Die Übermacht der Nostalgie in der Wahrnehmung von Popmusik

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  • #6891117  | PERMALINK

    weilstein

    Registriert seit: 10.10.2002

    Beiträge: 11,095

    Herr RossiWenn man das immer so genau wüsste, wann Wolfgang von „den Leuten hier“ und wann von „denen da draußen“ spricht, das lässt er ja gerne im Unklaren.

    Mich wundert es, wie Begriffe wie „Schund“ und „Kitsch“, die eigentlich mit der autoritären Pädagogik und dem Bildungsbürgertum in den 60er Jahren ihr verdientes Ende gefunden haben sollten, ausgerechnet im Pop-Kontext wieder auferstehen sollen. Wir reden hier von einer Musik, die damals in Bausch und Bogen als minderwertig abgestempelt wurde. Wenn ich das sage, meine ich nicht, dass man nicht seine Maßstäbe in der Beurteilung von Musik usw. finden sollte, aber wie einst humanistisch gefestigte Gymnasiallehrer und verkniffene Anstandsdamen sich schmallippig über Groschenhefte, Schlager und seichte Unterhaltung und ihren verderblichen Einfluss zu echauffieren, ist nicht meine Vorstellung von einem kulturellen Diskurs im Jahre 2008.

    Wolfgang hat natürlich recht, dass Pop nicht Gegenstand unkritischer Nostalgisierung sein sollte. Für mich stellt sich ein Jahr wie z.B. 1980 heute anders dar als damals, was ich seinerzeit liebend gern hörte, ist für mich heute nicht mehr so wichtig, anderes habe ich nachträglich entdeckt und es begeistert mich heute stärker. Halte ich aber im Kontext des Musikforums für selbstverständlich. Aber schön, dass wir mal darüber sprechen.

    Ach, Rossi. Wenn wir „Schund“ und „Kitsch“ durch „Scheiße“ ersetzen, bewegen wir uns dann weg von autoritärer Pädagogik? Deine Vergleiche, Rossi, bewegen sich oft in eine üble Ecke. Du benutzt Fakten (Gymnasiallehrer, Anstandsdamen) um sie völlig verdreht auf Wolfgang zu projizieren. Damit unterschlägst Du, daß die Anstandsdame gegen alles gewettert hat, was neu, modern und anstößig war. Was hat das mit Wolfgangs kritischer Haltung zu tun? Übrigens rümpften nicht nur Anstandsdamen ihre Nasen über Groschenromane und Schlagermusik….

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    #6891119  | PERMALINK

    hotblack-desiato

    Registriert seit: 11.11.2008

    Beiträge: 8,595

    weilstein“Ungleich verteilt“ trifft es ganz gut. Aber ging es nicht darum, daß der Wille zur Weiterentwicklung bei den meisten Leuten durchaus existiert, nur nicht (oder selten) im Bereich Musik? Hier wird tatsächlich oft der größte Schrott verteidigt, während man alberne Fernsehserien, seichte Liebesfilme oder Paukerklamotten gerne als Jugendsünde abtut.

    Das hängt vermutlich damit zusammen, das man mit der Musik positiv empfundene Erlebnisse (und sei es nur ‚Jugend‘) verbindet, eine Art Reflex also der auch nach Jahrzehnten noch bestens funktioniert. Ähnlich wie das Flaschenbier über den Saugreflex wieder unterbewusst an die Mutterbrust bringt. Während Bücher oder Filme idR erhöhte Aufmerksamkeit verlangen; ich kann schlecht mit den Kumpels eine riesen Sause mit Vatters Ford Granada zum Baggersee machen und dabei Karl May lesen, nein, dazu liefen eben die Crackers und alle gröhlten ‚Komm Bambino…‘. Musik ist also oft Soundtrack zum Event und das Höhren der Musik später bringt einen den Event wieder in Erinnerung und selbst wenn der Event gar nicht so positiv war, setzt allzu menschlich der Verklärungsmechanismus ein, weil man immerhin jung war. (bei mir: Howard Jones – What Is Love -> Tanzschuldisco (urgh) -> unglücklich verliebt in M. aus dem Nachbardorf -> Hey, ich war 15!). Bücher kann man schlecht zum Event machen, bei Filmen klappt das schon eher (Rocky Horror Picture Show, Blues Brothers). In der heutigen Zeit, in der jeder Scheiß zum Event hochstilisiert wird, funktioniert das also bestens. Die wenigsten, die dazu neigen ‚Black Betty‘ immer noch supergeil zu finden, dürften jemals konzentriert vor der Anlage gesessen haben.

    waDer qualitative Sprung von Hanni & Nanni zu Rosamunde Pilcher ist kein großer.

