Pop Crimes: Jan Lustiger denkt laut über Platten nach.

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    jan-lustiger

    Registriert seit: 24.08.2008

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    St. Vincent – Strange Mercy [2011]

    Inmitten einer Menschenmenge steht ein hübsches, schüchternes Mädchen und spielt Gitarre. Sie ist eine äußerst versierte Gitarristin, flink und punktgenau, alle sind begeistert. Doch auf einmal nimmt sie das Instrument in beide Hände, mit einem Lächeln auf den Lippen zerschlägt sie die Gitarre. Geschockt stehen die Zuschauer um sie herum, einige überlegen, ob das jetzt eine Hommage an Pete Townshend war oder die Gitarristin Aggressionsprobleme hat. Beides ist falsch. Es ist einfach ihre Art, mit dem Instrument umzugehen. Und warum sich auf versiertes Gitarrenspiel beschränken, wenn man auf andere Art so viel mehr Emotionen aus dem Ding herausholen kann?

    Nun ist diese Allegorie etwas gewagt, weil das Zerschlagen einer Gitarre ein uraltes Rock-Klischee ist und Klischee das letzte, was eine St. Vincent-Platte ausmacht. Konzentrieren wir uns darum auf das, was es ist, wenn man diese Vorbelastung außen vor lässt: die Zelebrierung von Destruktion. Und an eben der hat St. Vincent alias Annie Clark größten Spaß, ebenso wie an der Konstruktion dessen, was sie zerstört.

    Surgeon (live)

    Das Spiel mit der Schönheit und der Zerschlagung derselben hat die New Yorkerin im Laufe ihrer drei LPs immer weiter auf die Spitze getrieben. Waren diese beiden Lager auf dem Vorgänger Actor zwar auch bereits aufreibend gegeneinander ausgespielt, so blieben sie doch nahe genug beieinander, um eine Einheit zu bilden: Die Schönheit ist von Anfang an bereits seltsam genug, um nicht allzu stark aus ihrem Element geworfen zu werden, wenn die Destruktion einsetzt, während letztere sich näher an den Vorgaben ersterer orientiert. Das Ergebnis sind Tracks, die von unkonventioneller Homogenität geprägt sind.

    Strange Mercy hingegen begeht den Bruch konsequent, sodass die beiden Konterparts sich vordergründig sehr viel mehr Entfaltungsraum lassen. Das Ergebnis ist eine größere Distanz, die den Aufprall umso brutaler werden lässt. Annie Clark ist eine Architektin, die damit begonnen hat, schräge Häuser zu bauen und in diese von Anfang an Lücken einzupflegen, bis sie aufgrund dieser Mängel in sich zusammenstürzen. Auf Strange Mercy baut sie glorreiche Paläste, um sie danach mit Genuss wieder einzureißen.

    Am Konstruktionsvorgang dieser Paläste lässt sie den Hörer teilhaben. Viele Tracks beginnen fragmentarisch, etablieren ein Kernthema, auf das im weiteren Verlauf aufgebaut wird, textlich wie musikalisch. Während seiner Repetition, einem der grundlegendsten Stilmittel des Pop, wird es weiter ausgebaut, bis eine gefüllte Fläche steht, die oft genug später zur Angriffsfläche wird. Sind die Fragmente erst einmal stark genug ausgebaut, um auf eigenen Füßen stehen zu können, kommt schon die Abrissbirne. Etwa in Form eines bereits bekannten Themas – oft ist es das Leitmotiv –, das immer weiter alteriert und entfremdet wird. Ein fester Bestandteil, der sich verformt, bis er dem Gesamtkonstrukt plötzlich zum Verhängnis wird. As intended by its constructor.

    Northern Lights

    Dieser in seiner Analyse viel über die Herangehensweise der Künstlerin aussagende Trick ist nicht der einzige, den Annie Clark in ihrem Spiel mit Pop und Selbstsabotage auffährt. Die Mischung aus häufig bis ins Unkenntliche entstellten Gitarren-Riffs, wummernden, elektronischen Bässen und Noise-Collagen ist für sich genommen schon eine eigene Hausnummer. Annie Clarks Gesang spielt in dieser Mischung eine besonders interessante Rolle: Ihre Stimme ist nicht besonders gewöhnungsbedürftig, eher noch als lieblich zu beschreiben. Das kann sie einerseits nutzen, um auf den oben beschriebenen Brucheffekt hinzuarbeiten. Kommt der Bruch allerdings, wechselt der Gesang seine Funktion, ohne sich selbst zu verändern. Statt sich etwa vom Chaos treiben zu lassen, bleibt Clark weiter bei ihrer Melodieverliebtheit. Dadurch wirkt sie erst richtig verrückt, denn mit dem Lärm mitzuschreien, das wäre ja die logischere Reaktion.

    Und dann sind da noch die Momente, in denen der „Weird Pop“ von St. Vincent einem seiner beiden Bestandteile – dem „weird“ oder dem „Pop“ – mehr Raum zugesteht. Der Opener Chloe in the Afternoon etwa (titelgebend ist hier der Éric Rohmer-Film Love in the Afternoon von 1972) grüßt mit einem leisen Säuseln, das sofort von einer dissonanten Gitarre zerrissen wird. Dieser Grundtenor bleibt dem Stück erhalten. Cruel hingegen ist ein catchy Pop-Song, dem durch ungewöhnliche Sounds die Unschuld genommen wird, die im Text ohnehin einen fragwürdigen Platz einnimmt („Forgive the kids / for they don’t know how to live“).

    Cruel

    In ihren Lyrics besucht Clark Charaktere, deren Leben eine Wendung abseits der offenen Norm genommen hat oder unmittelbar davor steht, das zu tun, und spielt mit ihren Ängsten. Da wäre der Freier aus Chloe in the Afternoon, der seine Nachmittage einer Domina schenkt, oder die alleinerziehende Mutter, die in Strange Mercy ihren Sohn im Gefängnis besucht – eine Geschichte, die dadurch dass sie aus dem streng subjektiven Blickwinkel der Mutter erzählt wird, die gängige Gut-und-Böse-Betrachtungsweise verwischt („If I ever meet / the dirty policeman / who roughed you up / No, I don’t know what“) –, während der angesichts der Finanzkrise in Furcht vor Existenzzusammenbruch lebende Kapitalist in Year of the Tiger sein Leid klagt („My kingdom for a cup of coffee / living in fear in the year of the tiger“).

