"Django Unchained" – der neue Tarantino

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  • #7986695  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,896

    gypsy tail windIch glaube nicht, dass die Vernichtung der europäischen Juden in dem Ausmass, wie sie dem „Dritten Reich“ gelungen ist, möglich gewesen wäre, wenn sie nicht in geradezu beängstigender Weise rational geplant und umgesetzt worden wäre. Man müsste dazu wohl endlich mal hinsitzen und Raoul Hilberg in aller Ausführlichkeit lesen.

    Es geht um den Hintergrund – dass die Judenvernichtung bewusst und organisiert betrieben wurde, steht außer Frage, das macht sie ja auch so einzigartig.

    gypsy tail wind
    Und zu den Begriffen: ich weiss natürlich, dass man gemeinhin vom „Holocaust“ spricht (mit bestimmtem Artikel), doch der Begriff, der ein Feueropfer von Tieren bezeichnet, ist eigentlich komplett daneben und unglaublich zynisch. „Shoa“ ist vorzuziehen, der Terminus meint „Katastrophe, Untergang, Zerstörung“. Im Mittelalter taucht der Begriff dann auf, um Judenpogrome (Brandopfer) zu bezeichnen – die natürlich gerechtfertigt werden (die alte „Christusmörder“-Story). Unter den Umständen ist die Verwendung des Begriffes als Bezeichung für die Vernichtung der europäischen Juden höchst zynisch – was natürlich nichts damit zu tun hat, dass der Begriff sich im Alltag (wie es scheint auch in Israel, obwohl der Begriff „Shoah“ viel früher auftauchte, um die Vernichtung der europäischen Juden im „Dritten Reich“ zu bezeichnen).

    Detaillierteres hier (auch zum Begriff „Shoa“):
    https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_%28Begriff%29

    Das geht hier wirklich off topic, man möge mir verzeihen, aber ich halte es was den Begriff „Holocaust“ betrifft mit Agamben (auch das im Wiki-Artikel nachzulesen).

    Ich bin ja anpassungsfähig, was Begriffe angeht, aber bei mir ist das umgekehrt – ich muss mich an den Begriff „Shoah“ wirklich gewöhnen, mir kommt da immer Lanzmanns Film in den Kopf und das passt irgendwie nicht ganz, so als würde ich über einen Film reden. Der Begriff Holocaust ist für mich weder abwertend oder zynisch, nein, den gebrauche ich seit ich Kind war und dahinter verbirgt sich das ganze Grauen. Das dürfte dem Großteil meiner Generation so gehen, er wurde eben so gebraucht. Das gilt bei mir im übrigen auch für „Reichskristallnacht“ – das Wort „soll“ man ja nicht mehr gebrauchen, weil es zynisch gemeint war. Aber den ursprünglichen Zweck, die Verharmlosung, hat es nicht mehr erfüllt, es stand ab den 70ern für Pogrom, Mord und Brandstiftung. Den begriff wieder „abzugeben“ widerstrebt mir ein bisschen, weil man ihn dann den Nazis „zurück“ gibt.

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    #7986697  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,851

    lathoIch bin ja anpassungsfähig, was Begriffe angeht, aber bei mir ist das umgekehrt – ich muss mich an den Begriff „Shoah“ wirklich gewöhnen, mir kommt da immer Lanzmanns Film in den Kopf und das passt irgendwie nicht ganz, so als würde ich über einen Film reden. Der Begriff Holocaust ist für mich weder abwertend oder zynisch, nein, den gebrauche ich seit ich Kind war und dahinter verbirgt sich das ganze Grauen. Das dürfte dem Großteil meiner Generation so gehen, er wurde eben so gebraucht. Das gilt bei mir im übrigen auch für „Reichskristallnacht“ – das Wort „soll“ man ja nicht mehr gebrauchen, weil es zynisch gemeint war. Aber den ursprünglichen Zweck, die Verharmlosung, hat es nicht mehr erfüllt, es stand ab den 70ern für Pogrom, Mord und Brandstiftung. Den begriff wieder „abzugeben“ widerstrebt mir ein bisschen, weil man ihn dann den Nazis „zurück“ gibt.

