Sonny Stitt

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  • #8136977  | PERMALINK

    alexischicke

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    „Cherokee“ ist von den Roost Sessions ja könnte 57 sein, Gypsy.

    Stitt spielt es schon melodisch mit dem Pausen drin, die das Stück hat. Man kann da als Saxophonist schön die Skala hochspielen.Parker spielt die Pausen durch mit viel Feuer.

    Ich bin ein großer Fan dieser Saxophnisten, denn man kann so schön träumen wenn sie hört.:liebe:

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      #8136979  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Noch ne Fussnote zu den Busters: gemäss Lord ist Bobby nur auf „My Main Man“ zu hören, Eddie zusätzlich zu den beiden Argo-Alben von Stitt noch auf einem Ammons-Album, das bei Argo als „Just Jug“ und bei Prestige als „Live! In Chicago“ (auch auf CD mit zwei Bonustracks) erschienen ist.

      Was hat es mit diesen Argo/Prestige-Alben auf sich? Das betrifft neben „Just Jug“ / „Live! In Chicago“ auch das Ammons/Stitt-Album „Dig Him!“ (Argo LP 697), das bei Prestige als „We’ll Be Together Again“ (PR 7606, OJCCD 708-2) erschienen ist (bei dem ist wohl die Argo-Provenienz mitschuldig am relativen Misserfolg… bei Prestige hätten die beiden bestimmt nicht siebzehn kurze Tracks auf ein Album quetschen müssen).

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      "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #150: Neuheiten 2023/24 – 12.3., 22:00; #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
      #8136981  | PERMALINK

      fef

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      gypsy tail wind… Sie mit Parker zu vergleichen… klar, kann man schon, muss man auch, je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man sie betrachtet. Aber Parkers Musik hat meist was Manisches, Getriebenes – sowas hört sich nicht so leicht, es macht nervös, es zwingt einen, hinzuhören, nachzudenken. Das ist weniger leicht und angenehm als Donaldson (eitel Sonnenschein), Lockjaw (endloses Faszination auch beim oberflächlichen Hören), Ammons (THE BOSS!), Turrentine oder Stitt, die man alle geradesogut im Hintergrund hören kann. Mit Parker geht das irgendwie nicht, dafür ist brennt er viel zu intensiv, man kann nicht weghören. – Und das – um wieder den Bogen zu Stitt zu kriegen – ist wohl auch einer der Punkte, in denen die beiden sich eben doch sehr, sehr unterscheiden. …

      Ich sehe das auch weitgehend so: Parker war auf einem anderen Level. Wobei ich seine Musik keineswegs als „manisch“ und „getrieben“ empfinde, sondern einfach extrem gut. Sie macht mich auch nicht nervös, sondern ich krieg ein spezielles, sehr feines Gefühl dabei. Nachdenken ist auch nicht das, was ich dabei tue. Dazu ist keine Zeit. Einfach hören. Soviel mitkriegen wie geht und ein Gefühl für diese Linien, für ihre Rhythmik, Bewegung und ihre Reime kriegen. Und den Steve-Coleman-Artikel über Parker lesen und dabei wiederum mitkriegen, soweit es für einen als Laien möglich ist.

      Ich hab eine CD-Box von Stitt mit den Aufnahmen mit Bud Powell und weiteren – so ein Querschnitt. Ich mag die Sachen mit Bud Powell. Stitt am Tenor. Aber die späteren Aufnahmen sind so „soulig“ usw., also nach meinem Gefühl mehr für den Markt. Ich mag das nicht. – Mir ist Stitt lieber, wo er sich von Parker nicht „sehr, sehr unterscheidet“. Nach meinem Gefühl war er rhythmisch nicht so gefinkelt, aber speziell sein Tenor-Spiel ist für mich eine echte Bereicherung. In der Dizzy-Gillespie-Band aus den 1940er Jahren höre ich ihn auch gerne. Von der „Sonny Side Up“ gefallen mir die zwei schnellen Stücke – schwer zu sagen, wer mich da mehr beeindruckt: Stitt oder Rollins.

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      #8136983  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      FefAber die späteren Aufnahmen sind so „soulig“ usw., also nach meinem Gefühl mehr für den Markt. Ich mag das nicht.

      Das ist Deine Unterscheidung – ich glaube nicht, dass Stitt damit einverstanden gewesen wäre! Ich kann sie zwar nachvollziehen, bin selber aber in diesen Belangen über die Jahre sehr viel milder geworden (heisst: ich kann fast alles aus den späten 60ern ertragen, egal wie viele Keys und Vocals und auch dieser Lewis-Hack am Fender Bass auf Dutzenden Prestige-Scheiben treibt mich nicht mehr vollends in den Irrsinn).

      Ich habe überhaupt keine Mühe, wenn jemand die Stitt-Aufnahmen ab… 1960? 1965? 1969? Jene mit Orgel (also punktuell ab 1961, wohl fast komplett von ca. 1966-72 oder so)? … ablehnt. Aber Stitt hat sich kaum dem „Markt“ gebeugt sondern hat stets Musik fürs Publikum gemacht. Der Geschmack des Publikums, die Richtung, die das ganze Musik-Business in den 60ern genommen hat, hat sich aber stark geändert. Stitt (und auch andere wie Lou Donaldson oder von mir aus auch Eddie Harris… auch von Jackie McLean gibt’s mindestens eine anscheinend ganz üble „Sünde“) sind da einfach mitgegangen. Ich würde das nicht allzu stark ideologisch (mit Markt vs. Kunst oder so) aufladen wollen.

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      #8136985  | PERMALINK

      alexischicke

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      Ich mag den Soul Jazz aber schon recht gerne auch mit Orgel, ja auch wenn vielleicht eine etwas „kommerzielle“ Musik ist.

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      #8136987  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Dann also zu den Roost-Sessions von Stitt. Teddy Reig, der Chef von Roost, war eine umtriebige Gestalt, hustler (so hat er sich selbst bezeichnet), der über mehrere Jahrzehnte einigen Einfluss auf das Geschehen in der Jazz-Szene nahm. Er hatte zuvor als Produzent geholfen, Savoy zu etablieren, nahm für sie die ersten Sessions von Charlie Parker, Miles Davis, J.J. Johnson und anderen auf.

      „We were sitting there and I said, ‚Why don’t we chip in a thousand apiece and start a record label.'“ recalled Reig to author Edward Berger in Teddy Reig: Reminiscing in Tempo (Scarecrow Press, 1990). „Although I was the ringleader, I only had $800. But that’s how Roost Records was born.“
      A year later, Reig, who was also involved with the shortlived Three Deuces Records, brought Jack Hooke in as a co-owner and general manager of the label; Reig also continued to work at Savoy for a while. Eventually, Hooke bought out Torin, Watkins and Kay.

      ~ Zan Stewart (July 2001), Liner Notes zu „The Complete Roost Sonny Stitt Studio Sessions“, Mosaic MD9-208, 2001, S. 5.

      Der DJ „Symphony Sid“ Torin, Monte Kay, der Manager vom Royal Roost, und Ralph Watkins, der ehemalige Mitbesitzer vom Kelly’s Stable an der 52nd Street und Partner im Roost waren die drei anderen Mitgründer von Roost Records.

      Die erste Roost Session fand im Oktober 1948 mit Machito statt – „Cubop City“ mit Howard McGhee und Brew Moore. Andere Künstler, die in den ersten Jahren für Roost aufnahmen, waren Little Jimmy Scott, Mary Ann McCall und Erroll Garner. 1950 begann schliesslich Stan Getz eine Reihe phänomenaler Aufnahmen fürs Label. Zudem veröffentlichte das Label auch Material von Charlie Parkers Dial-Sessions und eine unveröffentlichte Deluxe-Session von Bud Powell.

      1952 gewann Reig zwei neue Musiker für sein Label – beiden hat Mosaic später umfangreiche Boxen gewidmet: Johnny Smith und Sonny Stitt. Smith hatte mit seinem „Moonlight in Vermont“ (mit Stan Getz) bald einen grösseren Hit und sollte über elf Jahre exklusiv für Reig aufnehmen, Stitt nahm sogar bis 1965 für Roost auf, aber nicht exklusiv.

      Um die Geschichte noch kurz zu Ende zu erzählen: Mitte der 50er war Roost zunehmend auch an R&B interessiert, was schliesslich 1957 zum Abgang von Hooke führte (er sollte den Rock-DJ Alan Freed managen). Im August selbigen Jahres gewann Reig seinen Freund Count Basie für Morris Levys Label Roulette Records und produzierte dort fortan auch selber. Im Jahr darauf, 1958, schluckte Levy Roost Records. Reig war fortan als Produzent und A&R Zuständiger von Roulettes „Birdland Series“ tätig, nahm dabei wichtige Aufnahmen mit Basie, Sarah Vaughan, Joe Williams, Maynard Ferguson und anderen auf (manches davon – Basie Live und Studio, Sassie, Maynaaaar – gab’s auch mal bei Mosaic). Zudem war Reig auch für Tico tätig, das Latin-Label, das Roulette vertrieb. Seine Roost-Aktivitäten hatten hingegen stark abgenommen – von wenigen Ausnahmen abgesehen beschränkten sie sich auf jährliche Sessions mit Smith und Stitt.

      Basie verliess 1962 Roulette und Reig begann, als Freelancer zu arbeiten, gründete eine eigene Produktionsgesellschaft, um Aufnahmen z.B. von Basie zu machen und an Labels anzubieten. Für Roulette nahm er weiterhin Sessions von Sarah Vaughan und ein paar anderen für die „Birdland Series“ auf. 1964 erschienen drei von ihm produzierte Alben (von Terry Gibbs, Arsenio Rodriguez und Buddy Rich/Louis Bellson) bei Roost, es folgte 1965 Stitts letztes fürs Label, „Sax Expressions“, und damit endet Reigs Tätigkeit für Roost/Roulette.

      1965 waren Roost, Roulettes „Birdland Series“ und das Birdland selbst Geschichte. Stitt kehrte 1966 zu Roulette zurück, Hugh Glover produzierte in den kommenden Monaten fünf Alben mit Stitt am Varitone: „The Matador Meets the Bull“, „What’s New!!! Sonny Stitt Plays the Varitone“, „I Keep Comin‘ Back! Sonny Stitt on the Varitone“, „Make Someone Happy“ und „Parallel-a-Stitt: Sonny Stitt on the Varitone“. Das Varitone ist eine Geschichte für sich… ich kenne diese Stitt-Alben zwar nicht, kann Stewart, der sagt, das Varitone sei „a fiendish invention that […] destroys the timbre of the saxophone and the personality of an artists sound“ – und dann Eddie Harris und Lou Donaldson als zwei weitere Beispiele „who fell prety to the contraption“ nennt – aber nicht in voller Länge folgen. Change was in the air… und auch wenn Stitt und Donaldson wohl in der Tat nicht besonders gedient war mit dem Varitone, zumindest was Eddie Harris betrifft, würde ich Stewart widersprechen. Natürlich kann man das Verschwinden des persönlichens Sounds bedauern (grad bei Harris, der einen der speziellsten und schönsten Sounds hatte, die je ein Saxophonist besass), aber Harris hat doch tolle Musik gemacht auf dem Varitone, die ihren ganz eigenen Charakter behalten konnte. Der Unterschied ist jedoch, dass er ein Visionär war, während Stitt und Donaldson Entertainer waren/sind, die wohl das Gefühl hatten, mit der Zeit gehen zu müssen. Es gibt jedoch ein paar tolle Scheiben von Stitt am Varitone – doch hiervon später mehr!

      Um den Bogen zurück zu Teddy Reig zu schliessen, zum Abschluss zwei Gewährsleute, die Stewart zitiert:
      „He had something. Teddy knew the music.“ (Roy Haynes)
      „Those Savoy records were really influential. He had insight, and a tremendous knowledge of musicians. Look at who he recorded: Bird with Miles, J.J. Johnson with Sonny Rollins, Stan Getz, Dexter Gordon. He knew how to do funk plus the bebop.“ (Bob Weinstock)

      Zan Stewart beginnt seine Session-Kommentare dann mit einem fetten Lob für den besten Teil von Stitts Werk überhaupt:

      … as a body of work, nothing – taking into account some of Stitt’s later recorded marvels, including STITT PLAYS BIRD (Atlantic) and the aforementioned Cobblestone dates – surpasses the magnitude of these Roost sessions. Sonny Stitt comes through not just as a superb jazzman but as a stunning instrumentalist, a man capable of deep emotion as well as dazzling excitement, truly a saxophonist for all seasons.

      (Dank an Zan Stewart für seine Mosaic-Notes, auf die ich mich oben ausführlich stütze!)