    Feministische Untertöne tragen einige der Stücke, etwa Dilettante („Oh Elijah / don’t make me wait / What is so pressing? / You can’t undress me anyway“) oder noch deutlicher Cheerleader (“I’ve seen America with no clothes on / but I don’t wanna be a cheerleader no more”), von dem Clark sagte: „It speaks to not wanting to be an idle object anymore. It’s about taking control of your own life and not kowtowing to the desire of others”. Dementsprechend wird das “I” des Refrains durch stampfende Betonung mit einem Ausrufezeichen versehen.

    Cheerleader

    Annie Clark ist nicht greifbar. Es ist unmöglich, sie oder ihre Musik zu vereinfachen, indem man sie auf ein Klischee beschränkt. Sie ist eben nicht nur der großäugige Schöngeist mit Sinn für hinreißende Ästhetik (kann sie aber) oder ein auf die Barrikaden gehendes Riot Grrrl (kann sie auch). Sie ist die Summe ihrer Teile. Es ist nicht möglich, eines dieser Teile einfach wegzulassen, weil ihre Grenzen dazu zu verschwommen sind. Und mit den Stilmitteln des Pop ein Gesamtbild zu erschaffen, dass sich nicht auf eine Hauptkomponente herunterbrechen lässt, ist ihre größte Stärke.

    Im fast schon balladesken Champagne Year beschreibt St. Vincent ihre Neujahrsmelancholie: „I make a living telling people what they want to hear / But I tell ya it’s gonna be a champagne year”. Es muss eben nicht immer so ausgehen, wie es am Anfang scheint – und am Horizont macht sich bereits die Abrissbirne bemerkbar.

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    Highlights von Rolling-Stone.de
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      #8636789  | PERMALINK

      mikko
      Moderator
      Moderator / Juontaja

      Registriert seit: 15.02.2004

      Beiträge: 34,399

      Erstaunlich!

      Die Videos gefallen mir allerdings meist besser als die Musik.

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      Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
      #8636791  | PERMALINK

      rob-fleming

      Registriert seit: 08.12.2008

      Beiträge: 12,838

      Als bekennender Verehrer von St. Vincent freut es mich natürlich ganz besonders, dass deine Wahl diesmal auf Strange Mercy gefallen ist, Jan.
      Für mich zählt Annie Clark schon seit Marry Me (2007) zu den interessantesten jungen Künstlerinnen überhaupt und für vieles, was ihre Musik für mich so spannend macht hast du genau die richtigen Worte gefunden.
      Bleibt nur zu wünschen, dass dein Text noch ein paar mehr Leute auf diese tolle Musikerin aufmerksam macht. Verdient hätte sie es.

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      Living Well Is The Best Revenge.
      #8636793  | PERMALINK

      foe

      Registriert seit: 16.11.2007

      Beiträge: 4,790

      Danke für den schönen, detaillierten Text zu dem tollen St. Vincent Album, Jan. Ich kann mich da nur Rob Fleming anschließen, du hast für vieles die richtigen Worte gefunden und mir dazu aufgezeigt, dass ich mich ab und zu ruhig auch mal etwas ausführlicher mit den Lyrics eines Albums / eines Künstlers beschäftigen dürfte.

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      #8636795  | PERMALINK

      jan-lustiger

      Registriert seit: 24.08.2008

      Beiträge: 10,955

      Stars – Your Ex-Lover Is Dead [Single, 2005]

      In Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (deutscher Titel: Vergiss mein nicht) ist der Menschheit die Möglichkeit gegeben, Erinnerungen durch eine medizinische Prozedur aus dem Gedächtnis löschen zu lassen. Im Mittelpunkt stehen Clementine und Joel, ein Ex-Pärchen, das sich voneinander getrennt dieser Prozedur unterzieht. Der Auslöschungsprozess von Joels Erinnerungen macht den Hauptteil des Films aus: Wir sehen, was in seinem Kopf vor sich geht, während eine nach der anderen verschwindet, bis sein Unterbewusstsein sich dagegen sträubt und er sich der zentralen Frage stellen muss: Welchen Wert hat etwas, das vorbei ist?

      In Your Ex-Lover Is Dead, der zweiten Single aus dem Album Set Yourself on Fire nach dem bezaubernden Ageless Beauty, trifft sich ein ebenfalls getrenntes Paar zum ersten Mal seit einer langen Zeit und zufällig („introduced by the friend of a friend“) wieder. Auch sie sehen sich unmittelbar mit ihrer (gemeinsamen) Vergangenheit konfrontiert. Die Parallele zum – im gleichen Jahr wie das Album, jedoch ein Jahr vor der Single – erschienenen Gondry-Film ist offensichtlich. So offensichtlich sogar, dass sich das dazugehörige Video bei der Filmposter und DVD-Cover schmückenden Eisszene bedient.

      Your Ex-Lover Is Dead

      Your Ex-Lover Is Dead ist ein recht ungewöhnlicher Track, nicht nur für die eigentlich mehr dem Electropop zugewandten Stars. Er hat keinen Refrain, baut mehrmals Spannung auf, um darauf Stille folgen zu lassen und besteht im Prinzip aus: Intro, Strophe 1, Strophe 2, ruhige Bridge, laute Bridge, Outro. Dennoch ist er einer der beliebtesten Titel der Band und hat es sogar zu einem Auftritt in der Teenie-Serie O.C., California gebracht.

      Nicht ganz unschuldig an dieser Popularität ist mit Sicherheit seine Thematik und aber vor allem die ungewöhnliche Herangehensweise an diese. Trennungen gehören zu den meistbesungenen Themen im Pop. Sie bieten viel Stoff für die identifikationsstiftende Drameninszenierung, von der er so gerne zehrt, und damit die Möglichkeit, die Emotionen hochkochen zu lassen. Und genau das passiert in Your Ex-Lover Is Dead eben nicht.

