia, Food-Mafia, Fleischmafia.

      Was bedeutet das? Ein Kenner der Branche sagte: „Ach, wir machen das nicht zum Spaß. Es führt zu guten Verkäufen.“ Was er dann sagte, könnte man sinngemäß so zusammenfassen: Trends und Themen nutzen sich ab, aber niemals die Faszination einer bösen Macht, von der sich die Menschen bedroht fühlen, die sie deshalb auch gern fassen und erkennen wollen, aber nicht so, wie sie sich im wahren Leben zeigt, denn das macht ihnen Angst, sondern stilisiert in Miniaturform; das Böse muss reduziert werden wie eine Weintraube zu einer Rosine, aber zugleich muss die Form geglättet werden, die Schatten und Dellen retuschiert, damit es einfacher zu erkennen ist, und diese Miniaturen des Bösen müssen dann auch noch so dargestellt werden, dass sie letztlich doch viel größer als eine Rosine aussehen, eher so groß wie eine Wolke, aber doch nicht so groß wie das Böse.

      Hatte damit nun Bar Stenvik recht? Zur Erinnerung: Das ist der Autor von „Blöff – Die geheime Mechanik der Lüge“, dessen These lautet, dass „unser Wunsch nach Wahrheit und Authentizität geradezu einen Markt für ständig neue Bluffs schafft“. Unser Wunsch nach sogenannter Wahrheit und Authentizität schafft zunächst einen Markt für ständig neue Hochstapler. Auch auf der Buchmesse wurden einige gesehen. Es geht ja auch nicht um die Buchverlage, sondern um den Leser. Der wünscht sich Bücher, nach deren Lektüre er sich authentischer und wahrhaftiger fühlt. So gesehen, hat Stenvik recht. Vielleicht sind es aber auch einfach nur Krimis.

      Dass die Lügen-Bücher überwiegend von unseren Körpern (Ernährung, Gesundheit, Medizin) handeln oder von Gott oder vom Geld und der Finanzwelt – was hat das zu bedeuten? „Ich weiß es nicht“, sagte ein Branchenkenner. Klar ist, dass es viele Enttäuschungen mit dem eigenen Körper, Gott und dem Geld gibt. Klischees heilen; der Kitsch ist eine süße Medizin, die glücklich macht. Die Nebenwirkung ist aber, dass man davon dement wird. Jedenfalls mit gewisser Wahrscheinlichkeit.

      (aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.10.2015)

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      hal-croves
      אור

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      Ein gut aufklärerisches Stück über die Meinungsfreiheit:

      http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/unsere-grosse-gereiztheit-wo-liegen-die-grenzen-der-meinungsfreiheit-13877696-p2.html?printPagedArticle=true

      tl;dr: Inhaltliche Auseinandersetzung ist ein Dienst an Meinungsfreiheit und pluralistischer Demokratie, idiosynkratische Abwehr von schlechten Meinungen ein Bärendienst.

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      hal-croves
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      Abhängen!

      Von Peter Richter

      Peter Richter ist Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York.

      Diesen Montag standen sie in Chicago vorm Art Institute. Vergangene Woche war das Metropolitan Museum in New York dran, davor das Kunstmuseum von Boston, und auf ihren Schildern steht in jeder Stadt das Gleiche: „Renoir sucks“, „ReNOir“ oder „God Hates Renoir“. In New York immerhin hatten sich ihnen auch ein paar Verteidiger des französischen Impressionisten entgegengestellt. Auf deren Schildern stand dann sinngemäß: Ihr könnt die Renoirs von den Wänden holen, aber nur über unsere Leichen.

      Lustig? Sicher – wenn man zum ersten Mal davon hört. Seit das Renoir-Bashing aber zum schmunzeligen Dauerthema geworden ist, ist die Sache erstens ein bisschen lästig und zweitens komplexer, als sie auf den ersten Blick aussieht. Es ist schon schwer genug zu sagen, wo das Phänomen eigentlich am greifbarsten ist, im Internet, auf der Straße, im Museum oder in den traditionellen Medien. Angefangen hat es mit einem Instagram-Account, der unter dem Stichwort „#RenoirSucksAtPainting“ – prüde übersetzt: Pierre-Auguste Renoir konnte wirklich nicht malen – höhnisch kommentierte Belegbilder für diese These auflistete. Initiiert war das von einem gewissen Max Geller, einem jungen Mann aus Brooklyn, der dank seines Hipstervollbärtchens bezeichnenderweise exakt so aussieht wie, tja: der späte Renoir. Er hat auf Twitter, Stand Dienstag, eine vergleichsweise schüttere Follower-Zahl von 260. Das sind immerhin mehr als die 15 Leute, die im April die Petition unterzeichnet haben, mit der Geller auf der Website des Weißen Hauses Präsident Obama aufforderte, „all die buchstäblich grauenerregenden Renoir-Gemälde, die in der National Gallery von Washington hängen, entfernen zu lassen“. Und auf Instagram hat er schon beinahe 3000 Sympathisanten. Aber das sind alles nicht die Art von Zahlen, mit denen man es als virale Sensation auf den Radar von Zeitungen und Magazinen schafft. Dazu mussten Geller und ein halbes Dutzend Gleichgesinnte erst vor die Museen ziehen. Aber auch die sogenannten Flashmobs, an die diese Aktionen denken lassen, lebten immer von wesentlich größeren Teilnehmerzahlen. In den Touristenmassen vor dem Metropolitan Museum gehen sechs Leute mit Anti-Renoir-Schildern unter.