      Die ersten Reig-Sessions wurden (zusammen mit Stücken einer Session von 1956 oder 1957 mit Dolo Coker) auf der Savoy-LP Symphony Hall Swing (SJL 1165) gesammelt – ursprünglich waren die vier Stücke auf Roost 78 RPMs erscheinen. Begleitet von Fletcher Peck (p), John Simmons (b) und Jo Jones (d) spielt Stitt (ts) ein paar Standards und ein paar Originals. Sein Ton auf dem Tenor ist grossartig, erinnert mich recht deutlich an den jungen Dexter Gordon. Die Band ist ziemlich langweilig, besonders Pianist Peck ist Stitt überhaupt nicht gewachsen, aber wie glücklicherweise noch oft in seiner langen Karriere, lässt Stitt sich dadurch nicht hemmen.
      Wenn ich das richtig sehe, erschien bei Roost nur eine Single: „Why Do I Love You“ b/w „Symphony Hall Swing“ – die zwei weiteren Stücke („They Say It’s Wonderful“ und „Sonny’s Bunny“) erschienen später auf der oben abgebildeten Savoy LP, auf der die komplette Session (acht Stücke, ein alternate take von jedem der vier Titel) zu hören war. Im Mosaic Set findet sich die Session am Anfang von CD2, da auf CD1 die beiden Alben zusammengestellt sind, die Stitt mit grösseren Ensembles eingespielt hat. Das erste (sein zweites Roost Projekt) war dabei das einzige 10″ Album unter den 14 Roost-LPs, die in 18 Sessions entstanden (die obige Savoy-Scheibe ist dabei nicht mitgezählt). Stitts Vertrag war anscheinend bis 1956 exklusiv, denn erst ab da fing er an, neben Roost auch für Verve und Argo aufzunehmen.

      In zwei Sessions entstand im März und November 1953 die erste Roost-LP: Sonny Stitt Plays Arrangements from the Pen of Johnny Richards (RLP 415). Johnny Richards hatte u.a. für Dizzy Gillespie und Boyd Raeburn arrangiert, sein grösster claim to fame waren allerdings seine Arrangements für Stan Kentons ganzes 1956er Album „Cuban Fire“. Mit sieben Musikern erzeugt Richards einen sanften und eher tiefen Sound, über den Stitt zu seinen Solo-Flügen abheben kann. Das Ensemble bestand aus Don Elliott (mellophone), Kai Winding (tb), Sid Cooper (ts/picc), George Berg (bari) sowie einer exzellenten Rhythmusgruppe: Horace Silver (p), Charles Mingus (b) und Don Lamond (d). In der zweiten Session ersetzten Jerry Sanfino (ts/picc), Al Williams (p) und Jo Jones (d) die Kollegen Cooper, Silver und Lamond. Zudem stiess ein Conga-Spieler (Santos oder Luis Miranda) hinzu. Stitt teilte seine Zeit gleichmässig zwischen dem Alt und dem Tenor auf.
      Im Opener „Sancho Panza“ entwickelt Richards einen enorm reichen Sound über einem charmanten Latin-Beat. Zwischen Stitts tollen Tenorsoli ist ein sehr effektvolles Posaunensolo von Kai Winding zu hören (sein Einstieg lässt sofort aufhorchen!). Cooper spielt im Thema Piccolo, hinter Stitt wechselt er aber aufs Tenor.
      „Sweet and Lovely“ ist eine wunderschöne Ballade, die Stitt (am Altsax) in Parker-Manier präsentiert: lange Phrasen des Themas werden mit komplexen, rasanten Zwischenrufen verbunden. Richards‘ Arrangement erzeugt eine flächige Vorstellung von wechselnden Farben. Winding spielt ist in der Bridge zu hören, wieder sehr effektiv.
      „If I Could Be with You“ ist ähnlich angeleg, Stitt wieder am Altsax, das Ensemble im Hintergrund, nur mit einer einzigen Phrase hervortretend. Mingus‘ Bass ist über die ganzen Sessions hindurch immer wieder mal kurz an der Oberfläche zu hören, ohne dass er sich je aufdrängen würde.
      Das letzte Stück der ersten Session präsentiert Stitt wieder am Tenor und ist Jack Hooke gewidmet, Reigs Geschäftspartner. In „Hooke’s Tours“ wird wieder das Piccolo den tiefen Tönen gegenübergestellt. Stitts Solo ist sehr toll, er gräbt tief in die Musik, swingt wie der Teufel, aber klingt dabei stets locker und entspannt (gemäss Stewart findet sich in seinem zweiten Chorus die Phrase, die Ray Bryant später zu seinem Stück „Later“ ausbauen sollte – kenne ich bisher nicht). Kai Winding kriegt wieder eine kurze Bridge und nutzt sie sehr effektvoll.
      Die zweite Session beginnt mit „Loose Walk“, einem Blues, der anscheinend von Chris Woods stammt (der ihn um 1951 aufgenommen hat) – Stitt hat später seinen Namen davorgesetzt. Clifford Brown hat ihn 1954 als „Blues Walk“ mit Max Roach aufgenommen und seinen Namen davorgesetzt. Als Woods‘ eigene Version in den 70ern bei Delmark erschien nannte er das Stück „Somebody Stole My Blues“. Stitt spielt Tenor, das Ensemble baut sich langsam auf, Mirandas Congas geben dem Rhythmus etwas Biss, wieder ist Mingus‘ Bass stark zu spüren. Winding kriegt nach Stitts erstem Durchgang ein längeres Solo (zwei Chorusse) und danach steigt Stitt mit einem klassischen Lester Young-Lick wieder ein: er spielt das mittlere C fünfmal, aber mit unterschiedlichen Griffen, um die Klangfarbe zu variieren (und genau bei Stitts Wiedereinstieg scheint ein übler Edit vorhanden zu sein?).
      Richards und Stitts „Pink Satin“ klingt stark nach Standard, ein sehr schönes Stück, das zuerst von einer leicht mysteriösen Aura umgeben ist, dann aber ins Hübsche kippt. Auch im folgenden „Shine On Havest Moon“ spielt Stitt Altsax, das Tempo ist mittelschnell, sein Spiel zupackend und vorwärtsdrängend. Winding ist noch einmal kurz zu hören, aber Stitts Linien – manche von ihnen in double time und alle gespickt mit brillanten Einfällen – sind das, worum’s hier geht.
      Das letzte Stück ist „Opus 22“, das wieder mit Latin-Rhythmen von Miranda aufgepeppt wird, zudem ist da auch wieder die Flöte, die mit dem tieferen Blech kontrastiert. Stitt setzt gegen Ende des Themas am Tenor ein und beginnt sein schönes Solo.

      Das zweite Roost-Album von Sonny Stitt war zugleich das erste 12″-Album: Sonny Stitt Plays Arrangements from the Pen of Quincy Jones (LP-2204). Zu diesem Zeitpunkt war Stitt bereits häufig als single unterwegs und spielte mit verschiedensten Rhythmusgruppen. So hatte er im Vorjahr in Boston im Hi-Hat Live-Aufnahmen für Roost gemacht. Manchmal war er aber auch mit All-Star-Bands unterwegs, so hat er im August 1955 in Cleveland mit George Wallington, Oscar Pettiford und Jo Jones gespielt.
      Jones und Pettiford waren mit im Studio, als Stitt im September und Oktober 1955 ein von Quincy Jones arrangiertes Programm einspielte. Ebenfalls dabei waren Hank Jones, Freddie Green, Anthony Ortega (fl/as), Seldon Powell (ts) und Cecil Payne (bari). Die Blechbläser in der ersten Session waren Jimmy Nottingham & Ernie Royal (t) und J.J. Johnson (tb). Stitt spielt ausschliesslich Altsax.
      In „My Funny Valentine“ spielt Stitt mit grossem, warmem Ton, das Ensemble schwillt unter ihm manchmal kurz etwas an. Zur Sache geht’s dann in „Lover“. Jones treibt die Band von den Drums, Freddie Green gibt der Rhythmusgruppe diesen Extra-Basie-Kick. Stitt bläst entfesselt, aber immer auch im Dienst der Melodie.
      „Sonny’s Bunny“ von der 1952er Session wurde von Jones in eine Art stop and go-Arrangement gepackt. Der erste Solist ist Jimmy Nottingham, ein Big Band Lead-Spezialist, der schon bei Basie gespielt hatte. Stitt bläst rasante double time-Linien, die für einmal wenig Biss haben, dafür umso entspannter daherkommen. Jones folgt mit einem sparsam swingenden Piano-Solo. Mit Gershwins „Love Walked In“ endet sie erste Session. Im Ensemble wechseln Stitt und das Ensemble sich ab – Quincy Jones‘ Arrangements alter Standards sind gelungen und machen grossen Spass!
      In der zweiten Session spielen Thad Jones & Joe Newman (t) sowie Jimmy Cleveland (tb) statt Nottingham, Royal und Johnson, sonst ist die Band unverändert. Im Mosaic-Set sind von allen Stücken ausser Tadd Damerons „If You Could See Me Now“ zuvor unveröffentlichte alternate takes zu hören (die am Ende der CD programmiert sind). Damerons Klassiker öffnet die Session, Stitt spielt das Thema, spärlich begleitet. Pettifords Bass hat viel weniger Kraft als Mingus, aber sein warmer und menschlicher Sound dringt ebenso kräftig durchs Ensemble durch und bildet hier beinahe eine Gegenstimme zu Stitt. Dieser bleibt im Thema sehr nahe an Damerons Melodie, nur selten schleichen sich zusätzliche, bluesige Phrasen ein. Bluesig ist danach Stitts Solo, das zu weiten Teilen aus double time-Läufen besteht aber dennoch nie die balladeske Stimmung verrät.
      In Quincy Jones‘ Blues „Quince“ ist Pettiford zum Auftakt als Solist zu hören. Sein schöner, geschmeidiger Ton und seine flinken Linien überzeugen. Es folgt Hank Jones, während Pettiford walkt und Jo Jones leise einsteigt. Nach dem Thema folgt Thad Jones für ein tolles kurzes Solo, bevor Stitt zum Zug kommt und ein tolles, eindrücklich sauber artikuliertes Blues-Solo bläst. Der master take ist etwas schneller, Pettiford und Jones wirken lebendiger, Thad ist wieder sehr verspielt, Stitt spielt ein völlig neues Solo und wird in den letzten Chorussen vom Ensemble begleitet.
      In „Come Rain or Come Shine“ schmückt Stitt das Thema sehr frei aus. Im master take klingt er sicherer (im alternate take gibt’s ein paar zögerliche Momente im Thema), setzt als dritte Phrase im Solo gleich an wie im alternate take, entscheidet sich dann aber auf halbem Wege anders – man kann hier lauschen, wie Stitt ein Solo konstruiert. Im alternate take ist die zweite Phrase (ab 2:08) des Solos eins seiner typischsten Licks, und wie er danach in double time fällt ist klasse! Die Band bleibt im Hintergrund, auch die Rhythmusgruppe begleitet sehr zurückhaltend, und wieder fällt dabei Pettifords starker Bass auf.
      Auch das letzte Stück „Stardust“ ist in zwei Takes zu hören. Hier wird Stitt nur von der Rhythmusgruppe begleitet. Beide Versionen sind grossartig, Stitt klingt direkt und aufrichtig. Zan Stewart schreibt: „He’s like a great singer: we perceive the truth in what he’s playing.“ Auch hier ist Stitt im master take gefestigter, wirkt entspannter. Und er umschmückt Hoagy Carmichaels schönes Thema mit seinen eigenen Statements.
      Dieses exzellente Album erhielt in Down Beat fünf Sterne. Ich gebe ****1/2.

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      #8136989  | PERMALINK

      alexischicke

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      Ja „Stardust“ hat einen schwierigen Übergang zwischen Intro und Chorus.Stitt spielt die Skala schön hoch und schafft einen mühelosen flüssigen Übergang. Das können nicht viele so elegant wie er.

      Höre gerade CD 5 der Roost Box! Sehr entspannte Session mit Jimmy Rowles.

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      #8136991  | PERMALINK

      fef

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      gypsy tail wind… Ich würde das nicht allzu stark ideologisch (mit Markt vs. Kunst oder so) aufladen wollen.

      Ja! „Markt“ ist kein gutes Wort. Irgendwie ist alles Markt. Vielleicht ist Stimmungs-(Mood)-Musik oder so etwas besser. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls ist es nicht so spannend und anregend für mich.

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      #8136993  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      FefJedenfalls ist es nicht so spannend und anregend für mich.

      Das reicht ja an sich schon als Begründung :-)

      Es gibt ja auch Dinge, mit denen ich dann nichts mehr anfangen kann oder Mühe habe, vom Sound der ganzen Musik (oder vom Sound einzelner Instrumente) abzusehen und das ganze im Ohr zu behalten. Bei Stitt fällt mir das indes verglichen manchem anderen aus den 70ern nicht so schwer. Allerdings hat Stitt auch die Kurve wieder gekriegt und für Cobblestone und Muse (und andere) eine neuerliche Reihe toller akustischer Alben gemacht – Bebop mit Souljazz- und R&B-Ankängen wohl, man merkt schon, dass zwischenzeitlich Sachen wie die Alben mit Ammons und Patterson liegen.