      Stars machen hier Gebrauch von beiden ihren Sängern, Torquil Campbell und Amy Millan. Die erste Strophe singt Campbell, die zweite Millan. Beide sind emotional so weit voneinander entfernt, dass das erneute Aufeinandertreffen keine alten Wunden aufreißt oder vergessene Gefühle wieder aufblühen lässt. Stattdessen stehen sich beide schweigend gegenüber, in Verwunderung darüber, wie wenig sie dem Menschen, der vor langer Zeit eine so wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt hat, zu sagen haben. Eine äußere Handlung, die über das unerwartete Treffen hinausgeht, gibt es nicht. Der Rest der Geschichte wird durch den inneren Dialog der beiden erzählt.

      Da stellt der Ex-Freund fest, dass seine Schweigsamkeit wohl als Trauer fehlinterpretiert werden wird („And all of that time you thought I was sad / I was trying to remember your name“), während sie keinen Platz für das findet, was sie fehlerhaft für seine späte Reue hält, weil sie längst gefunden hat, was er ihr nicht geben konnte („I’ll write you a postcard, I’ll send you the news / from the house down the road from real love“). Ein kleiner Rest der aus der Trennung resultierenden Bitterkeit ist in den Zeilen beider enthalten, aber bei keinem führt das zu einem emotionalen Ausbruch. Viel mehr sind das die Überbleibsel aus der Entwicklung, die zu diesem Zustand der Gleichgültigkeit geführt hat: „Live through this / and you won’t look back“.

      Im Endeffekt ist nichts zu spüren von einer Sehnsucht nach der Vergangenheit, aber auch nicht – und das ist der wichtige ergänzende Punkt – von Reue. Die Ex-Partner haben sich nichts mehr zu sagen, doch sie hatten ihre gemeinsame Zeit, die sie ebenso wenig bereuen wie das Ende ebendieser. Das schließende Statement des Songs wird von beiden als Einheit gesungen, was die Gegenseitigkeit der Aussage fast schon ironisch unterstreicht: „I’m not sorry I met you / I’m not sorry it’s over / I’m not sorry there’s nothing to save“

      Es ist anzunehmen, dass sie danach wieder getrennte Wege gehen (und sich höchstens durch einen erneuten Zufall wieder begegnen werden). Dem Wert ihrer gemeinsamen Vergangenheit tut das keinen Abbruch. Zeiten kommen und gehen, und das Ende wirkt sich nicht rückwendend darauf aus, ob es nun gute oder schlechte Zeiten waren. In Eternal Sunshine of the Spotless Mind gibt es eine Szene, kurz bevor die letzte von Joels Erinnerungen mit Clementine ausgelöscht wird. Clementine fragt ihn, was sie denn nun tun sollen, mit den letzten Augenblicken einer Zeit, die gleich für immer verschwunden sein wird. Joel weiß die richtige Antwort: „Enjoy it.“

      (Anmerkung: Ausschlaggebend für die Bewertung einer Single ist auf diesem Blog die A-Seite. Berücksichtigt werden nur physische Singles, bevorzugt auf Vinyl. B-Seiten können Teil der Besprechung sein, wirken sich aber nicht auf die Wertung aus. In diesem Fall ist das eine Cover-Version der Fairytale of New York von den Pogues, die dem Original aber nicht wirklich neue Aspekte hinzuzufügen hat.)

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      #8636797  | PERMALINK

      jan-lustiger

      Registriert seit: 24.08.2008

      Beiträge: 10,955

      Marina and the Diamonds – Electra Heart [2012]

      2010 erscheint The Family Jewels, die Debüt-LP von Marina Diamandis, die sich Marina and the Diamonds nennt und erklärt, die „Diamonds“ seien keine Band, sondern ihre Fans. Das Album findet seine Hörerschaft in der Schnittmenge, in der sich Mainstream und Indie-Crowd treffen. The Family Jewels enthält Tracks, die catchy genug für eine breitere Masse sind und clever sowie ungewöhnlich genug für Pop-Hörer fern vom Formatradio. Textlich beschäftigt sich Diamandis darauf mit der ambivalenten Welt von Ruhm und Glamor. Sie drückt eine Sehnsucht danach aus, karikiert diese aber ebenso wie ihr Objekt. Ironisch ist das nicht: Die Obsession in einer Zeile wie „I’m obsessed with the mess that’s America“ aus Hollywood ist ebenso ernst gemeint wie die Tatsache, dass der „mess“-Part eine große Rolle innerhalb dieser einnimmt. Das gekonnte Spiel mit Faszination und kritischer Distanz machte Diamandis bereits hier zu einer der besten Songwriterinnen im gegenwärtigen Popgeschehen.

      2012 veröffentlicht sie den Nachfolger. Electra Heart kommt in der Kritik schlechter weg; der Vorwurf wird hervorgebracht, Diamandis habe ihre scharfe Zunge verloren und würde nun oberflächlichen Mainstream-Pop machen. Doch der einzige Funken Wahrheit, der sich in dieser These finden lässt, liegt in der Beobachtung, dass Oberflächlichkeit eine große Rolle auf dem Album spielt. Dass die Kommerzphobiker anlässlich der Nähe zu gegenwärtigen Pop-Produktionen in den Charts rekapitulieren, ist wiederum ein vielsagendes Beispiel dafür, wie aktueller Popdiskurs an seiner eigenen Oberflächlichkeit zerbricht.

      Bubblegum Bitch

      War die Marina von The Family Jewels noch direkt und damit „echt“ genug, ist Electra Heart ein bewusster Schritt weiter in Richtung Künstlichkeit. Den Sound des gegenwärtigen Mainstream-Pop nimmt sie an, um diesem Schritt Rechnung zu tragen, produziert wurde das Album von verschiedenen, zumeist amerikanischen (Diamandis selbst stammt aus Wales.) Erfolgsproduzenten wie Greg Kurstin oder Rick Nowels. „Pop basiert auf Illusionen, nicht auf Realität“, verkündet die Künstlerin im Interview, „My life is a play“ auf dem Albumtrack The State of Dreaming. Was dabei leicht übersehen werden kann: Electra Heart ist keine 180°-Wendung weg vom Debüt. Im Gegenteil: Es ist seine logische Weiterentwicklung. War The Family Jewels noch eine von Faszination durchzogene Reflexion, ist Electra Heart nun die praktische Umsetzung eben dieser. Und die scharfe Zunge hat es auch nicht verloren. Die ist nur besser versteckt – und damit schärfer.