    Das geht mir ziemlich ähnlich. „Holocaust“ und „Reichskristallnacht“ waren die beiden Bezeichnungen, die in der Literatur üblich waren, mit der ich mich zuerst mit der NS-Zeit befasst habe. „Shoah“ und „Reichspogromnacht“ sind für mich eher „Zweitbegriffe“. Ich halte die ersten beiden Begriffe aber auch nicht für grundsätzlich problematisch, da die kritisierten Aspekte (im zweiten Fall mittlerweile) nicht offensichtlich sind und beide Begriffe nicht für andere Ereignisse genutzt werden. Basierend auf dem Wikipedia-Artikel zu „Shoah“ (mir war die Etymologie vorher nicht bekannt) finde ich den Aspekt des“von Gott gesandtes Unheils“ dieses Begriffs auch nicht unbedingt passend. Vielleicht wären „Völkermord“ und „Novemberpogrome“ insgesamt bessere Begriffe, mir scheint aber, dass jeder Versuch treffende und unproblematische Begriffe zu finden aufgrund der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse zum Scheitern verurteilt ist.

    --

    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #7986699  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,695

    gypsy tail windUnd zu den Begriffen: ich weiss natürlich, dass man gemeinhin vom „Holocaust“ spricht (mit bestimmtem Artikel), doch der Begriff, der ein Feueropfer von Tieren bezeichnet, ist eigentlich komplett daneben und unglaublich zynisch.

    Du willst ernsthaft 95% aller Forscher und Interessierten, die sich mit dem Thema heute beschäftigen, Zynismus vorwerfen? Bist du dir sicher?

    Das geht hier wirklich off topic, man möge mir verzeihen, aber ich halte es was den Begriff „Holocaust“ betrifft mit Agamben (auch das im Wiki-Artikel nachzulesen).

    Agamben kritisiert den „unannehmbaren Vergleich von Krematorien und Altären“. Da fielen mir einige zynische Entgegnungen ein.

    Nicht_vom_Forum Basierend auf dem Wikipedia-Artikel zu „Shoah“ (mir war die Etymologie vorher nicht bekannt) finde ich den Aspekt des „von Gott gesandtes Unheils“ dieses Begriffs auch nicht unbedingt passend.

    Allerdings. Zustimmung auch zum Rest des Beitrags und zu dem Beitrag von latho. Gibt übrigens auch andere Problem mit Shoa, beispielsweise den Unterschied zwischen Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung.

    --

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    #7986701  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 66,988

    nail75Du willst ernsthaft 95% aller Forscher und Interessierten, die sich mit dem Thema heute beschäftigen, Zynismus vorwerfen? Bist du dir sicher?

    Nein, natürlich nicht, habe ich ja auch nicht. Aber unreflektierte (gewohnheitsmässige) Verwendung eines problematischen Begriffes.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #7986703  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,695

    gypsy tail windNein, natürlich nicht, habe ich ja auch nicht. Aber unreflektierte (gewohnheitsmässige) Verwendung eines problematischen Begriffes.

    Ich finde den Vorwurf der unreflektierten Verwendung unangemessen. Mit war die Herkunft des Begriffes durchaus bekannt und ich empfinde sie als nicht sonderlich problematisch. Wenn man sich im Detail mit Begriffen beschäftigt, kann man gegen fast alle Argumente vorbringen, auch gegen Shoa.

    --

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    #7986705  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 66,988

    nail75Wenn man sich im Detail mit Begriffen beschäftigt, kann man gegen fast alle Argumente vorbringen, auch gegen Shoa.

    Das stimmt wohl, müssen wir hier auch gar nicht weiter diskutieren – ich bedanke mich auch für die Beiträge von Nicht_vom_Forum und latho. Wäre ein Thema, das man mal in aller Ruhe, am besten persönlich und nach einiger (Re-)Lektüre, erörtern müsste.

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    #7986707  | PERMALINK

    bullschuetz

    Registriert seit: 16.12.2008

    Beiträge: 2,103

    Ja, klar, alles offtopic. Falls jemand verschieben will, okay – aber ich möchte da gerne nochmal nachfassen.