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      #8136995  | PERMALINK

      gypsy-tail-wind
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      Ab Dezember 1955 setzt eine lange Reihe von Quartett-Alben von Stitt ein (nur auf der ersten von zwei Sessions fürs erste ist zudem Freddie Greens Gitarre zu hören). Das erste Album hiess Sonny Stitt Sonny Stitt Sonny Stitt… oder aber Sonny Stitt Plays (LP 2208) und Stitt (der auf den nächsten drei Alben nur am Altsax zu hören ist) wurde von ein paar der besten Musiker begleitet, die man Mitte der 50er Jahre in New York für eine solche Session finden konnte: Hank Jones, Wendell Marshall und Shadow Wilson (sowie, wie erwähnt, am ersten der beiden Tage, Freddie Green).
      „There Will Never Be Another You“ setzt einen swingenden Auftakt, Stitts Solo ist meisterhaft. Intensiv bläst Stitt in „Yesterdays“, wechselt Fragmente des Themas mit seinen eigenen Einwürfen ab und wird gefolgt von einem schönen Jones-Solo. „The Nearness of You“ gerät leichter, Jones ist ein perfekter Begleiter für solches Material. Am Ende der CD (CD2 des Mosaic-Sets) findet sich zudem ein ebenbürtiger alternate take. Die Session endet mit „Biscuit Mix“, einem groovenden mittelschnellen Stitt-Original, das abgesehen von einem kurzen Piano-Intermezzo ganz Stitt gehört und ihn in boppiger Spiellaune zeigt.
      Die zweite Session beginnt mit „Afterwards“, einem schnellen Stitt-Original über rhythm changes. Wir kriegen ein eindrückliches Solo zu hören – sowohl technisch wie auch musikalisch, improvisatorisch. Der master take von „If I Should Lose You“ zeigt Stitt mit saftigem Ton in mittelschnellem Tempo, wieder wechselt er zwischen Phrasen aus dem Thema und seinen eigenen Kommentaren, zitiert im Solo dann länger aus „Softly as in a Morning Sunrise“ und „The Kerry Dancers“. Jones‘ Piano-Solo hat etwas tänzerisch Leichtes. Im später entstandenen alternate take ist Stitt in noch besserer Form, geht die Töne schärfer an, zitiert zuerst „The Mexican Hat Dance“ und dann „Softly as in a Morning Sunrise“.
      Mit „Blues for Bobby“ folgt der langsame Blues, den wir schon bald auf fast jedem Stitt Album zu hören kriegen – und der für mich persönlich fast immer zu den besten Momenten gehört (siehe auch meine Kommentare zu den Verve-Aufnahmen aus den späten 50ern oben)! Dieses Genre des langsamen Bop-Blues hat Charlie Parker wohl mit seinem „Cool Blues“ erfunden. Das Intro erinnert stark an „All the Things You Are“, einen staple der Bopper, danach geht’s aber ganz anders zur Sache, Stitt biegt und dehnt seinen Ton, erzählt von Pein und Schmerz, aber auch von frohen Momenten. Jones folgt und beweist einmal mehr, wie gut er die Kunst beherrscht, genau den richtigen Ton im richtigen Moment zu spielen. Das tolle Album endet mit „My Melancholy Baby“ im mittelschnellen Tempo und mit tollen fills von Shadow Wilson (der in kleinen Formation oft sehr zurückhaltend klingt, der aber auch einer der ganz grossen Big Band Drummer war).
      Im Down Beat erhielt das Album ****1/2 und dem schliesse ich mich gerne an!

      Ende 1956 oder am 23. Januar 1957 entstand das nächste Stitt-Album für Roost – die exklusiven Jahre waren jetzt vorbei. Zum ersten Mal ist Stitt mit einer eigenen working band zu hören: Dolo Coker (p), Edgar Willis (b) und Kenny Dennis (d) passten perfekt zu ihm. Da Zan Stewart es schon so schön zusammenfasst zitiere ich ihn rasch:

      Coker was a Bud Powell disciple who had played with Kenny Dorham before his two-year off-and-on relationship with Stitt. After moving to Los Angeles, he recorded with Dexter Gordon and Art Peper, and as a leader for Xanadu Records. Willis was a solid player later known for work with Ray Charles and Hank Crawford. Philadelphia native Dennis – who from 1960-69 was married to and performed with singer Nancy Wilson – had by this time played with Earl Bostic and Erroll Garner. he would record in 1957 with Sonny Rollins (three tracks for Period Records) and Johnny Griffin (THE CONGREGATION, on Blue Note) and in 1958, at Miles Davis‘ recommendation, with Michel Legrand (on the four tracks that feature Davis and John Coltrane on LEGRAND JAZZ, Columbia). He freelanced in New York – Monk and Charles Mingus both used him – before relocating to Los Angeles in the early ’60s where he remains active.

      ~ Zan Stewart (July 2001), Liner Notes zu „The Complete Roost Sonny Stitt Studio Sessions“, Mosaic MD9-208, 2001, S. 10.

      Kenny Dennis erinnerte sich auch in einem Interview (Stewart nennt es „recent“, er schrieb seine Notes im Juli 2001) an die Zeit mit Stitt:

      „Stitt really tester your mettle,“ said Dennis. „You either could play with him or you couldn’t. Those days, as we toured around the country – this band was together at least a year – he would invite people to sit in. He’d call something simple, like a blues, then run it through the 12 keys [Stitt was renowned for being able to play any tune in any key]. He’d test everybody. It was really a challenge to play with him on any instrument at any level, period.
      „In the studio, he wanted perfection but he was very supportive, protective about having his band, his rhythm section. He wasn’t going to take any guff, but I think Teddy Reig probably wanted New York „killers“ and not players he didn’t know.“

      ~ Zan Stewart (July 2001), Liner Notes zu „The Complete Roost Sonny Stitt Studio Sessions“, Mosaic MD9-208, 2001, S. 10.

      Stitt setzte sich durch und nahm mit dieser Band ein tolles Album auf, das den Titel 37 Minutes & 48 Seconds with Sonny Stitt (LP 2219) erhielt. Alle vier erhaltenen alternate takes von dieser Session formten zusammen mit der 1952er Roost-Session das oben erwähnte Savoy-Album Symphony Hall Swing.
      Los geht’s mit „What Is This Thing Called Love“ und der Groove der Band wird rasch hörbar – sehr in the pocket, perfekt eingespielt, erdig. Ganz anders als die elegante Band um Hank Jones auf dem Vorgänger. Stitt greift in die Vollen, swingt hart und zeigt sich von der besten Seite. „Sweet Georgia Brown“ ist zweimal zu hören, im master take zitiert Stitt am Ende seines Solos erneut eine Phrase aus „Softly as in a Morning Sunrise“ (im alternate take taucht wieder die erste Phrase in den fours auf). Wie schon im ersten Stück hören wir erneut kurze Soli von Coker und Willis. Das Tempo ist sehr schnell, Stitts Soli klingen sehr gesanglich. Im alternate take ist das Tempo ein wenig lansgamer, Stitt und Dennis scheinen auf dem maste etwas mehr Drive zu haben, Coker ist beide Male exzellent und auch Willis gibt sich keine Blössen.
      Mit Blues for Yard wird der Parker-Bezug (der schon in den Soli über „Sweet Georgia Brown“ deutlich wurde) noch klarer. Ein langsamer, themenloser Tribute an den Meister. Die Band klingt sehr zusammen und jeder der drei Takes klingt frisch und neu – bloss das Ende der ersten Version ist etwas ungeschickt geraten. Mit „Harlem Nocturne“ wechselt Stitt die Schattierung, bleibt aber beim langsamen Tempo. Cokers Intro ist effektiv und setzt die Stimmung, Stitt spielt die Noten hart an und streut seine rasenden Linien ein – wunderbar!
      Es folgt gleich noch eine Ballade, die Stitt aber im mittlschnellen Tempo angeht: „Blue Moon“. Das unübliche Tempo gelingt gut und Dennis treibt Stitt im Solo kräftig an. Coker arbeitet – seinem Boss gar nicht unähnlich – mit rhythmischen Ideen, die er mittels Pausen von seinen schnelleren Linien abgrenzt.
      Mit „Because of You“ grub Stitt einen alten Standard aus, der sich in seinen Händen sehr gut als Vehikel für eine Jazz-Version eignet. Stitt klingt exzellent und die Band swingt hart und sehr geerdet. Coker streut eine kurze Referenz an Bud Powell ein, indem er „Parisian Thoroughfare“ zitiert, und Willis steuert erneut ein kurzes Solo ohne Fehl bei.
      Stitts „Windy Ride“ ist ein mittelschneller Blues, den Coker am Piano eröffnet. Stitt wärmt sich mit vier Chorussen (und mir scheint etwas Problemen mit seinem Blatt) auf, überlässt das Feld dann Coker und Willis, nur um mit sieben weiteren Chorussen erst richtig aufzutrumpfen. Am Ende folgen fours mit Dennis.
      In Gershwins „But Not for Me“, das im bouncenden Medium-Tempo gespielt wird, zitiert Stitt schon im Thema zweimal „Man with the Horn“, soliert dann relaxed im double time Feeling und streut ein paar unglaubliche Läufe ein. Dennis treibt ihn mit den Besen an und Coker folgt mit einem flüssigen Solo.
      Das tolle Album klingt mit Parkers „Scrapple from the Apple“ aus, das die Akkorde von „Honeysuckle Rose“ borgt, die Bridge aber von „I Got Rhythm“ übernimmt. Stitt ist inspiriert, sein Solo ist ganz klassischer Bop. Die Band unterstützt ihn empathisch und Coker trägt auch ein tolles Solo bei.
      Damit endet wohl eins der allerschönsten Stitt-Alben. Kenny Dennis ist kein Lieblingsdrummer von mir, er scheppert manchmal etwas gar viel… aber er spielt immerhin auf einem meiner allerliebsten Hardbop-Alben, dem erwähnten „The Congregation“ von Johnny Griffin. Bei AAJ gibt’s ein paar zusätzliche Infos zu ihm: http://www.allaboutjazz.com/php/musician.php?id=11655

      Am Ende der Abschnitte zu diesem Album unterläuft Zan Stewart im Mosaic-Booklet übrigens ein Fehler: nicht „Only the Blues“ sondern „Personal Appearance“ heisst das Verve-Album, das dieselbe Band mit Bobby Timmons am Piano ein paar Monate später für Verve aufnehmen sollte (s.o.).

      Fürs nächste Album, Sonny Stitt with the New Yorkers (LP 2226) waren Hank Jones, Wendell Marshall und Shadow Wilson zurück. Stitt beschränkt sich erneut ganz aufs Altsax. Aufgenommmen wurde das Album (sowie drei erstmals in der Mosaic-Box veröffentlichte alternate takes am 30. August 1957 (gemäss dem Mosaic-Booklet, Lord gibt den 28. Juni an).
      Den Auftakt macht das rasante „Cherokee“, das Charlie Parker als „Ko-Ko“ zu einer Hymne der Bopper machte. Stitt ist schlicht grossartig, schon im Them, das er mit rasenden Phrasen ausschmückt. Jones zeigt in seinem Solo mit kurzen Einwürfen, dass dieses Tempo ihm nicht die geringste Mühe bereitet. Nach Marshalls Solo zitiert Stitt bei seinem Wiedereinstieg in der bridge zwei Phrasen, die Parker genau an derselben Stelle in „Ko-Ko“ gespielt hatte. Stitt nutzt sie als Ausgangspunkt und wechselt von da an wieder in seine eigene Sprache.
      Mit „Engos, the Bloos“ (auf der LP „Ergo, the Blues“ überschrieben) sind wir im mittelschnellen Blues-Territorium und Stitt blüht auf. Im alternate take wechselt er im dritten Chorus dazu über, die komplexeren changes zu spielen, die Parker seinem „Blues for Alice“ zugrunde gelegt hatte. Im master spielt Stitt von Anfang an über diese Akkorde, die zusätzliche melodische Möglichkeiten öffnen. Stitt ist verspielt, melodieselig, die Ideen fliessen nur so dahin, und auch Hank Jones spielt auf beiden Versionen grossartige Soli.
      Wie auf den beiden vorangegangenen Roost-Alben spielt Stitt auch hier nur Altsax. Er spielt also auch seine Version des Tenor-Meilensteins „Body and Soul“ am kleineren Horn und seine Interpretation gehört wohl zu den besten. Sein Ton ist wunderbar, seine Intonation absolut perfekt und es ist eine Freude zu lauschen, wie er schon im Thema eine lupenreine Bop-Phrase einstreut und später noch Phrasen aus „Prisoner of Love“, „If You Could See Me Now“ und „Cocktails for Two“ einstreut – und das immer auf völlig musikalische und natürliche Weise tut, ohne den Fluss seines Spiels zu unterbrechen.
      Jones‘ Begleitung auff „I Didn’t Know What Time It Was“ ist wohl so nahe an Perfektion wie das nur geht. Er leitet das mittelschnelle Stück ein, füttert Stitt mit anregenden Ideen und spielt gegen Ende selber ein kurzes aber tolles Solo – und das alles mit diesem ganz besonderen, weichen Anschlag und schönen Ton.
      „The Best Things in Life Are Free“ ist etwas schneller, Stitt ist Bestform, taucht tief in die Melodie ein und auch sein Solo ist sehr melodiös und lyrisch – und schlichtweg grossartig. Ebenso Jones mit seinem Mix aus Tatum, Wilson und Powell. Man achte auch auf Teddy Wilson, der zwar stets im dezent Hintergrund bleibt – aber das heisst nicht, dass seine Begleitung nicht reich an Nuancen und Abwechslung ist!
      Beide Takes von „People Will Say We’re in Love“ stecken voller wundersamer Ideen Stitts und auch Jones trägt beide Male viel bei. Shadow Wilson begleitet den alternate take mit Besen, den damals veröffentlichten, schnelleren und kürzeren master take mit Sticks.
      Mit „Bloosey“ sind wir wieder im Blues-Territorium, dieses Mal allerdings in etwas schnellerem Tempo als in „Engos“. Kaum ist das vernachlässigbare Thema durch geht Stitt ab, bläst ein wunderbares Solo voller Einfälle und mit absolut perfekter Phrasierung. Jones greift Stitts letzte Phrase auf und beginnt sein tolles Solo von da. Am Ende rifft Stitt mit der Band ein wenig, und finis.
      „Bird’s Eye“ borgt den head von Parkers „Steeplechase“ (Savoy, 1948). Stitt konstruiert ein klassisches Bebop-Solo, das ein paar Parker-Phrasen variiert. Jones wird von Wilsons ride angetrieben und dieser lässt gegen Ende endlich auch mal etwas los und spielt fours mit Stitt.
      Den Abschluss der Session macht die wunderschöne Balladen-Interpretation von „It Might as Well Be Spring“, von Stitt förmlich gesungen und mit einigen schnellen Einwürfen ausgeschmückt. Das Solo gehört Jones, der von Marshall und Wilson sanft gebettet wird. Der alternate take ist etwas langsamer, dauert ein ganzes Stück länger und und das Ende wird nicht ausgeblendet.
      Ein weiteres grossartiges Stitt-Album, das wieder von der eleganteren Art des ersten Albums mit Jones ist und in deutlichem Kontrast zu den erdigeren Alben mit der working band oder dem im Oktober eingespielten Verve-Album „Only the Blues“ steht.