      Der Fake beginnt bereits im Konzept: Electra Heart ist nicht nur der Name des Albums sondern auch der der Kunstfigur, die Diamandis für das Album geschaffen hat. Der Vorname ist der Elektra der griechischen Mythologie entnommen, die mit ihrem Bruder Orestes den Mord an ihrem Vater durch die Ermordung von Mutter und Stiefvater rächte. Von den Rachegöttinnen verfolgt wurde daraufhin nur Orestes, nicht Elektra selbst. Diese Balance aus Schuld und Unschuld (schließlich blieb Elektra trotz offensichtlicher Mittäterschaft von göttlicher Strafe verschont) findet sich auch in Electra Heart wieder: Sie ist selbstbewusst, arrogant, aber auch naiv und unsicher, immer jedoch geltungsbedürftig. Vor allem aber erfüllt sie die wichtige Funktion, Diamandis ein künstlerisches Outlet zu geben, in dem sie emotionale und damit identifikationsstiftende Momente ebenso ausdrücken kann wie die Ambivalenz der Welt, in die sie sie eintauchen lässt. In der Inszenierung dieser Figur tritt die Künstlerin nicht mehr als bloße Beobachterin auf, sie steckt direkt in der Materie und spielt von innen mit ihrem Inhalt.

      Teen Idle

      Electra Heart
      behandelt die klassischen Themen des Pop: Liebe(sschmerz), Identitätssuche. Was die Zielgruppe eines Pop-Albums eben so umtreibt. Diesen nähert es sich von einem Standpunkt aus, der Madonnas Material Girl ins Jahr 2012 versetzt: dem eines jungen Mädchens, das stets um sein Image besorgt ist, unabhängig sein möchte und doch den Erwartungen einer materialistischen Gesellschaft entsprechen. Die Sexualisierung der Popkultur, die heute dazu geführt hat, dass offenkundig sexuelle Charthits keinen anrüchigen Skandalfaktor mehr mit sich bringen, tut zur identifikatorischen Verwirrung ihr übriges. „I wanna be a virgin pure / a 21st century whore“, singt Diamandis in Teen Idle.

      Den kleinen gemeinsamen Nenner der Poplyrik macht sie bereits im Opener Bubblegum Bitch aus: „Oh dear diary, I met a boy / He made my doll heart light up with joy / Oh dear diary, we fell apart / Welcome to the world of Electra Heart“. Doch dadurch, dass sie den gemeinsamen Nenner als Basis nimmt und nicht als Limit, öffnet sich die Tür zu subversivem Songwriting. Primadonna – produziert von Dr. Luke, von dessen Arbeit das Radio in Form zahlreicher Katy Perry-Hits zehrt – ist ein Song über das Verlangen nach Verehrung, der seiner Protagonistin Zeilen wie „I know I’ve got a big ego / I really don’t know why it’s such a big deal though“ in den Mund legt. Was Tracks wie diesen oder auch das brillante Homewrecker (über eine Herzensbrecherin aus Prinzip) allerdings von der Stumpfheit diverser Chartproduktionen unterscheidet, ist die Rafinesse, mit der sie weiterführende Gedanken unterschwellig mit sich tragen.

      Primadonna

      Weder als Primadonna noch als Homewrecker klingt Electra Heart wie ein Charakter um des Zelebrierens seiner bloßen Existenz willen (im Gegensatz zu, sagen wir, Katy Perrys California Gurls). „When you give, I want more“, stellt die Primadonna klar. Dieser Teufelskreis transportiert eine verborgene Tragik ebenso wie die für einen Charthit ungewöhnliche Entscheidung, die Beats in die Strophen und einen ruhigen, von Akustikgitarren unterlegten Part in den Refrain zu legen. Ihre Oberflächlichkeit nutzt sie als notwendiges Mittel auf dem Weg nach oben – und als Versteck vor dem, was unter ihr steckt. Wenn in Homewrecker verkündet wird „Every boyfriend is the one / until otherwise proven“ lässt sich diese Jurismusanspielung als Sarkasmus auf der einen (Die Love Interest ist in der Beweisschuld, um der Beziehung zu entkommen), als Grundmotiv für die Eigenarten des in den folgenden Zeilen beschriebenen Charakters auf der anderen (Die Verführerin bereits vergebener Partner sieht sich selbst als diese Prüfung) Seite lesen.

      Homewrecker

      In beiden Fällen ist Electra Heart ein zwiespältiger Charakter, dessen Multidimensionalität über die komplette Spiellänge der LP auch in Diamandis’ wandlungsfähiger Gesangsperformance repräsentiert wird. Zwischen den Zeilen bietet das Album immer wieder solche Spitzen und Drehungen, die die Songs zu mehr machen als einfache, gut ins Ohr gehende, potentielle Radiohits. Nicht übersehen werden darf jedoch, dass ohne das Händchen für Melodieführung und griffige Hooks, das Diamandis und ihre Co-Autoren in ihren Songkompositionen beweisen, das Gesamtkonzept nicht aufgehen würde. Wer mit den Stilmitteln des Pop spielt, muss sie auch selbst verstanden haben. Selbst ohne den hier beschriebenen Unterbau würde Electra Heart zumindest als sehr gut komponierte Pop-Platte funktionieren.

      In der Identitätssuche findet Electra Heart sein ergiebigstes Thema. Teen Idle ist die Ballade des jungen Erwachsenen, dessen Teen Angst darin besteht, nie welche gehabt zu haben. Starring Role verdichtet die popkulturelle Referenzialität des Albums, indem es sich metaphorisch beim Film bedient. Mehrmals greift es auf den Themenkomplex Ruhm und Glamor zurück; das Fass, das auf The Family Jewels geöffnet wurde und von dem auch die Debüt-LP Lady Gagas, The Fame, geprägt war. Doch wo Gaga den Ruhm umarmt und als kollektiven Spielplatz versteht, ist The Family Jewels eine Beobachtung aus der Distanz, wenn auch mit funkelnden Augen.