      Es waren schon eher die klassischen Zeitungen und Radiostationen, die das Thema zum Thema machten. Und was Geller denen in die Mikrofone diktierte, klang zunächst einmal eher nach gut gelaunter Krawallmacherei als nach besonders tiefen Reflexionen: Renoir sei „der überbewertetste Künstler östlich, westlich, nördlich und südlich der Seine“, Bäume seien bei ihm eine „Ansammlung von widerwärtigem grünen Geschnörkel“, Augen „wie mit dem Edding gemalt“, seine Kunst sei „öde, albtraumhaft und angefüllt mit Kadavern, fahler Haut und Chauvinismus“ sowie natürlich „süßlich“, in den Museen befänden sich bereits genug „tote, weiße Männer mit ihrem männlichen Blick, da brauchst du nicht noch die abseitige, feige Mittelmäßigkeit von Renoir.“ Und so weiter. Als eine Nachfahrin des geschmähten Malers auf Gellers Instagram-Seite anmerkte, dass der freie Markt da aber etwas anderes sage (für Renoirs werden zweistellige Millionensummen gezahlt), bellte Geller entrüstetet zurück, der freie Markt sage gar nichts über Qualität, der freie Markt habe außer Renoir auch den Klimawandel hervorgebracht. In einem Radiointerview wiederholte er dieses Argument gegen den Markt am Montag noch einmal und ergänzte es kurzerhand noch um den militärisch-industriellen Komplex und den Zionismus.

      In den Museen werden solche Ausfälligkeiten offensichtlich als „pranks“ betrachtet, nicht ernsthaft ernst zu nehmende Bubenstreiche; es lässt sich da jedenfalls niemand herab, auf Presseanfragen hin Kommentare dazu abzugeben. Aber die Presse kommentiert, und im Idealfall kommentiert die Presse auch noch die Pressekommentare: Auf der Website des Atlantic Monthly stellt Kriston Capps fest, dass fast alle Gellers Benehmen pubertär finden, aber kaum jemand Renoir wirklich in Schutz nehmen mag. Den meisten kämen die Gemälde Renoirs nämlich selber recht zuckerwattig vor, und bestenfalls erklärt Peter Schjeldahl im New Yorker altväterlich, dass sich die ihm aus seiner eigenen Jugend vertraute Phase des Renoir-Hassens wieder lege, wenn man im Alter keine Furcht mehr habe, ähnliche Dinge hübsch zu finden wie die eigene Oma. Die Schlussfolgerung des Atlantic Monthly: Absolut jeder hasse heimlich Renoir, und zwar immer schon. Und außerdem treffe es nicht den Falschen, denn Renoir habe nicht nur in der Dreyfus-Affäre auf Seiten der Antisemiten gestanden.

      Wenn man nun in dritter Potenz auch diese Reaktion auf die Reaktionen zu kommentieren hat, dann kommt man an der Einsicht nicht vorbei, dass Geller mit seiner Gaudi-Kampagne ein paar neuralgische Punkte berührt. Sie ist sowohl eine Referenz an die Bilderstürmerei der klassischen Avantgarde-Bewegungen als auch an den radikalen Jargon auf dem Universitäts-Campus von heute. Sie erinnert daran, dass Geschmacksurteile grundsätzlich etwas Apodiktisches haben und im Notfall aber oft auch moralisch munitioniert werden können. Sie stellt damit vor allem die Frage, wie sich ein Geschmackswandel eigentlich sonst artikuliert und schließlich an Museumswänden niederschlägt. Denn dass Museen nicht nur Geschmack bilden, sondern darauf auch reagieren, zeigt die Geschichte ihrer Neusortierungen. Museen dürfen sich, wie es aussieht, tatsächlich darauf gefasst machen, dass da in Zukunft einiges an plebiszitärem Eingriffsverlangen in ihre Kanonisierungshoheit auf sie zukommt – mit geschmäcklerischen oder handfest moralischen, politischen, feministischen Argumenten. Das betrifft dann aber nicht nur diejenigen, die Bilder von Renoir hängen haben. Und das sind schon eine ganze Menge.

      (aus: Süddeutsche Zeitung, 28.10.2015)

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      "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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