      Mit Roy Eldridge sowie Jo Jones gesellte sich Stitt am Abend des 7. Juli 1957 zum Trio von Oscar Peterson (mit Herb Ellis und Ray Brown), um an dessen Konzert am Newport Jazz Festival zu spielen. Das Album hiess The Oscar Peterson Trio with Roy Eldridge, Sonny Stitt & Jo Jones (Verve MGV-8239). Nach dem öffnenden Trio-Set werden Jones, Eldridge und Stitt auf die Bühne gebeten und die Band rompt frohen Mutes durch den „Monitor Blues“ (mit Stitt am Tenor). Es folgt Eldridges Balladen-Feature „Willow Weep for Me“, dann Stitt am Altsax mit „Autumn in New York“ und zum Ende noch ein Romp, „Roy’s Son“, wie „Monitor Blues“ Eldridge und Stitt gemeinsam zugeschrieben. Hinter Roy’s Son verbirgt sich ein wohlbekannter Bebop-Knaller, nämlich Denzil Bests „Wee“ („Allen’s Alley“), das Stitt schon im vorigen Oktober mit Dizzy Gillespie und Stan Getz für „For Musicians Only“ eingespielt (s.o.). Stitt spielt Altsax im Thema und im ersten Solo, später greift er zum Tenor und zum Abschluss folgt ein furioser Dialog mit Eldridge (der hier wesentlich bissiger scheint als Stitt).
      Mit drei Virtuosen, einem tollen Drummer und den beiden eingespielten Begleitern Petersons fliegen schnell die Funken, die Subtilität bleibt dabei wenig überraschend etwas auf der Strecke. Es war wohl toller, das Konzert damals live zu erleben, als es heute zu nachzuhören.

      Im Oktober 1957 war Stitt mit Jazz at the Philharmonic unterwegs – in diesem Zusammenhang entstand auch das erwähnte „Only the Blues“. Das Album „The JATP All Stars at the Opera House“ (Verve MGV-8267) ist mir leider (abgesehen vom Track „Stuffy“ ohne Stitt – er findet sich als Bonus auf der CD „Coleman Hawkins & Roy Eldridge at the Opera House“) nicht bekannt. Stitt ist auch auf den beiden Jams vertreten, die am Ende von „Ella Fitzgerald at the Opera House“ stehen (neben ihm und Eldridge, wirkten auch J.J. Johnson sowie eine halbe Legion Tenorsaxer mit: Lester Young, Illinois Jacquet, Coleman Hawkins, Stan Getz und Flip Phillips). Im Dezember folgten dann die Aufnahmen mit Dizzy (s.o.). 1958 war ein etwas ruhigeres Jahr. Die erste Aufnahme stammt vom 2. April (und nicht wie Lord sagt vom 29. Januar 1959!) und erschien auf dem nächsten Roost-Album, „The Saxophones of Sonny Stitt“. Davon demnächst mehr…

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      The Saxophones of Sonny Stitt (LP 2230) ist das erste von fünf aufeinanderfolgenden Alben mit Jimmy Jones am Piano. Charlie Persip spielt auf den ersten beiden, Roy Haynes auf den folgenden dreien Schlagzeug. Der Bassist ist unbekannt, abgesehen vom zweiten und fünften Album, wo es möglicherweise Aaron Bell ist.
      Die Stücke sind durchweg kurz gehalten, möglicherweise war Reig darauf aus, die Chance für airplay etwas zu erhöhen? Das Album war in derselben Reihenfolge programmiert, in der die Session ablief, der Opener war also „Happy Face“, einem Blues mit mehr als einem Touch Swing-Ära im Thema, den Stitt auf dem Tenor spielt. Im ersten Solo-Chrous hören wir, wie Stitt nach einem „start-stop“ mit abfallenden Triolen weiterfährt – das gab’s immer wieder bei ihm. Später klingt er streckenweise ganz stark nach Lester Young, hängt sich an gewissen Tönen fest. Aber vor allem swingt er! Jones beginnt sparsam, anfänglich wie so oft mit deutlichen Ellington-Anklängen, später mit einfachen repetitiven Motiven, die an Horace Parlan gemahnen.
      Auch „Am I Blue“ spielt Stitt am Tenor, schreitet durch zwei Chorusse voller Ideen, sehr gelassen und mit aufmerksamer Begleitung von Jones und Persip, der die Band vor sich hin kickt (auch er hatte einige Big Band Erfahrung gesammelt und war gerade dran, sich mit knapp 30 Jahren den Status eines Veteranen zu erspielen).
      Für die Ballade „I’ll Be Seeing You“ wechselt Stitt aufs Altsax, die Performance ist kurz aber kraftvoll und läuft unter dem Genre walking ballad. Stitt wechselt zurück zum Tenor für „When You’re Smiling“, das Stitt kraftvoll und immer vorn am Beat interpretiert und die Band regelrecht antreibt. Es folgt „In a Little Spanish Town“, eine charmante kleine Nummer, die Stitt am Alt über den üblichen Latin-Beat vorstellt. Fürs Solo wechselt die Band in einen swingenden 4/4 über und das mittelschnelle Tempo ist perfekt für Stitt und seine unendlichen Ideen – er mischt Melodiefragmente, Bebop-Licks und rasante Linien. Jones kriegt ein längeres Solo und spielt im zweiten Chorus ein paar tolle akkordische Passagen.
      Es folgt „Them There Eyes“ mit Stitt am Tenor. Jones ist energetisch in der Begleitung, im Solo spielt er vor allem kleine Figuren – und Persip kickt die Band an. Stitt spielt „Back in Your Own Back Yard“ in relaxtem mittelschnellem Tempo mit dem Bass streckenweise in 2/2. Fürs Solo wechselt das Stück in einen rollenden 4/4, Jones spielt fast durchgängig auf jeden Beat einen Akkord, während Stitt zwischen entspannt und zupackend wechselt, sich mal zurücklehnt, mal mit vibrierenden Linien und brüllendem Ton drauflosstürmt. Jones markiges Solo bietet einen tollen Kontrast.
      In seinem Bop-Blues „Foot Tapper“ zitiert Stitt (am Altsax) Artie Shaws „Moonray“, wechselt gehaltenen Töne und kleine Motive mit den typischen rasanten Läufen ab. Persip ist deutlich präsenter in der Begleitung als Shadow Wilson und das kommt Stitt durchaus gelegen. Für die kurze Version von „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ (Jones spielt das berührende Solo) und den „Shadow Waltz“ – das erste Stück im ganzen Roost-Set, und überhaupt eins der wenigen in Stitts Werk, das nicht in 4/4 gespielt wird – wechselt Stitt wieder zum Tenor. Den Abschluss macht das passend betitelte „Wind-Up“, ein weiterer themenloser Blues, in dem Stitt in alle Richtungen losprescht, von einem lebendigen Persip angetrieben.

      Das zweite Album mit Jimmy Jones hiess A Little Bit of Stitt (LP 2235) und wurde etwas über ein Jahr später, am 10. April 1959 eingespielt. Persip war erneut dabei, und der unbekannte Bassist könnte wie gesagt Aaron Bell sein. Das Mosaic-Set enthält zuvor unveröffentlichte alternate takes von „Laura“ und „I’m Confessin (That I Love You)“, die beide jeweils vor den veröffentlichten Versionen eingespielt wurden. Die Stücke waren erneut eher kurz gehalten und Stitt spielte dieses Mal wieder mehr Altsax.
      Mit „Star Eyes“ beginnt das Album mit einem Stück, das klar mit Parker assoziiert ist – und perfekt geeignet für Stitts Erfindergeist, seine Auschmückungen, rasanten Läufe, und ein Solo, das stets die Melodie im Hinterkopf behält.
      Die Ballade „Laura“ folgt. Im master take spielt Stitt etwas sanfter, im alternate take zitiert Stitt wieder mal ausführlich („Man with the Horn“, „The Kerry Dancers“, „Easter Parade“) und in beiden spielt er tolle Solo-Kadenzen am Ende. Für den swingenden „J.B. Blues“ wechselt Stitt erstmals zum Tenor. Stitt greift diverse liebe Ideen, Einfälle und Tricks auf, hält und shakt auch mal eine Note wie dies Gene Ammons gerne tat. Jones zeigt erneut, dass er mit dem Blues umgehen konnte. Auch „Slow Boat to China“ wurde von Parker erstmals als Jazz-Vehikel verwendet. Stitt bleibt auf dem Tenor und spielt sehr entspannt. Sein Spiel hier hat eine zarte aber auch eine gehärtete Seite. Jones folgt mit einem verspielten Solo, in das er ein paar an Ellington gemahnende Akkorde einstreut. Stitt kehrt mit einem zweiten kurzen Solo zurück und beendet das Stück.
      Das nächste Stück, „Cocktails for Two“, haben wir zuvor schon als Zitat gehört, hier folgt die volle Version – Stitt ist wieder am Alt. Jones untermalt Stitts gehobene Cocktail-Stunde mit etwas kühlen Akkorden und spielt dann selbst ein tolles akkordisches Solo – eine grossartige Performance!
      Zum dritten und letzten Mal hören wir Stitt in den beiden Versionen von „I’m Confessin'“ am Tenor. Der alternate take ist brennend, schnell, während der veröffentlichte Take langsamer, sanfter, aber auch voller Anklänge an den Blues ist… und es schleichen sich auch einige double time Läufe ein.
      „When the Red, Red Robin (Comes Bob, Bob Bobbin‘ Along)“ mag nicht als typisches Jazz-Vehikel erscheinen, aber Stitt macht das beste daraus – und das ist durchaus hörenswert und ziemlich rührend.
      Es folgt eine nachdenkliche Version des schönen „Don’t Take Your Love from Me“ von Henry Nemo – ein Stück, das viel zu selten zu hören ist! Stitt liebkost die Töne, schmückt das Stück mit seinen Linien aus, bleibt aber sanfter im Ton, etwas luftiger als üblich. Im Solo bleibt er stets dem Thema verbunden und streut ein paar grossartige double time Läufe ein. Sublim!
      Und weiter geht’s mit „After the Late, Late Show“, einem Blues von Stitt – und schnell wird klar, dass er jetzt absolut on ist. Jones begleitet warm und sparsam, Stitt ist inspiriert, sein Solo wieder über weite Strecken sehr weich phrasiert (aber deswegen nicht weniger präszise), voller grossartiger Läufe und Ideen, intensiver Figuren, die ganz ans obere Ende des Instruments gehen, leidenschaftliche Schreie.
      Die Session endet dann mit „For All We Know“, und damit ist aber auch wirklich alles gesagt. Stitt spielt in einigen Stücken absolut spektakulär, die Band begleitet ihn sehr einfühlsam, weiss, wann zu treiben und wann zurückhaltend zu agieren. Im Closer ist das Tempo mittelschnell, die Band bounct, Stitts Ton ist warm und satt und das Stück bildet einen perfekten Abschluss.