      Electra Heart positioniert sich genau zwischen diesen beiden Polen. Was The Fame und Electra Heart vereint, ist, dass sie das Thema in das Zentrum ihrer Herangehensweise an Popkultur stellen, doch Electra Heart ist keine „Mama Monster“. Sie ist der Niemand, der nach oben will, weil ihm impliziert wird, dass er nach oben muss, und der vor nichts zurückschreckt, um dieses Ziel zu erreichen. (Interessantes Paradoxon: Die Wolke, in die sie ihren Kopf steckt, ist ohne einen materiellen Realismus nicht denkbar.) Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass diese vorgegebene Sehnsucht nach der Erfüllung eines Identitätsmodells nur bedingt im Einklang mit ihrer Persönlichkeit steht. In der Zeile „I would sell my sorry soul / if I could have it all“ schwingt jeder dieser Aspekte mit.

      The State of Dreaming

      Die verschiedenen Fäden, die das Album im Hinsicht auf diese Frage an unterschiedlichen Stellen verfolgt, laufen schließlich im Closer zusammen. Fear and Loathing reflektiert Künstlichkeit und Realismus, beziehungsweise den eigenen Platz zwischen diesen Motiven. Die Grenzen zwischen den beiden Gegenpolen werden verwischt, ebenso wie die zwischen Persönlichkeit und Image. Es ist der Track der LP, der sich vom Chart-Pop am weitesten entfernt, Electra Heart kapituliert: „I want to feel like I am floating / instead of constantly exploding / in fear and loathing“. Die Anspielung auf Hunter S. Thompsons Roman à clef Fear and Loathing in Las Vegas: A Savage Journey to the Heart of the American Dream wird zur Konklusion des Albums und verdeutlicht einmal mehr, wie Diamandis die Ambivalenz speziell amerikanischer Popkultur zelebriert, worauf auch die Leitmotive Glamor, Individualität und Identität hindeuten.

      Fear and Loathing

      So sehr sich Electra Heart auch im Spannungsfeld zwischen Indie-Reputation und Mainstream-Pop bewegt, so ist es doch in erster Linie ein Plädoyer für letzteren. Es ist so sehr Teil des Pop, wie es seine Tricks zwischen den Zeilen angreift, es umarmt und seziert ihn zugleich. Nicht nur löst Marina Diamandis das Versprechen ihres ersten Albums ein; sie zeigt den Appeal auf, den Pop auch mehrere Jahrzehnte nach seiner Initialzündung noch in sich trägt, und gibt ihm seine über weite Strecken abhanden gekommene Subversion zurück. Electra Heart ist nicht weniger als das beste Pop-Album seiner Generation.

      ****½

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      #8636799  | PERMALINK

      herr-rossi
      Moderator
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      Registriert seit: 15.05.2005

      Beiträge: 84,853

      Eindrucksvoll, Jan! Und ein überzeugendes Beispiel für das Nachdenken über Platten, das durch das Schreiben ja meiner Erfahrung nach befördert wird. Ich bin jedenfalls als Hörer den Gedanken Marinas nicht so konsequent nachgegangen. Nebenbei erklärst Du auch schlüssig den Unterschied zwischen Marina und Katy Perry, nach dem ein Forumianer vor einiger Zeit mal fragte. (War es hipecac? Bin mir nicht sicher.)

      Ich bedauere übrigens, dass „Sex Yeah“ nur ein Bonustrack ist, für mich auch textlich einer ihrer besten Songs.

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      #8636801  | PERMALINK

      jan-lustiger

      Registriert seit: 24.08.2008

      Beiträge: 10,955

      Herr Rossi[…] das Nachdenken über Platten, das durch das Schreiben ja meiner Erfahrung nach befördert wird.

      Definitiv! Manche Gedankengänge fügen sich dann erst richtig zusammen.
      (Oder – was auch passieren kann, es aber seltener tut – werden wieder verworfen.)

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      #8636803  | PERMALINK

      jan-lustiger

      Registriert seit: 24.08.2008

      Beiträge: 10,955

      David Bowie – The Next Day [2013]

      „Here I am / not quite dying / my body left to rot in a hollow tree”

      David Bowies 24. LP beginnt mit einer Szenerie, die in ihrem dystopischen Ausmaß bei gleichzeitiger Abgebrühtheit in einem Augenblick von Hoffnungslosigkeit auch von seiner achten (Diamond Dogs) hätte stammen können. Bowie ist jetzt 66, sein letztes Album, Reality, liegt zehn Jahre zurück und ist mit dem Attribut „vernachlässigbar“ noch recht gut bedient. The Next Day markiert also ganz ungeniert den Beginn für das, was man gemeinhin als „Alterswerk“ begreift.

      Bowie tritt in diese oft paradoxerweise bei bemühter Aktualität nostalgisch verklärte Phase nicht leise ein, obgleich er sich das Charakteristikum der Selbstreflexion nicht vorenthalten lässt. Seine neue Platte geht nach vorne – in Form von offensiven Arrangements – und blickt nach hinten – in Form mehrerer Reminiszenzen an seine zahlreichen Schaffensphasen. Nostalgisch verklärend ist sie dabei jedoch nur einmal.

      „I tell myself I don’t know who I am”

      Zu einfach macht es sich, wer The Next Day angesichts seiner Selbstreferenzialität zum bloßen Recyclingswerk erklärt. Ausgerechnet Bowie, der in den Siebzigern durch seine ständigen Metamorphosen zum ersten Popstar avancierte, der die Postmoderne selbst zum greifbaren Gegenstand des Pop innerhalb seines Inszenierungsspektrums machte – einem Popstar, dessen einziger berechenbarer Aspekt seine Unberechenbarkeit war – sei zum Baukastenkünstler verkommen. Doch der Baukasten ist eben nicht nur der beste Freund des Retroästheten. Er war bereits der beste Freund von Ziggy Stardust und Aladdin Sane.

      Ein Exkurs in die Vergangenheit: In den frühen Siebzigerjahren wurde David Bowie Teil der noch vor Punk ersten Bewegung, die die Historizität des Pop begriff und zum bewussten Stilmittel umformte, um sein Spielspektrum bei gleichzeitiger Brechung seiner bislang linear nachzuverfolgenden Entwicklung zu erweitern. Glam Rock griff zurück auf die Zeit, als sich der Rock noch nicht vom Pop emanzipiert hatte (Auch wenn es der Begriff nicht nahelegt: Rock’n’Roll war beides) und schließlich zum Selbstinszenierungsinstrument heteronormativer Männlichkeitsgebärden hässlichsten Ausmaßes mutiert war.