    Stormy Mondaydann ist dieser Vernichtungswille, gespeist aus Jahrhunderte altem Neid, der sicher manchmal auch Gründe hatte (Viehjud und Bankjud als Verkürzung), doch nur aus Machtgier und Habgier entstanden. Wie bei den Conquistadores in Südamerika.

    Okay, ich verstehe, was Du meinst, überzeugender Gedanke. Aber war das, was in den Silberminen von Potosi und anderswo stattfand, Vernichtungswille? Oder einfach nur brutalstmögliche, barbarische Ausbeutung, die Vernichtung billigend in Kauf nahm? Während es beim Holocaust letztendlich um die Verwirklichung eines Vernichtungswillens ging, bei der brutalstmögliche, barbarische Ausbeutung sozusagen ein Kollateralnutzen war? So einleuchtend ich Deine Herleitung von Rassismus aus Hab- und Machtgiermotiven finde – im Holocaust ist das selbstzweckhafte Ausrottenwollen am Ende abgekoppelt von, zynisch ausgedrückt, „Vernunft“-Erwägungen wie Gewinnstreben oder Machtsicherung, womöglich gar kontraproduktiv. Das habe ich in meinem Ursprungspost gemeint. Oder besser und kürzer in Lathos alles auf den Punkt bringenden Worten:

    lathoWenn mit dem Holocaust gar nichts zu verdienen gewesen wäre, hätte er doch stattgefunden.

    Ich fürchte, das stimmt. Aber wenn so etwas aus reiner Hab- und Machtgier geschähe, ohne jede rassistische Grundierung – wäre es dann „weniger schlimm“? Nachvollziehbarer? In Ansätzen entschuldbar? Ist Millionenmord als Hab- oder Machtgier besser oder schlechter als Millionenmord aus Rassenwahn? Diese Frage habe ich weiter oben „akademisch“ genannt, was vielleicht ein doofer Ausdruck ist, denn letztlich ist sie für mich moralisch irrelevant: Ich habe keine Lust, zwischen dem Archipel Gulag und dem KZ-System großartig moralische Abstufungen und Feinstdifferenzierungen vorzunehmen, ich kann nicht angesichts der vollkommen unbegreiflich bizarren Dimensionen dieser Menschheitsverbrechen sagen, das eine sei ein bisschen weniger schlimm gewesen.

    gypsy tail windIch glaube nicht, dass die Vernichtung der europäischen Juden in dem Ausmass, wie sie dem „Dritten Reich“ gelungen ist, möglich gewesen wäre, wenn sie nicht in geradezu beängstigender Weise rational geplant und umgesetzt worden wäre.

    Selbstverständlich. Penible Erfassungs- und Planungsbürokratie, Zusammentreiben, Transportlogistik, Selektion, quasi-industrielle Tötungseffizienz: In dieser unerträglichen, nüchternen Zweckrationalität bei der „Durchführung“ der „Endlösung“ liegt der Einzigartigkeitskern des Holocaust. Den irrationalen Überschuss sehe ich in dem Unterfangen selbst, in seiner Motivation.

    --

    #7986709  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Und all das war nicht Ziel der Plantagenbesitzer in den „Südstaaten“ von Amerika. Daher hängt/hinkt der von Nail angeführte KZ-Vergleich.

    Sorry, für meine Verbohrtheit, aber in dieser Frage lasse ich nicht locker, weil sie bei der Interpretation des Films vollkommen falsch gedeutet wurde.

    --

    #7986711  | PERMALINK

    hotblack-desiato

    Registriert seit: 11.11.2008

    Beiträge: 8,595

    Ohne den Film gesehen zu haben: TH, das bestreitet doch niemand. Der Künstler (Tarantino) hat Parallelen aufgegriffen und ihm genehm fiktional verarbeitet. Das ist doch absolut berechtigt und liegt in der künstlerischen Freiheit. Nichts anderes meint Nail und die anderen hier. Etwas vergleichen heißt ja auch nicht gleichsetzen.

    --

    ~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~
    #7986713  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Danke für dein Verständnis, Hotblack Desiato. Leider ist damit meine urspüngliche gegensätzliche Einstellung zu dem KZ Vergleich aber noch immer nicht beantwortet.

    --

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