      Zwischen „The Saxophones of Sonny Stitt“ und „A Little Bit of Stitt“ war Stitt übrigens nicht tatenlos gewesen. Im Juli 1958 trat er mit Sal Salvador in Newport auf (Ausschnitte daraus sind im – mir immer noch unbekannten – Film „Jazz on Summer’s Day“ zu sehen), er nahm zwei Quartett-Alben für Argo auf („Sonny Stitt“ und „Burnin'“, s.o.) und war zudem auch für Verve ein paar Mal im Studio („The Hard Swing“, „Sonny Stitt Plays Jimmy Giuffre Arrangements“).
      Bevor er sein nächstes Roost-Album einspielen sollte, war er zudem im Mai 1959 in Paris, wo für Verve das schöne Album „Sonny Stitt Sits in with the Oscar Peterson Trio“ eingespielt wurde (s.o.).

      Am 21. September 1959 enstand das dritte Roost-Album mit Jimmy Jones, A Sunny Side of Stitt (LP 2240). Roy Haynes sass jetzt am Schlagzeug, der Bassist ist wieder unbekannt. Jones und Haynes hatten von 1954-58 gemeinsam in der Begleitband von Sarah Vaughan gespielt und waren mmiteinander vertraut (zu hören mit Vaughan sind sie etwa auf „Lullaby of Birdland“ und „At Mr. Kelly’s“ auf EmArcy bzw. Mercury). Haynes hatte schon mit Lester Young (1947-49), Bud Powell (1949), Charlie Parker (1949-53), Stan Getz (zwischen 1950 und 1961, auch für Roost), Vaughan (1953-58) und auch mit Monk (1958) gespielt. Unter seinen Chefs fanden sich also einige von Stitts wichtigsten Vorbildern und auch der Mix von Swing und Bop (bei Stitt konkret: Lester Young und Benny Carter auf der einen und Charlie Parker auf der anderen Seite) ist gegeben.
      Mit „Day by Day“ öffnet die Session entspannt, Stitt spielt wieder vornehmlich Altsax. Es folgt „Don’t Worry ‚Bout Me“, das Stewart eine „symphonette in two minutes fifty seconds“ nennt. Stitt beginnt im Rubato, nur von Jones begleitet, soliert dann in time über der Band, bis diese stoppt. Es folgt eine grossartige Kadenz mit Piano und aus.
      Für den alten Blues-Klassiker „Red Top“ wechselt Stitt dann erstmals aufs Tenor. Haynes lässt die Snare rattern und treibt die Band locker an. Stitts Ton ist fett, er bringt wieder diesen Ammons-Trick mit der gehaltenen und geshakten Note, stürzt sich in Läufe, das volle Programm. Jones folgt mit ein paar zerstreuten Phrasen, dann mit seinen typischen locked hands Akkorden. Für „I Never Knew“ bleibt Stitt am Tenor, das Stück swingt schön vor sich hin, Stitt honkt kurz, Haynes gibt diesen kleinen Extra-Kick, der ihn so besonders macht, seinen snap crackle. Auch wenn Stitt hier nicht richtig Feuer fängt: eine mittelmässige Stitt-Performance ist meistens immer noch gut.
      Am Altsax präsentiert Stitt den anderen grossen Hoagy Carmichael-Klassiker „Skylark“. Hier ist wieder Stitt der Geschichtenerzähler, der so ehrlich ist, dass man ihm auf den Sechzehntel genau glaubt, was er uns hier auftischt. Kurz, präzis, meisterhaft. Im folgenden „I’ll Remember April“ verweist er kurz auf „In a Little Spanish Town“ und glänzt mit schellen Linien, präzisen Phrasen und Fragmenten aus dem Thema.
      Es folgt Artie Shaws bezauberndes „Moonray“, das Stitt zurückhaltend als eine Art walking ballad interpretiert. Dann folgt der „Old Fashioned Blues“, von Jones entsprechend eingeleitet. Stitt spielt mit sattem, singendem Ton, viel näher an Benny Carter denn an Parker. Aber da sind auch wieder die rasenden Läufe vor allem im ersten Solo-Chorus. Danach wird Stitt ruhiger, klagender, derweil Haynes schnattert, Jones tremoliert und der Bass erdig schreitet. Den Ausklang des Albums bildet dann die dritte Nummer mit Stitt am Tenor, „Hitsburg“, ein gefälliger Blues, der mit einem kleinen Latin-Intro von Bass und Piano öffnet. Stitt steigt verhalten ein und klingt nicht besonders involviert.
      Das ist überhaupt öfter so in dieser Session. Manches („Don’t Worry ‚Bout Me“, „Red Top“, „Skylark“) ist sehr schön, manches (etwa der „Old Fashioned Blues“) macht einfach Spass, aber insgesamt klingt Stitt hier selten so zwingend wie in den vorangegangenen Roost-Alben, er klingt hie und da so, als lasse er sich einfach noch etwas ausrollen. Das ist wie gesagt immer noch gut, wenn Stitt das macht, aber es fehlt dann eben das, was ihn sonst so faszinierend macht, der Hunger, dieser scheinbar nie endende Ideen-Strom, die sofortige Umsetzung aufs Instrument.

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      Das Jahr 1959 beendete Stitt mit den oben erwähnten Westküsten-Sessions für Verve, bei denen einiges an toller Musik produziert wurde. Im Januar 1960 trat er mit dem Trio von Barry Harris in Detroit auf und im Juni wurde er Mitglied des Quintetts von Miles Davis. Die Gruppe spielte im Juni im Hollywood Bowl in Los Angeles und dem Blackhawk in San Francisco, im Juli vermutlich in der Sutherland Lounge in Chicago und vom 2.-10. August im Village Vanguard in New York. Am 21. August traten sie am Randall’s Islandd Jazz Festival auf und George Hoeffer schrieb im Down Beat, dass Stitt Miles die Show gestohlen habe.

      Mitten in all diesen Aktivitäten fand Stitt im Sommer 1960 zweimal Zeit, für Roost ein Album aufzunehmen. Das erste heisst Stittsville (LP 2244) und präsentiert Stitt zu etwa gleichen Teilen am Alt- und am Tenorsax. Wieder waren Jimmy Jones, ein unbekannter Bassist und Roy Haynes mit am Start.
      Die Session beginnt mit „Angel Eyes“, einem wunderbaren Stück, dem Stitt den Respekt angedeihen lässt, es nicht allzu sehr auszuschmücken. Haynes gibt viele Impulse schon im Thema, der Medium-Groove macht grossen Spass, Stitt growlt beinahe zum Auftakt seines Solos, und streut auch später ein paar überraschende, nahezu schmutzige Töne ein. Stitt spielt kernig und voller Kraft, das Tempo ist perfekt für das Stück, die Kadenz am Ende gelungen – Stitt is on!
      „It All Depends on You“ folgt, Stitt übernimmt das bouncende two-beat Feeling, mit dem Miles so oft alte Standards präsentierte. Sein Altsax klingt leicht und luftig, Stitt geniesst es hörbar, sein Solo ist verspielt, kontrolliert, voller unglaublicher Läufe. Auch hier growlt er wieder ein wenig, streut ein wenig vom Thema ein – eine kurze tour de force von nur 2:47, aber die haben’s wirklich in sich!
      Für „Stormy Thursday“ wechselt er zum Tenorsax, Haynes trommelt einen fetten Backbeat, der Bass ist wieder im two beat Groove, Jones spielt rollende Akkorde. Stitt spielt quasi seine Version von „Night Train“, ob er sich einer verrauchten Bar oder einem Stripschuppen wähnt ist egal – das ist keine grosse Kunst, aber es macht grossen Spass!
      „Embraceable You“ ist einer der grossen Gershwin-Klassiker, Stitt spielt ihn referenzvoll am Altsax und bleibt durch die ganze Interpretation hindurch sehr nahe an der Melodie – klassischer Stitt.
      Dann kehrt er für die folgenden fünf Stücke zum Tenor zurück. Zuerst ist da der Standard „It Could Happen to You“ im mittelschnellen Tempo mit viel „snap“ von Haynes und solidem Bass. Die Band und Stitt swingen scheinbar mühelos, Haynes treibt Stitt mit seinem Geschnatter an, der streut einige seiner liebsten Klischees ein. Auch das wohl keine grosse Kunst, aber ein grosses Vergnügen bestimmt. Weiter geht’s mit mehr feinstem Gershwin: „But Not for Me“ im mittelschnellem Tempo und mit aggressivem, zupackendem Stitt.
      Eubie Blakes wunderschönes „Memories of You“ wird als Ballade präsentiert, Stitt spielt mit einem schönen Sound, zeigt, dass er auch eine ruhige Balladeninterpretation allererster Güte hinkriegt. Das Auf und Ab seiner Linien, wie er aus langen, komplexen Phrasen herausfindet und jedes Mal die perfekte Punktlandung hinkriegt, wie er überhaupt schnelle Linien spielen und dennoch die Balladen-Stimmung perfekt aufrechterhalten kann – das alles ist sehr eindrücklich!
      Im mittelschnellen bouncenden Tempo wird „I Cried for You“ präsentiert. Stitt swingt entspannt und gelassen – was für ein Kontrast zum vorangegangenen Stück! Es folgt die letzte Tenor-Nummer, der Blues „Bright as Snow“, der auf einem simplen Riff beruht. Stitt phrasiert präzise und leicht, sein Timing erinnert an Pres, da sind wieder die mit verschiedenen Griffen wiederholten Töne, da ein rasanter Lauf, dort ein paar Growls, hier ein kurzer Shake – und alles so unendlich locker dargeboten. Auch das eine tour de force, die am Ende viel länger als die effektiven 2:44 Minuten scheint.
      Den Abschluss dieses schönen Albums macht „Spinning“, ein weiterer Blues, dieses Mal aber am Altsax und mit mehr Biss phrasiert. Stitt scheint hier wieder wenig involviert, aber er klingt eben dennoch verdammt gut!

      Die zweite Session während Stitts Zeit mit Miles Davis fand am 8. August 1960 statt – die Band ist dieselbe (der Bassist wieder unbekannt), es wurden genügend Stücke eingespielt für ein ganzes Album und zwei weitere blieben noch für ein nächstes Album übrig und im Mosaic-Set findet sich zudem ein zuvor unveröffentlichter alternate take von „My Blue Heaven“.
      Das Album, das aus dieser Session produziert wurde heisst Sonny Side Up (LP 2245) und bewegt sich stilistisch in ählichen Gefilden wie das vorangegangene. Den Auftakt der Session macht „On Green Dolphin Street“, ein Stück das Miles Davis 1958 eingespielt undd lange Jahre im Repertoir hatte. Stitt spielt das Stück in einer anderen Tonart als Miles und scheint nie so ganz reinzufinden, auch wenn der Groove der Band gut ist und sein Ton am Tenor sehr schön zum Stück passt. Für „My Blue Heaven“ wechselt Stitt zum ersten Mal aufs Altsax. Der alternate take ist langsamer, die veröffentlichte Version schneller, fröhlicher – Stitt hat die Melodie stets präsent und greift in die vollen mit Läufen in double time.
      „My Mother’s Eyes“ ist wieder eine verhaltenere Nummer, Stitt bläst ein leicht verhangenes Tenor. Er nahm das Stück 1963 auf „Now!“ (Impulse) und auf dem Album „My Mother’s Eyes“ (Pacific Jazz) noch zweimal auf – es ist keins der Stücke, die er mit Autopilot spielte. Man nimmt ihm genau ab, was er hier spielt, es wirkt tief empfunden.
      „Sunny Side Up“ ist ein Original von Stitt, das für einmal kein Blues ist und auch nicht auf den rhythm changes beruht – aber zweifellos auf einem anderen alten Standard. Stitt wirkt konzentriert aber auch fröhlich, Jones und Haynes begleiten ihn anspornend.
      Für „The More I See You“ wechselt er zum zweiten Mal aufs Altsax. Die Melodie steht im Zentrum, Stitt präsentiert sie sehr süss und gerade hinaus. Dennoch fügt er immer wieder kleine eigene Kommentare und Auschmückungen ein.
      „Beware Rocks Comin‘ Down“ ist ein throwaway Blues, nichts spezielles. Dennoch macht Stitts Tenorsolo zum Auftakt Spass. Nach Jones‘ Solo kommt er nochmal mit dem Altsax zurück. Haynes treibt Stitt an, der schliesslich nach zwei Chorussen walking bass nochmal zum Tenor greift. Dieses Stück wurde auf dem Album „Stitt in Orbit“ (LP 2252) veröffentlicht.
      Es folgt eine neue Einspielung von „Don’t Take Your Love from Me“, dieses Mal am Tenor. Diese Version ist nich annähernd so atemberaubend wie die vorangegangene. Jones‘ Piano-Solo mit seinem Wechsel von locked hands Akkorden und Linien ist gut, aber eben: anderer Tag, anderer Stitt. Die Magie klappt bei einem Musiker wie ihm, der eigentlich Jahr für Jahr, Tag für Tag, ja fast Solo für Solo, stets dasselbe machte, einfach nicht immer. Und doch: auch ein Stitt auf Autopilot klingt besser als mancher gute Saxophonist an seinen guten Tagen.
      „When I Grow Too Old to Dream“ ist ein toller Swinger, Stitt ist in der richtigen Stimmung und seine Version hat Charme. Er vermeidet die meisten Klischees und benutzt das Thema als Ausgangspunkt für ein melodisches Solo. In ähnlicher Laune ist Stitt in Harold Arlens „I’ve Got the World on a String“, sein Spiel bringt einem fast unweigerlich ein Lachen ins Gesicht. Haynes ist besonders aktiv hinter Jones‘ Solo und dessen Spiel macht deutlich, dass er zuhört, was um ihn passiert. Stitt kehrt nochmal zurück, in Lester Young-Stimmung.
      Auf dem „Bye Bye Blues“ spielt Haynes Besen, bettet den rauschenden Sound perfekt in seine fills ein. Stitt klingt erneut fröhlich und aufgeräumt. Jones soliert energievoller als üblich – vielleicht dank Haynes‘ druckvoller Begleitung? Ein letzter Blues mit dem Titel „Six-o-Seven Blues“ wurde auch für „Stitt in Orbit“ aufgespart. Nichts daran ist besonders, Stitt zieht Phrase für Phrase aus seinem bag of tricks, aber Haynes scheint das nicht zu stören. Unbekümmert treibt er seinen Boss an und die exchanges am Ende sind sehr toll.