      „I gaze in defeat“

      Eine Verdeutlichung am Beispiel The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars: Bowies Magnum Opus ist ein Rock’n’Roll-Musical, das bewusst weg schritt vom Rockkonservativismus der längst nicht mehr progressiven 68er, sein Protagonist geschlechtslos und im Zusammenspiel mit seiner Band doch einer zusätzlichen homoerotischen Ästhetik unterzogen. Dies inszenierte Bowie – ähnlich wie seine Kollegen Roxy Music, Lou Reed oder wenig später die New York Dolls – mit offen zur Schau gestellter Referenzialität.

      Die Geschichte erzählt von Ziggy (die Iggy Pop-Assoziation hat Bowie bewusst in Kauf genommen) und seiner Band, Rockstars aus dem All, in der Zeitspanne zwischen dem Weltuntergang und seiner Ankündigung fünf Jahre zuvor: ein apokalyptisches Szenario, das mit dem Wesen und der Funktionalität des Rockstars spielt. Da wäre Lady Stardust, das dem damaligen Star der Stunde Marc Bolan gewidmet ist, für Starman griff Bowie Judy Garlands Over the Rainbow aus dem Wizard of Oz auf und brachte so nicht nur einen sentimentalen Blick zum Horizont in den entsentimentalisierten Rock, sondern hob auch die Quelle selbst auf eine selbstkritische Ebene: Der Starman, sehnsüchtig herbeigewünschtes Objekt jenes Blickes, würde ja gerne zur Erde kommen, so verspricht er es uns, doch er tut es nicht, denn er hat Angst, uns damit zu überfordern.

      „Stars are never sleeping…“

      The Next Day ist eine Platte über das Danach, die Gegenwart in ihrer Funktion als Basis für ihre Reflexionen unweigerlich entgegen der Rückwärtsgewandtheitsvorwürfe ihr Schauplatz. Den Schlüssel dazu hält man bereits in der Hand, wenn man noch keinen Ton vom Album gehört hat: Das Cover ist das von Bowies 1977er LP „Heroes“, nur dass der Titel durchgestrichen wurde und in der Mitte ein großes Quadrat prangt, auf dem der neue Albumtitel zu lesen ist. Wir erinnern uns an den Titeltrack von „Heroes“: „We could be heroes / just for one day“. Dieser Tag ist vorüber. Es ist The Next Day. Angekommen im Jetzt, der Zeit, in der es keine Helden mehr geben kann.

      „…the dead ones and the living“

      41 Jahre nach Ziggy Stardust ist die Welt immer noch nicht untergegangen, hat aber auch noch nicht genug vom „doomsday song“, so Bowie in der ersten Selbstreferenz seines neuen Albums. Die Apokalypse mag vorbeigezogen sein, die Songs, die von ihr erzählen, werden es jedoch nie tun, so wie es die Stars, die aus dem Kiosk heraus auf uns herab grinsen, nie tun werden, weil sie uns zu nützlich sind, als Vergleichsebenen, als Mittel zum Alltagseskapismus, als Hoffnungsgeber und Quellen von Frust. „We will never be rid of these stars / but I hope they live forever“, so heißt es in The Stars (Are Out Tonight), dessen Titel einer Textzeile des Iggy Pop-Songs The Passenger entnommen ist, der vom Bowie-produzierten Album Lust for Life stammt (und das von Floria Sigismondi mit einem hervorragenden Video (featuring Bowie-Double Tilda Swinton) ausgestattet wurde).

      Dieser Scheinwelt stehen destruktive Szenen gegenüber wie die eingangs erwähnte, die im Zeitalter nach dem ausgebliebenen Ende der Zeit zum Kunstgegenstand werden: „Listen to the whores, he tells her / He fashions paper sculptures of them“. Es ist eine Umgebung, die auf eine Apokalypse gewartet hat, die nie kam, und sich nun selbst nach und nach demontieren muss.

      „The songs of dust / the world would end“

      Eine Umgebung, die auf das baut, was (fast) jede Pop-Generation vereint. „In your darkest hour you’re 22“, singt Bowie auf Love Is Lost, und später „but your fear is as old as the world“. Eine Umgebung, die ihre Inhalte nicht geändert hat, aber ihre Rezeption von ihnen. Noch immer wird der Tanz zum transzendentalen Erlebnis stilisiert, werden Drogen genommen, Liebe gewonnen wie verloren. Verschwunden ist allerdings der Bezugspunkt, auf den all das ausgerichtet war: der Idealismus, festes Bestandteil des Pop bei Geburt und Taufe, zu Bowies Blütezeit zwar passiv von ihm und Gleichgesinnten verneint, aber durch die Subversion mit einem Ersatzobjekt versehen worden an diesem einen Tag, als wir Helden sein konnten. The next day… der hat noch nicht einmal mehr das. „Put on your red shoes and dance the blues“, sang Bowie 1983 noch auf Let’s Dance, eine Zeile, die Gegensätzlichkeiten vermischt, die aber immer noch als Gegensätzlichkeiten definiert sind. 2013 klingt das in If You Can See Me so: „I could wear your new blue shoes / I should wear your old red dress“. Während ihre Herkunft immer noch ersichtlich ist, sind die Bezugspunkte hier verwaschen.

      „If you can see me I can see you“

      Bowie könnte es sich nun leicht machen und als bloßer Beobachter oder – das Worst-Case-Szenario – moralische Instanz auftreten. Doch er vermeidet diesen Fehler, indem er sich auf seine alte Stärke, das Zitat, zurückberuft, und es aber nicht mehr nutzt, um ein Grundkonstrukt auf eine neue Ebene zu hieven, sondern um sich selbst in dieses Konstrukt einzuordnen. Zwar bietet The Next Day auch zahlreiche Anspielungen auf andere Größen der Popkultur, wie etwa Federico Fellini oder Joan Baez, doch er selbst ist die wahre Referenzgröße.