      Damit endet die fünfte und letzte Session mit Jimmy Jones am Piano. Im September und Oktober 1960 tourte Stitt mit Miles in Europa, es entstanden Aufnahmen in Stockholm und Paris sowie ein wohlbekanntes Bootleg aus England. Mitte Dezember wurde Stitt dann von Hank Mobley abgelöst.

      Im März 1961 nahm Stitt für Verve ein ambitioniertes Album auf, „The Sensual Sound of Sonny Stitt“, mit grossem Orchester und Arrangements von Ralph Burns. Bald darauf traf er sich wieder mit seinem alten Freund Gene Ammons und nach ersten Gigs im McKie’s in Chicago im Mai spielten die beiden regelmässig zusammen und nahmen eine paar Alben auf: „We’ll Be Together Again“ (Prestige, zuerst bei Argo als „Dig Him!“) und „Boss Tenors“ (Verve, beide mit der regulären Rhythmusgruppe John Houston, Buster Williams und George Brown). Das Jahr endete mit einem langen Engagement im McKie’s, während dem auch James Moody und Bennie Green mit den beiden spielten.
      Im Juni hatte Stitt zudem das bereits erwähnte Album „At the D.J. Lounge“ eingespielt und für Verve stand er im Januar und August im Studio, ohne dass die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Im Februar 1962 folgte „Boss Tenors in Orbit“ (Verve) wieder mit Ammons, dieses Mal aber mit Stitts neuem Begleit-Trio: Don Patterson (org), Paul Weeden (g) und Billy James (d). Mit ihnen sollte er die nächsten zehn Jahre hindurch immer wieder spielen und aufnehmen. Das nächste Roost-Album „Feelin’s“ nahm Stitt zwischen Februar und April 1962 ebenfalls mit diesem Trio auf.

      Zwischen Februar und Juni 1962 nahm Stitt auch die Session auf, die mit den beiden übriggebliebenen Stücken der letzten Jimmy Jones-Session das Album In Orbit (LP 2252) ergeben sollte. An seiner Seite waren Hank Jones, Roy Haynes und möglicherweise Tommy Potter am Bass. Vier Stücke landeten auf dem Album, ein fünftes wurde im Mosaic-Set erstmals veröffentlicht. Die Aufnahmen haben ein altmodisches Jam Session-Feeling und beginnen mit dem Blues „No Cal“ mit einem äusserst simplen Thema. Stitts Solo ist zum Glück sehr viel ausgeklügelter als das Thema, sein Altsax hat diesen cry, den es in Blues-Nummern oft besass und nach einem lockeren Auftakt bläst er ein tolles Solo. Jones folgt und der Kontrast zu seinem Namensvetter auf den vorangegangenen Sessions ist gross. Sein Ton ist voller, sein Anschlag harter – und doch ist sein Spiel stets delikat und geschmackvoll.
      Mit „Corn Flakes“ folgt noch ein spärlicher Blues, dieses Mal am Tenor. Stitt und Jones spielen das Thema gemeinsam, Stitt vermischt dann hingeschmierte Phrasen, Shakes und Blues-Klischees mit blitzschnellen Einwürfen und gehaltenen Noten. Das folgende „Eye Ball“ beruht auf „Jeepers Creepers“ und bounct nett vor sich hin. Stitt spielt Altsax und mischt die lockere Spielhaltung des Swing mit Bop-Elementen.
      Mit „Saginaw“ folgt ein weiterer Blues am Altsax, dieses Mal aber einer der tollen langsamen und Stitt spielt ein Solo voller langer Linien, vokaler Einwürfe und von grosser Intensität.
      Das neu gefundene Stück im Mosaic-Set heisst „Fine and Frisky“ und ist eine rhythm changes Variante mit der Bridge von „Jeepers Creepers“. Stitts Solo am Tenor ist ziemlich toll, Haynes gibt guten Kommentar und auch Jones klingt lebending und in Form.

      Damit endet die klassische Roost-Zeit von Stitt. Es folgten neben dem erwähnten Orgel-Album, das ungefähr zeitgleich 1962 entstand noch ein Latin-Album von Ende 1963 und ein letztes im Quartett mit Harold Mabern im Frühling 1965. Stitt hatte sich jedoch schon längst wieder in alle Richtungen ausgebreitet und war Ende 1962 schon mitten auf seiner Reise in den Orgeljazz, mit dem er sich die folgenden zehn Jahre ausgiebig befassen sollte… doch hiervon später mehr.

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      In der Chronologie von Stitt hab ich noch ein paar Sachen ausgelassen. Im Juni 1960 fand in Los Angeles eine weitere Verve-Session statt, die ich leider bisher nicht kenne und die (wie eine Reihe Sessions anderer Verve-Musiker) in den Wirren um den Verkauf des Labels an MGM vergessen ging und später unter dem Titel „Previously Unreleased Recordings“ (V6-8837) erschien. Mit Lou Levy und Stan Levey waren zwei alte Bekannte dabei, am Bass war Paul Chambers.

      Chambers gibt das Stichwort, denn das Kapitel mit Miles Davis folgte. Nachdem im März und April 1960 noch mit Coltrane am Tenor auf Europa-Tour war, fand im September und Oktober die nächste Tour statt und Sonny Stitt fand sich in der Band. Miles‘ Favorit für die Coltrane-Nachfolge wäre Jimmy Heath gewesen, der schon im Juli 1959 kurz an Coltranes Stelle stand. Heath war aber auf Bewährung und konnte daher nicht reisen (ich nehme an, der durfte den Staat New York nicht verlassen?) und schied leider aus. Wayne Shorter war zudem Art Blakeys Jazz Messengers verpflichtet (das sollte auch drei Jahre später noch so sein, als Miles wieder eine Band zusammenstellte).
      Von der langen Europa-Tour mit 16 Stationen, die vom 24. September bis zum 16. Oktober dauerte, exisiteren erstaunlich wenige Ton-Dokumente. Offizielle Veröffentlichungen liegen vor aus Paris und Stockholm (erstere zuletzt wohl auf zwei 2CD-Sets bei LaserLight, davor auch auf einem RTE/TREMA 4CD-Set gemeinsam mit dem März-Konzert mit Coltrane, letztere auf Dragon, ebenfalls auf einem 4CD-Set mit dem Coltrane-Konzert vom März). Zudem existiert ein Bootleg aus der Free Trade Hall in Manchester. Diese Aufnahme wurde zuletzt wohl von Lone Hill veröffentlicht.

      Davis‘ Band befand sich im Wandel. Das Trio Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb war langsam richtig gut eingespielt und wurde immer mehr zu tight swingenden, hippen Band, die im kommenden Jahr (mit Hank Mobley am Tenorsaxophon) zu Bestform auflaufen würde, bevor sie sich als Wynton Kelly Trio selbständig machten – Miles hatte seine Band aufgelöst und sollte erst 1963 wieder eine working band zusammenstellen. Stitt kam also in eine Band, die im Umbruch von einer cutting edge Gruppe in eine exquisite Nachtclub-Band befand. Sein mehr denn kompetentes Saxophonspiel fügte sich natürlich problemlos ein, er war aber nicht in der Lage, Miles einen Gegenpol zu bieten, wie Coltrane das tat, oder überhaupt künstlerisch Relevantes in die Gruppe einzubringen. Miles selber übernahm in der Folge immer stärker die Rolle des Spielmachers, seine Soli wurden länger, wildere und rauhe Passagen wechselten sich mit seinen bekannten lyrischen, sparsamen Phrasen. Auch Kelly blühte als Solist zunehmend auf und die zentrale musikalische Achse innerhalb des Quintetts verlief nicht mehr zwischen den Bläsern, sondern zwischen Davis und Kelly. Am Ende war es daher gar nicht weiter schlimm, dass mit Stitt kein Impulsgeber sondern bloss ein sehr kompetenter (und als Saxophonist grossartiger) Sidemen in die Band kam. Miles hatte zudem seine Rolle geändert: er war nicht mehr der scheinbar arrogante Wichtigtuer, der mit dem Rücken zum Publikum spielte und nach seinen eigenen kurz gehaltenen Soli hinter der Bühne verschwand, um erst am Ende der Stücke wieder aufzutauchen, nein, er spielte länger, wandte sich dem Publikum zu und lachte manchmal sogar (so wurde berichtet im französischen Jazz Magazine, Nr. 64, November 1960, unter der Rubrik „Jazz Informations“ – der Artikel ist im Booklet der RTE/TREMA 4CD-Ausgabe der Pariser Konzerte abgedruckt).

      Diese Beobachtungen lassen sich im Rahmen der beiden erwähnten 4CD-Sets sehr schön nachvollziehen, aber die Musik der Konzerte mit Stitt ist auch für sich genommen sehr schön. Der erste Mitschnitt ist jener aus Manchester vom 27. September. Von beiden Konzerten des Abends ist jeweils ein Teil vom Beginn erhalten. Im ersten Konzert spielt die Band „Four“ und „All of You“ in langen Versionen, Stitt trägt schöne Altsoli bei, aber die Highlights kommen von Miles und Kelly. Das dritte Stück, „Walkin'“, ist leider auch schon das letzte des ersten Konzertes und bricht nach einem tollen Solo von Miles sowie intensiven fours mit Jimmy Cobb ab, als Stitt zu seinem Tenorsolo ansetzt.
      Vom zweiten Konzert ist mehr erhalten: „Four“ (am Anfang fehlt ein Stück), eine fast viertelstündige Version des „All Blues“, ein langes „All You Needn’t“ und ein über siebzehnminütiges „Autumn Leaves“. Dann folgt ein langes „So What“, ein kurzes Stitt-Feature über „Stardust“ und schliesslich das kurze „The Theme“. Stitt wirkt manchmal etwas verloren, die Rhythmusgruppe swingt hart und ist in einem etwas anderen Groove daheim als den Grooves, die Stitt bevorzugte. Dennoch gibt es auch Momente, in denen Stitt hervorragend passt, etwa den „All Blues“. Stitt war immerhin – siehe oben – mal neben Adderley als einer der hoffnungslosen Bird-Klone gehandelt worden und Adderley war noch einige Monate zuvor mit seinem fiebrig-emotionalen und Blues-getränkten Spiel neben Miles und Coltrane eine Bereicherung der Band. Miles und Kelly glänzen durchweg mit tollen Soli, Chambers und Cobb halten den Beat lebendig und beweglich, Cobbs fills sind streckenweise sehr intensiv, Chambers trägt wie üblich auch ein paar tolle Soli bei.
      Das Highlight von Manchester ist vielleicht das lange „Autumn Leaves“ mit tollen Soli von Miles und Stitt, aber Miles spielt Stück für Stück eindrückliche, agile und vielschichtige Soli.