      Immer wieder taucht seine Berlin-Zeit auf, die „songs of dust“ sind seine eigenen, genauer genommen die von den Alben Station to Station, Low und „Heroes“, sprich: der sogenannten Berlin-Trilogie. „Sexless and unaroused“ sind die von ihm besungenen Stars, ganz so wie es Ziggy Stardust war, und sie bieten falsche, aber unverzichtbare Hoffnung, wie es der Starman tat, von dem Ziggy sang. Ziggy Stardust war trotz seiner fiktiven Beschaffenheit zu einem Teil eben auch David Bowie, so wie in seinen anderen zahlreichen Alter Egos immer auch ihr Künstler steckte. „I tell myself I don’t know who I am“ singt er in Heat. Doch eigentlich weiß er es. Der Postmoderne sind die Tricks ausgegangen. Bowie weiß das, darum hat er dieses Album gemacht. Ein Album über Popkultur am Beispiel David Bowie; von David Bowie. Es greift Elemente seiner an Wendungen und Anknüpfungsmöglichkeiten nicht armen Karriere auf, doch geht es mit diesem Erbe spielend um – nicht rein reproduzierend.

      „A man lost in time near KaDeWe / just walking the dead“

      „Where are we now?“ ist die Frage, die Bowie im einzigen tatsächlich nostalgischen (und nicht einzigen durch musikalische wie textliche Plattitüden eher mittelmäßigen*) Song des Albums stellt und The Next Day gibt die Antwort. Wir sind immer noch irgendwo im Pop-Potpourri, das immer noch Affektträger und -erzeuger ist, aber doch nie zu den Sternen geführt hat. Doch auch wenn wir Ziggy Stardust damals auf dem letzten Track seines Album haben auf der Bühne sterben sehen und er uns nichts anderes als die Möglichkeit zur Selbstdemontage hinterließ, so ist die Vorstellung des Starman doch nie so ganz gestorben. And the stars are out tonight.

      ***½

      *Es soll nicht gänzlich unerwähnt bleiben, dass Bowie auf sein neues Album zu viele Füller gepackt hat, es zu lang ist, und ein paar der Titel seltsam bedeutungslos an einem vorüberziehen. Da sich dieser Text aber auf andere Aspekte konzentrieren soll als diese, verweise ich hier auf die Videobesprechung Anthony Fantanos, der die Pros und Kontras auf diesem Gebiet gut erörtert.

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      #8636805  | PERMALINK

      jan-lustiger

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      Die Ärzte – Ist das noch Punkrock? [Single, 2012]

      Das aktuelle Die Ärzte-Album auch ist eine verwirrende Angelegenheit, gerade für langjährige Anhänger (oder auch Ex-Anhänger) des Trios, das ruhigen Gewissens als eines der wenigen interessanten deutschen Pop-Phänomene mit Formatradio-Airplay bezeichnet werden kann. In erster Linie enthält es geradezu fahrlässig einfallslose Songs, die es in besseren Zeiten auf keine Single-B-Seite geschafft hätten. Doch es ist kein Album ohne Höhepunkte, denn in seinen guten Momenten trifft es genau den Nerv, der seit 1984 Teenager und seit 1993 Teenager sowie mehrere Generationen von Ex-Teenagern auf Konzerten der Herren Urlaub, Felsenheimer und Gonzalez (bzw. früher Runge oder Liebing) vereint. Nirgends tut es das so deutlich wie auf dem als dritte Single ausgekoppelten Opener Ist das noch Punkrock?.

      Die Ärzte und den Punkrock verbindet eine innige Hassliebe. Der überstrapazierte Vorwurf vom Verrat der eigenen Ideale zugunsten von Ruhm und Reichtum jedoch ist schon alleine deswegen absurd, weil sie überhaupt nie eine „ernsthafte“ Punkband sein wollten, wie es sie Anfang der 80er nach den Vorbildern Slime oder Daily Terror zuhauf gab. Deren Tiraden gegen Staat, Polizei und Spießer kannten das Konzept „Spaß“ nur dann, wenn es um Alkohol ging und selbst der wurde mit biederer Humorlosigkeit gefeiert.

      Auch in der Ärzte-Vorgängerband Soilent Grün wurde der Schrei nach mehr politischen Inhalten unter einigen Mitgliedern laut. Farin Urlaub und Bela B. Felsenheimer war das zuwider, also machten sie Schluss mit Soilent Grün und gründeten Die Ärzte bewusst als Popband – und waren damit näher an den Wurzeln des Punk, als es eine Band wie Daily Terror, die bereits für ihre erste EP einen Song mit dem Titel Popperverklopper aufnahmen, wahrhaben möchte. Sowohl die Ramones als auch die Sex Pistols schrieben klassische Popsongs. Und sie nahmen sich nicht sonderlich ernst. Zu ihren Einflüssen gehörten eben nicht nur The Stooges und MC5, sondern auch die frühen Beatles und Kinks, ja sogar die Bay City Rollers und die Ronettes. Die Ramones liebäugelten zudem mit schwarzem Humor und B-Movie-Kultur, die Pistols mit geradezu schelmischer Provokation und Unberechenbarkeit.

      Am besten wird dieser Umstand von einer Band wie den – in ihrem Original Run atemberaubend guten – Buzzcocks verdeutlicht, die von 1977 bis ’79 einen grandiosen adoleszent-existentialistischen Pop-Hit mit Herzschmerz und oft auch sexueller Ambiguität nach dem nächsten auf die britischen Charts losließen. Und mit eben dieser Band verglich der (ebenfalls britische) NME, der anscheinend schon 1982 notorisch auf der Suche nach den „nächsten XY“ war, Die Ärzte, die er zu den nächsten Buzzcocks erklärte; ein Jahr, nachdem diese sich aufgelöst hatten. Das änderte jedoch nichts daran, dass Die Ärzte, als sie sich in besetzten Häusern auf die Bühne stellten, proklamierten, sie seien jetzt Popstars und Songs wie Teenager-Liebe oder Teddybär sangen, damit die deutsche Punkszene gehörig vor den Kopf stießen (und dabei für den einen oder anderen Eklat sorgten).

      Die Ärzte sind also eine Band, die aus dem Punk kommt, aber gegründet wurde, um sich vom Punk, der zu ihrer Gründungszeit vorherrschte, zu distanzieren. Das ist herrlich paradox und vielleicht der Grundstein für einige der besten Momente der Band. Besonders seit ihrer Wiedervereinigung in den Neunzigerjahren spielen sie bewusst mit diesem Umstand. Am schönsten auf dem Album 5, 6, 7, 8 – Bullenstaat!, auf dem auf 25 Songs in 22 Minuten so ziemlich jedes Klischee liebevoll verladen wird, das der Punk zu bieten hat. Am zweitschönsten wohl auf dieser Single, über die ich nun schon seit fünf Absätzen schreibe, ohne über sie geschrieben zu haben.