      Die Aufnahmen aus Paris sind was Coltrane betrifft das wohl faszinierendste Dokument dieser Live-Aufnahmen (das musikalisch beste war vielleicht das Konzert in Scheveningen?) – das Publikum war offensichtlich auch 1960 noch nicht bereit für diese Musik, ich habe hier ein bisschen darüber berichtet.
      Im Konzert mit Stitt, das am 11. Oktober stattfand, legte Miles das oben geschilderte, die Pariser sehr überraschende Verhalten an den Tag – die Überschrift des erwähnten Artikels im Jazz Magazine lautete: „Pourquoi si gentil Miles ?“. Warum denn so nett? Musikalisch gesehen war Miles eigentlich viel weniger nett als noch im Frühling, sein Spiel war härter geworden, vielschichtiger, schwieriger, weniger glatt, weniger „schön“. Aber er war mir seiner Zeit viel grosszügiger (die beiden Konzerte am 21. März dauerten 45 bzw. 41 Minuten, im Oktober spielte die Gruppe zweimal fast eine Stunde) und sein Verhalten gegenüber dem Publikum war eben freundlicher. Die Qualität der Aufnahme ist gut, die Rhythmusgruppe ist etwas tief im Mix und manches ist ein wenig übersteuert, aber Miles kommt gleich im öffnenden „Walkin'“ druchvoll rüber, sein Solo bildet einen grossartigen Auftakt der zwei Stunden Musik, voller toller Ideen und mit viel Raum für die Rhythmusgruppe (erst Kelly, der später aussetzt, wenn Cobb zum Dialogpartner von Miles wird). Stitt folgt am Tenorsax (das er im ersten Konzert nur in „Walkin'“ und seinem unbekannten Feature spielt) und zeigt sich der Aufgabe mehr als gewachsen. Ich weiss nicht liegt’s an der Qualität der Aufnahme oder an meiner Einbildung, aber mir scheint, Stitt sei hier sehr viel besser integriert als noch einige Tage davor in Manchester. Möglicherweise hatte er auch einfach bloss einen fantastischen Abend, denn seine Soli sind durchgängig überragend, sein Swing mitreissend, sein Ton wunderschön, seine Linien präzise und perfekt phrasiert wie immer. Kelly folgt mit einem sehr linearen Solo, die linke Hand akzentuiert nur wenig und leise, die rechte spielt eine horn-like Linie, die sich scheinbar endlos fortspinnt… ein Auftakt, der grosses erhoffen lässt, und in der Tat geht es schon mit „Autumn Leaves“ auf demselben hohen Niveau weiter. Miles spielt mit harmon mute, die Band swingt im two beat Feeling, Spannung liegt in der Luft. Das Stück war übrigens in dieser Tour erstmals in Miles‘ Repertoire. Zum ersten Mal gespielt hatte er es am 9. März 1958 im Studio mit Cannonball Adderley für dessen Blue Note-Klassiker „Somethin‘ Else“, die Aufnahme aus Manchester ist der zweite Beleg auf Losins Website, und mindestens bis 1966 blieb es im Repertoire von Miles‘ Quintett. Stitt folgt am Altsax, dann Kelly mit einem rollenden, frischen Piano-Solo. Cobb passt seine Begleitung fortwährend dem jeweiligen Solisten an, überhaupt ist die Rhythmusgruppe unglaublich flexibel und sorgt dafür, dass das Geschehen stets spannend bleibt. Chambers folgt mit einem schönen Solo, bevor Miles das Stück zu Ende bringt – unter grossem Jubel des Publikums.
      Mit „Four“ geht das Konzert belebt weiter, Miles ist schon zum Auftakt in Zitierlaune. Cobb begleitet intensiv, seine bombs und stellensweise intensiven Snare-Fills kontrastieren effektvoll mit dem fliessenden Puls der Becken. Stitt folgt am Altsax und ist hörbar beflügelt, wechselt ebenmässig swingende Achtel-Linien mit stärker rhythmisierten und double time Passagen, bleibt wie sehr oft nahe am Thema dran – obwohl diese Linie (sie stammt übrigens wie „Tune Up“ von Cleanhead Vinson) nicht besonders viel hergibt. Es folgt Stitts Feature des Abends – dieses Mal keine Ballade sondern ein mitreissend swingender Blues, in dem sein tief in Lester Young verankertes Tenorsax aufs schönste zur Geltung kommt und er alle Register seines Könnens zieht. Es war wohl diese fünfminütige Performance, die mich erstmals vor wohl 16 oder 17 Jahren ganz für Sonny Stitt eingenommen hatte (ich denke, dieses Konzert war überhaupt das erste, was ich von ihm gehört habe – eventuell gab’s davor mal ein Bootleg der Giants of Jazz, aber das hat mir damals so wenig gefallen, dass ich mich nicht mal mehr klar erinnern kann).
      Dass Stitt auf „‚Round Midnight“ Altsax spielt war wohl eine ziemich schlaue Entscheidung. Dabei bleibt er dann auch bis zum Ende des Sets: Es folgt eine lange Version von „No Blues“ (aka „Pfrancing“), das längste Stück der beiden Konzerte, bevor mit „The Theme“ das erste Konzert endet.
      Das zweite Konzert beginnt wieder mit „Walkin'“, der Parade-Nummer der Band. Miles öffnet, Cobb treibt wie ein irrer, Stitt klingt am Tenor streckenweise fast so kernig wie Rollins, kehrt aber immer wieder zu seinen Pres-Wurzeln zurück. Im abschliessenden Thema spielt Cobb furios. Weiter geht’s mit „If I Were a Bell“, Miles konzentriert, voller Ideen, dann folgt Stitt und ist ihm ebenbürtig an Einfallsreichtum, lässt sich von Cobb treiben. So macht das richtig Spass! Kelly gelingt – wie eigentlich immer, und auch dank der tatkräftigen Hilfe von Chambers und Cobb – das Kunststück, dass die Spannung im Piano-Solo kaum abflacht. Mit der rechten Hand schnitzt er marktante Linien, die aber von einer verspielten Leichtigkeit sind, und obwohl sie streckenweise fast wie in Stein gemeisselt scheinen, nie übermässig hart angeschlagen werden. Die Linke begleitet sparsam und leise, während Cobb sein Spiel in der Dynamik, aber nicht in der Intensität zurücknimmt.
      „Fran Dance“ ist ein äusserst charmantes Stück, Stitt wecheselt erstmals im zweiten Konzert aufs Altsax (Losin liegt da komplett falsch, gemäss ihm spielt Stitt nur am Ende des ersten Konzerts Altsax). Sein Ton ist überreif und fett, die Idee, mit der er über einen pedal point ins Ende seines Solos geht ist grossartig!
      Es folgt „Two Bass Hit“, eine hektisch-boppige Nummer, an die eine erste Version von „The Theme“ angehängt wird (mit kurzem Tenorsolo von Stitt) – als hätte sich Miles einen Moment lang überlegt, das Konzert bereit zu beenden? Es geht dann aber nahtlos weiter mit „All of You“, von Miles mit Dämpfer über einen Two-Beat von Chambers und 4/4-Swing von Cobb mit Besen präsentiert. Stitt glänzt mit einem aufgeräumten Altsolo, das recht gemächlich anfängt, aber sich mit der Zeit in rasche double time Läufe steigert, die immer dichter gestreut werden zwischen die Passagen, in denen Stitt sich ganz eng am Thema bewegt. Auch in „So What“ spielt Stitt ein tolles Solo, scheint mit der modalen Struktur recht gut zurecht zu kommen und wird von der Rhythmusgruppe sanft gebettet. Kelly folgt, öffnet mit reduzierten Phrasen, schiebt sie in der Bridge, geht dann, statt in den letzten acht Takten zurückzuschieben, in ein funky fliessendes Solo über, das von Cobbs geliebten rim shots untermalt wird. Am Ende folgt nochmal „The Theme“, mit einem tollen kurzen Solo von Stitt am Tenor, und damit endet dieses grossartige Konzert.

      Die Konzerte in Stockholm fielen noch länger aus – beide Konzerte dauerten sie etwa eineinhalb Stunden. Das erste beginnt erneut „Walkin'“. Miles ist sofort mitten in der Musik wechselt lyrische, lineare Phrasen mit kurzen Ausrufern, Schreien, schnellen Passagen und Läufen. Cobb begleitet sofort dicht und scheint jedes Statement seines Leaders zu schattieren und zu kommentieren. Stitt spielt Tenorsax und ist ebenfalls sofort mitten drin in der Musik. Es geht ähnlich weiter, das Konzert bewegt sich ebenfalls auf hohem Niveau, gefällt mir aber nicht ganz so gut wie jenes aus Paris (auch wenn insgesamt fast eine Stunde mehr Musik zu hören ist). Das mag daran liegen, dass ich Paris zuerst kennengelernt habe, aber es mag eben auch sein, dass die Band in Paris angespannter war, auf höherem Niveau gespielt hat. Die Audio-Qualität ist einigermassen vergleichbar, vielleicht noch eine Spur besser als in Paris, etwas klarer, was das Piano und die Becken Cobbs betrifft.
      Im folgenden „Autumn Leaves“ ist der Groove wiedder perfekt, absolut in the pocket – Miles ist allerdings leider eine Zeit lang off mic. Stitt folgt am Altsax, sein Solo ist sehr eng am Thema (es fällt übrigens auf, dass er kaum je in Themen-Präsentationen zu hören ist, sondern nur als Solist eingesetzt wird). Nach einem tollen „So What“ folgt Miles‘ Parade-Ballade „‚Round Midnight“, wieder mit Stitt am Altsax. Mit „The Theme“ endet dann das erste Set des ersten Konzerts.
      Das zweite Set beginnt dann entspannt mit dem langen Kelly Trio-Feature „June Night“, Stitts Feature über „Stardust“ und dann dem Quintett in „On Green Dolphin Street“ mit Stitt am Tenor und in guter Laune. Es folgt „All Blues“ und mit „The Theme“ endet das erste Konzert. Dieses zweite Set ist zwar schön und mit dem Trio-Stück und dem schönen Stitt-Feature auch abwechslungsreich, aber auch ohne richtige Höhepunkte.
      Das erste Set des zweiten Konzerts beginnt entspannt mit „All of You“, Miles mit Dämpfer, die Rhythmusgruppe im 2/2-Feeling, dann unter Stitts flüssigem Altsax der Wechseln in einen hart-swingenden 4/4-Takt. Nach dem schönen Opener folgt „Walkin'“, die Parade-Blues-Nummer der Tournee. Miles ist einmal mehr grossartig, die fours mit Cobb geht er mit Übermut an und Cobb reagiert entsprechend. Stitt und Kelly folgen mit tollen Soli. Weiter geht’s entspannt mit „Autumn Leaves“, Miles mit Dämpfer, Stitt folgt am Alt, sein Ton voll, weich und warm. Mit „The Theme“ endet dann das erste Set des zweiten Konzerts.
      Das zweite Set des zweiten Konzerts, das vierte und letzte Set des Abends, beginnt gleich mit zwei Trio-Nummern: „Softly, as in a Morning Sunrise“ und „Makin‘ Whopee“. Es folgt Stitts Feature „Lover Man“ und dann das Quintett mit „If I Were a Bell“ und „No Blues“, bevor die Aufnahmen mit dem Set-Closer „The Theme“ enden.

      Nach dem Wiederhören all dieser Aufnahmen bin ich mir einmal mehr ziemlich sicher, dass die Band in Paris ein My besser drauf war… aber es lohnen sich beide 4CD-Sets. Jenes von Stockholm enthält übrigens auch ein kurzes Coltrane-Interview.

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      Stitt nahm nach seinem Abgang bei Miles am 30. Januar eine unveröffentlichte Verve-Session auf (die obige Scheibe enthält die erwähnte – mir unbekannte – Verve-Session vom Juni). Im März folgte ein Streicher-Album mit dem Titel The Sensual Sound of Sonny Stitt, das Ralph Burns für ihn arrangiert hat.

      Dann folgte das oben kurz besprochene Live at the D.J. Lounge mit Johnny Board. Am 2. und 3. August folgten weitere unveröffentlichte Verve-Sessions (Lord und Bruynicnkx kenne die Besetzung nicht).

      Dann traf Stitt in Chicago auf seinen alten Gefährten Gene Ammons. Das Album, das am 26. August 1961 mitgeschnitten wurde, erschien zuerst bei Argo als Dig Him! (LP 697), später dann erschien es bei Prestige als We’ll Be Together Again. Ein paar weitere Ammons-Alben mussten später an Prestige ausgehändigt werden, weil Ammons da einen Exklusiv-Vertrag hatte, den er mit den Argo-Releases gebrochen hatte.