      „Fick dich und deine Schwestern / hast du dir tätowiert / No Future, das war gestern / Seitdem ist viel passiert“: Die ersten Zeilen haben quasi alles, was ein guter Ärzte-Song braucht. Sie sind obszön, aber clever. Sie folgen dem „Reim‘ dich oder ich fress‘ dich“-Schema (abgeguckt bei den Comedian Harmonists), beinhalten eine raffinierte Selbstreferenz und ein amüsantes Wortspiel. Man kann als 14-Jähriger darüber lachen und als 24-Jähriger wissend darüber schmunzeln. Mit der (bei den Kassierern geborgten?) Zeile „No Future, das war gestern“ wird außerdem bereits hier der schizophrene Zustand des Punk 36 Jahre nach seinem Urknall auf den Punkt gebracht: per Definition zukunftslos und doch in der Vergangenheit lebend.

      Der Track ist gerade mit einer für heutige Ärzte-Verhältnisse ungewöhnlichen Nähe an den Punk losgeschossen, da schleicht sich schon ein Harmoniegesang heran, der mit dieser bricht und die Partnerin des Protagonisten vorstellt. Diese heißt Andrea und hat blaue Haare; ein Punkbackground wird also auch bei ihr nahegelegt. Das ist wichtig, denn hier geht es nicht um einen Ex-Punk, der für seine ohnehin schon bürgerlich geprägte Freundin bürgerlich wird. Es ist ein Punkpärchen, das zur Einheit verschmilzt und für sich selbst bürgerlich wird. Andrea ist die Traumfrau des Protagonisten, was dieser jedoch nie zugeben würde. Denn das Konzept der Traumfrau führt uns wieder zum liebesbesessenen Pop. Und dann kämen die Popperverklopper. Der Refrain nimmt dann das Tempo aus der Nummer und stellt die titelgebende Frage: „Ist das noch Punkrock / wie dein Herz schlägt, wenn sie dich küsst?“ – Eine wunderbare Popzeile, hin- und hergerissen zwischen den Jugendthemen Rebellion und Zärtlichkeit.

      Die zweite Strophe stellt szenetypische Aktivitäten ihren für die Hauptfiguren neuen Alternativen gegenüber: „Dies Jahr am ersten Mai / besuchst du ihre Tante“ beziehungsweise „Seit es Andrea gibt, kommst du nicht mehr saufen / Ihr geht zu IKEA, um euch für die neue Bude eine Küche zu kaufen“. Der Schritt in die Bürgerlichkeit wird dann mit einem Ratschlag durch ihre Kritiker kontrastiert, der in seinem Kern selbst zutiefst bürgerlich ist: die Orientierung an einem vorgeschriebenen Modell, verkörpert durch Idole. Die Zeilen „Ich will euch nicht den Spaß verderben / aber musste Sid dafür sterben?“ respektive später „Ihr solltet euch immer fragen: / Was würde Stiv Bators sagen?“ haben einen geradezu religiösen Anklang: der Sex Pistols-Bassist und der Dead Boys-Sänger – beide ihren eigenen Mythos begünstigend frühzeitig verstorben – müssen als Heilsbringer herhalten. Womit wir beim Dogmatismus einer vermeintlich dogmatisch ungebundenen Subkultur wären.

      Der große Geniestreich von Ist das noch Punkrock? liegt jedoch in der Auswahl der Hauptfiguren. Der Song handelt von einem Konflikt, der hauptsächlich für Jugendliche von Bedeutung ist. Er handelt von der Suche nach Anerkennung, von Coolness und Authentizität, dem Kampf zwischen dem Idealbild Subkultur und dem Feindbild Spießigkeit sowie vom Erwachsenwerden. Denn der besungene (Ex-)Punk und seine Freundin sind eben keine Jugendlichen mehr. Trotzdem befinden sie sich in diesem Konflikt, weil er ihrer Szene inhärent ist. Gerade weil die Attitüde des Punk sich so wunderbar für den Ausdruck pubertärer Rebellionsfantasien eignet, findet er noch heute Anklang bei Teenagern. Und unter anderem weil Punk so gut ins Jugendzimmer passt, ist es nur ein Katzensprung zum Pop. Guter Pop wird selten für 30-Jährige geschrieben. Erst recht nicht, wenn er sich als Gegenkultur stilisiert. Das Berufsjugendlichentum, das den Ärzten* oft vorgeworfen wird, ist auch genau das, was sie in das Spannungsfeld zwischen („authentischem“) Punk und („inauthentischem“) Pop so gut eingliedert.

      Aber ist das dann jetzt noch Punkrock? Vermutlich nicht. Aber was bedeutet das schon, wenn man nicht mehr 14 ist?

      ****

      *Mir ist bewusst, dass die Band darauf Wert legt, dass ihr Name nicht grammatikalisch gebeugt wird. Aber aus dem Alter, in dem man jeden Scheiß, den die Drei von sich geben, mitmacht, bin ich dann doch raus.

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      #8636807  | PERMALINK

      mikko
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      Schön beschrieben und analysiert, Jan. Kann ich alles unterschreiben.

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      jan-lustiger

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      Freut mich! Du verfolgst die Band schon seit ihren Anfangstagen, richtig?

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      mikko
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      Moderator / Juontaja

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      Jan LustigerFreut mich! Du verfolgst die Band schon seit ihren Anfangstagen, richtig?

      Richtig. Ich kenne sie persönlich seit 1983. Wir sind zwar nicht befreundet oder so, aber wir kennen uns halt.

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      Anonym
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      Ich bin beeindruckt von deiner Art über Musik zu schreiben. Nur mal so bemerkt.

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      #8636815  | PERMALINK

      latho
      No pretty face

      Registriert seit: 04.05.2003

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      Und wer „Coolness-Faktor“ auf „Gartentraktor“ reimt, ist einfach cool. Schöner Text über Die Ärzte!

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      If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
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