      Ende der 60er, als Ammons schon für mehrere Jahre im Gefängnis sass, erschien das Album dann bei Prestige mit obigem Cover. Die beiden Tenoristen – Stitt spielt nur in „My Foolish Heart“ und „Time on My Hands“ Altsax – werden von John Houston (p), Buster Williams (b) und George Brown (d) begleitet. Zum Auftakt spielen sie „Red Sails in the Sunset“, ein Stück, das nach Cowboy-Song klingt und mit einem tollen Rumpel-Groove unterlegt wird. Ammons‘ schwererer Sound kontrastiert toll mit Stitts leichterem, agilerem Spiel. Auch im zweiten Stück, „But Not for Me“, steht Ammons an erster Stelle (er zitiert „And the Angels Sing“) und Stitt folgt.
      Das nächste Stück heisst „A Pair of Red Pants“, ein äusserst relaxtes Stitt-Original. Stitt ist – wie überhaupt in dieser Session – nicht richtig on, aber er klingt dennoch verdammt gut. Dieser Sound, die Lockerheit, die Grossspurigkeit… das mache ihm erst mal einer nach! Der Groove – das beobachtet auch Mark Gardner in seinen Liner Notes für die Prestige-Ausgabe – erinnert ziemlich deutlich an Al Cohn und Zoot Sims, und das ist einigermassen erstaunlich, aber eben doch wieder nicht. Al und Zoot gehörten zu den brothers, den weissen, aus dem Woody Herman-Umfeld stammenden, von Lester Young geprägten Tenoristen, die einen leichten Stil pflegten, der gewisse Bebop-Elemente mit einem leichteren, fliessenden Spiel vermählte, das auf die Swing-Ära zurückgriff. Ammons war – einer der wenigen schwarzen – auch mal in Hermans Band und sowohl er als auch Stitt waren Pres-Männer, die ihren Ton aber dünkler schattierten als die brothers, ihre Linien in zupackender phrasierten. Aber die gemeinsamen Wurzeln sind – gerade in diesem Stück – nicht zu überhören! Der tolle shake kommt übrigens hier von Ammons und Mark Gardner schreibt dazu: „Dig Jug’s delightful shake (à la Dexter Gordon)“ – auch da: Stitt hat den shake wohl von Ammons, Gordon sass – kaum aus den Windeln – neben diesem in der Eckstine-Band…
      Jug ist grossartig auf „We’ll Be Together Again“, entspannt aber doch mit einem gewissen Drang im Ton (etwa ab 1:16). Das ist die grosse Kunst des Balladenspiels! „A Mess“ ist dann in der Tat etwas messy… ein mittelschneller Blues von Stitt mit sehr starkem Spiel von der Rhythmusgruppe und Sax-Soli, die viel Vergnügen bereiten. Es geht weiter mit dem „New Blues Up an Down“, einem Remake der Parade-Nummer der alten Ammons/Stitt-Band (1951 schon für Prestige aufgenommen). Das Thema wurde etwas umgebaut, vor allem anders rhythmisiert – aber die Soli und exchanges stehen hier im Mittelpunkt, und die sind ein Feuerwerk von Ideen.
      Auch „My Foolish Heart“ haben die Ammons und Stitt schon früher zusammen gespielt. Ammons‘ Solo ist grossartig, Stitt kontrastiert ihn auf dem Alt – beider Spiel ist überreif mit Gefühl.
      „Autumn Leaves“ wird von einem hübschen Bass-Intro von Buster Williams eröffnet, bleibt dann aber doch sehr nett. „Time On My Hands“ wird ebenfalls in einem mittelschnellen Tempo präsentiert, die Rhythmusgruppe spielt eine 2/2-Begleitung, für die bridge und die Soli wechselt sie in 4/4. Ammons soliert am Tenor, Stitt folgt am Alt. Frank Wess‘ „Water Jug“ (das einen Teil des Themas von „Broadway“ ausleiht) dauert nur gerade zweieinhalb Minuten – und das ist symptomatisch für das ganze Album, dem man einen etwas längeren Atem gewünscht hätte, mehr Freiraum für die beiden Haupt-Attraktionen. Die längste Nummer des Albums ist „My Foolish Heart“ mit knapp über fünf Minuten, es finden sich zehn Stücke auf 41 Minuten.

      Aber das hier war erst der Auftakt, es sollte besser werden!

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      Am folgenden Tag nahmen Ammons und Stitt erneut auf. Das Album Boss Tenors (V-8426 – mit dem Untertiel: Straight Ahead from Chicago, August 1961) ist besser, lässt den beiden in halb so vielen Stücken viel mehr Freiraum. Die Rhythmusgruppe ist identisch mit jener vom Vortag: John Houston (p), Buster Williams (b) und George Brown (d). Creed Taylor hat produziert.
      Das Album öffnet entspannt mit „There Is No Greater Love“, Ammons am Tenor, dann Stitt am Alt (was ist das schon wieder, was er da zitiert? „Tico Tico“?). Ammons‘ „The One Before This“ ist ein Thema, das mehr oder minder auf einem Ton aufbaut, mit zweiter Stimme und dem Bass als Unterstützung der eigenartigen Rhythmisierungen. Ammons legt sofort los, soliert entspannt über die swingende Rhythmusgruppe. Stitt steigt hoch und leicht ein, ein paar seiner Phrasen könnten fast von einem Altsax stammen. Es folgen Houston und Williams und dann wird das witzige Thema wiederholt.
      Die erste Hälfte endet mit „Autumn Leaves“, einem Stück, das auch am Vortag für Argo aufgenommen wurde. Das Arrangement ist aber ein anderes, das Intro wird dieses Mal von Houstons Piano getragen. Williams‘ Bass ist allerdings im Thema weiterhin sehr präsent. Den Song präsentieren Stitt und Ammons in acht-taktigem Wechsel, bevor Ammons zwei Chorusse bläst, gefolgt von Stitt für die gleiche Dauer. Houston und Williams teilen sich einen Chorus und dann bringen Stitt und Ammons weider im Wechsel das Stück zu Ende.
      Die zweite Seite beginnt mit dem „Blues Up and Down“, fast neun Minuten stampfender Blues, in dem Ammons und Stitt sich zuerst für ein paar ganze Chorusse abwechseln, bevor sie eine Runde fours spielen. Dann folgt Ammons mit einem langen Solo, voll von seinem charakteristischen cry. Stitt übernimmt Ammons‘ letzte Note und benutzt sie, um sein Solo zu starten (und hier gibt’s von ihm wieder einen schönen shake). Am Ende folgen weitere fours. Viel mehr Chicago-Tenor als das hier wird man kaum auf einen Schlag finden!
      Das Album endet mit dem längsten Stück, Stitts fast zehnminütigem „Counter Clockwise“. Buster Williams‘ Bass ist wieder überaus stark zu hören. Wie üblich soliert Ammons zuerst, baut sein Solo langsam, Chorus für Chorus auf, spielt sich langsam aber bestimmt in einen Taumel aus Tönen. Im dritten und vierten Chorus wechselt er in double time, die Rhythmusgruppe swingt äusserst reduziert, Ammons wird von Williams‘ Bass getragen. Brown spielt dann zum Auftakt des sechsten und letzten Chorus einen langen roll. Auch Stitt spielt sechs Chorusse, auch er furios. Den double time Teil spart er sich für die letzten beiden auf. Nach Houstons und Williams Chorusssen spielen die Bosse ein paar fours.
      Die Reihenfolge der Seiten wurde übrigens für die CD (und wie es scheint schon für frühere LP-Reissues, Discogs weist einen japanischen von 1979 aus) vertauscht.

      In den folgenden Monaten nahm Stitt nichts auf, erst im (bzw. ab) Februar 1962 folgte wieder eine ganze Menge. Zuerst ist da das zweite Verve-Album mit Ammons: Boss Tenors in Orbit (V-8468). Stitts reguläre working band bestand inzwischen aus dem Organisten Don Patterson, dem Gitarristen Paul Weeden und dem Drummer Billy James. Mit ihnen sollte in den kommenden zehn Jahren viele Male aufnehmen, und sie sind es auch, die als Begleit-Band der boss tenors fungieren.
      Bill Kirchner holt in seinen Liner Notes zum CD-Reissue in der Verve Master Edition (2002) etwas aus, schildert die Geschichte der tenor battle im Jazz (auf Tondokumenten erhaltene Meilensteine sind etwa „The Chase“ von Wardell Gray und Dexter Gordon sowie „The Duel“ von Gordon und Teddy Edwrds, beide von 1947) und geht im besonderen auf die Geschichte von Stitt und Ammons ein:

      … 1950, when Ammons and Stitt became dueling partners in a working group. By that time, both were seasoned veterans. Ammons, the son of the famed boogie-woogie pianist Albert Ammons, had been recording as a leader with his own Chicago-based groups since 1947, and he had spent much of 1949 on the road with Woody Herman’s „Four Brothers“ band. He had also made some two-tenor recordings with fellow Chicagoan Tom Archia. Stitt had become one of the foremost bebop altoists – regarded as just a notch below Charlie Parker – but had also embraced the tenor (and, occasionally, the baritone). He had recorded in small groups with leading bebopperss as trumpeters Dizzy Gillespie and Fats Navarro and pianist Bud Powell.
      Pianist Junior Mance, who had been working with Ammons’s group since 1947, recalls: „Sonny was stranded without a gig in Chicago, and he used to sit in with us all the time in a little joint called the Congo Lounge on the South Side. So they played together a hell of a lot before they ever recorded.“ Ammons and Stitt made their first recordings in March 1950 in new York for the Prestige label; the session produced their first hit, „Blues Up and Down.“ In April, they returned to a New York studio with a four-horns-and-rhythm septet and recorded a blues called „Gravy.“ That tune later became much better known as „Walkin‘,“ with Ammons’s manager credited as composer; it was a staple in the repertoire of Miles Davis and many others. However, Mance states unequivocally that the piece was composed by the veteran composer-arranger Jimmy Mundy, who was writing for the Ammons septet.
      „I stayed at his house with him [Mundy] and his wife,“ says Mance, „and we talked a lot about music, and he wrote this thing called ‚Gravy.‘ He wrote the original tune, the melody; I was there when he was doing it. That’s the last time I noticed it was ‚Gravy‘; next time it came out ‚Walkin“ with Richard Carpenter’s name on it.“ No one is sure why or how this happened.
      Ammons and Stitt spent much of the next two years touring and recording, with both the septet and a quintet. „They were completely different, but a compatible contrast,“ Mance relates. „The way they structured their solos, and the sound especially. Sonny was more into Bird [Charlie Parker]; that was his mentor. Jug? It was hard to say who his mentor was; there was a lot of Lester Young in him.“

      ~ Bill Kirchner (October 2000): „Reissuing Gene Ammons & Sonny Stitt: Boss Tenors in Orbit“, Liner Notes, Universal/Verve CD 2002.

      Das Album beginnt ruhig mit einem Orgel-Intro, das in „Long Ago and Far Away“ fürht, einen Jerome Kern-Song (mit Text von Ira Gershwin), den Ammons mit seiner unendlichen Gelassenheit präsentiert. Paul Weeden streut ein paar Licks ein, Stitt übernimmt dann für die zweiten acht Takte, und in diesem Rhythmus geht’s weiter. Ammons öffnet den zweiten Chorus in double time, die Rhythmusgruppe deutet das raschere Tempo aber nur ganz fein an. Stitt folgt, spielt schnelle Läufe, aber über den rubato-artigen Gitarren-Akkorden von Weeden bleibt die Stimmung sehr getragen und balladesk. Ammons kommt zurück und da ist dieser cry in seiner Stimme – acht äusserst intensive Takte.
      Es folgt Walkin‘, das Stück das eben nicht von dicky Rick stammt sondern vom grossen Jimmy Mundy. Stitt spielt im Thema Altsax, soliert aber nach Ammons‘ erstem Solo auf dem Tenor. Weeden soliert, gefolgt von Patterson, und das Ensemble bringt das Stück zu Ende.
      Die erste Seite endet dann mit „Why Was I Born?“, das etwas gar schnell angegangen wird – eher als entspannter Swinger denn als Ballade. Stitt präsentiert die ersten sechzehn Takte vom Thema auf dem Altsax (mit ein paar growls), während Ammons ihm antwortet. Dann werden die Rollen getauscht, aber Ammons übernimmt die fills auch selber noch und so ergibt sich streckenweise ein kollektiver Dialog der beiden. Dann soliert Patterson für zwei Chorusse, mit geschmackvoll-zurückhaltendem Sound gelingt es ihm, die Stimmung des Stückes trotz rascher Läufe aufrecht zu erhalten. Weedens Begleitung ist toll, James weiss genau, wie viel es leiden mag – man merkt dem Trio schon hier an, wie gut es aufeinander abgestimmt ist! Ammons und Stitt folgen mit ebenfalls je zwei Chorussen, beide aufmerksam von Weeden begleitet. Das Thema am Ende bestreiten Ammons und Stitt wieder zusammen, jeder von ihnen kriegt nochmal ein paar Takte für sich, bevor ein Riff das Stück zum Ende bringt.
      Die zweite Seite enthält zwei längere Stücke, zuerst den alten civil war Song „John Brown’s Body“. Pattersons Orgel öffnet, bevor die Tenöre die eingängige Melodie spielen. Ammons soliert für vier Chorusse, Stitt folgt mit deren fünf. Dann kehrt Ammons zurück, um eine Reihe von acht-tatktigen, dann vier-taktigen und am Ende zwei-taktigen Wechseln mit Stitt zu spielen. Auch am Ende des Themas folgt nochmal ein kurzer Dialog, dieses Mal beginnt Stitt.
      Den Abschluss macht das zehnminütige „Bye Bye Blackbird“. Stitt spielt die ersten acht Takte, dann folgt Ammons, wieder Stitt, bevor Ammons die letzten acht Takte und im Anschluss das erste Solo spielt. Stitt folgt, dann gibt’s eine weitere lange Reihe von exchanges bis ganz zum Ende. Ein würdiger Abschluss für das wohl schönste der vier Reunion-Alben von 1961/62 (eins sollte noch folgen).
      Schön übrigens, wie das Temperament der beiden Co-Leader auch auf dem Cover-Photo (von Pompeo Posar, der vor allem für seine Playboy-Aufnahmen bekannt geworden ist) rüberkommt: Stitt ist der schlanke, elegante, der sich zurücklehnt aber stets auf dem Sprung ist, Ammonst ist jener, der sich breitbeinig mit beiden Füssen fest auf dem Boden voran in den Kampf wirft, strotzend vor Zuversicht.

      Die beiden Verve-Alben wurden später auch auf der Twofer-LP Prime Cuts wieder aufgelegt.

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