    Du tust Hanni und Nanni unrecht.

    Und wie R.H. schon sagte: die meisten Menschen haben kein Interesse an Weiterentwicklung, leider nicht nur im musikalischen oder wegen mir kulturellen Bereich, sondern überhaupt.

    --

    ~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~
    #6891121  | PERMALINK

    weilstein

    Registriert seit: 10.10.2002

    Beiträge: 11,095

    @Hotblack Desiato
    Klar, das ergibt schon Sinn. Allerdings sollte es auch mehr als legitim sein, dieses Verhalten zu kritisieren.
    Menschen die Hera Lind für eine gute Schriftstellerin halten, würde jeder hier von uns unter „anspruchslos“, „geschmacklos“ oder „ungebildet“ verbuchen. Äußere mal hier Bedenken über Boney M.

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    #6891123  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,912

    Mikko[…]
    Übrigens werden Groschenhefte ebenso gesammelt wie alte Filme. In meinem Comic Bekanntenkreis werden nicht nur anspruchsvolle Comics archiviert, sondern auch Tibor, Falk und Nick. […]

    Oh mein Gott, Heinz-Rudi Wäscher! Das wäre für mich das Äquivalent zu CD-Neuauflagen von alten deutschen Schlagern…

    Bauer EwaldNach einigem Nachdenken meine ich: Es fällt umso schwerer, je schwerer die Lücke, die durch Aufgabe des Alten/Vergangenen für einen hat, durch Neues ersetzt werden kann. […]

    Zum einen. Zum anderen vielleicht auch die Unfähigkeit, vielleicht auch Unwillen, sich mit seinem Geschmack auseinanderzusetzen, bzw. darüber zu reden. Dann heißt es eben „Weil ich’s mag. Punkt.“ oder „Weil ich tolle Erinnerungen damit verbinde“.
    Musik ist Soundtrack, Hintergrundmusik und wirkt nicht aus sich selbst heraus.
    Hier wurde der Nostalgiewert schon mal ähnlich durchgekaut, hier mein Post dazu.

    otis[…]
    Meines Erachtens hat das damit zu tun, dass Musik sich so hervorragend als Genussmittel ge- und missbrauchen lässt. In allen Not- und Lebenslagen mag sie einen Soundtrack bieten, den Literatur und Film und Kunst in dieser Form nicht oder nur auf andere Weise liefern können. […]

    Es ist eben einfacher Musik nebenbei zu hören, das funktioniert mit einem Film oder Büchern nicht, da sind die Augen dabei (wenn auch nicht notwendigerweise das Gehirn), das fordert mehr als ein musikalisches Hintergrundgeräusch.

    otis
    Deshalb ist meine Grundfrage nach wie vor: Welche Funktion hat Musik? Warum hört man?

    Das betrifft die hier im Firum schon mehrfach angesprochene Rezeption von Musik – wann höre ich, wie höre ich, bzw. will ich hören.

    waIch absolut nicht. Der qualitative Sprung von Hanni & Nanni zu Rosamunde Pilcher ist kein großer. Als reifere Frau interessiert man sich halt nicht mehr so für Pferde, höchstens in dem Sinne, daß vielleicht der Prinz darauf angeritten kommt, mit dem man sich dann am Strand leidenschaftlich wälzen kann.
    […].

    Nicht? Ganz wie Du meinst…

    Krautathaus[…]
    Wenn man diese Abteilung der Amerikana näher unter die Lupe nehme möchte (nicht gerade Dick Laurent heißt), ein offenes Ohr hat und die Bereitschaft Hörstrukturen aufzubrechen mitbringt, um spannende und abwechslungsreiche Musik zu entdecken, muß doch der eine oder andere fast schon automatisch bei Giant Sand / Howe Gelb landen.
    […]

    Geschickter Spam, Tommy!

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #6891125  | PERMALINK

    krautathaus

    Registriert seit: 18.09.2004

    Beiträge: 25,865

    latho
    Geschickter Spam, Tommy!

    Es passte nur gerade perfekt. Außerdem habe ich fast 4 Jahre gezögert, Wolfgang um eine Bewertung der Alben zu bitten.

    --

    “It's much harder to be a liberal than a conservative. Why? Because it is easier to give someone the finger than a helping hand.” — Mike Royko
    #6891127  | PERMALINK

    hotblack-desiato

    Registriert seit: 11.11.2008

    Beiträge: 8,595

    weilstein@Hotblack Desiato
    Klar, das ergibt schon Sinn. Allerdings sollte es auch mehr als legitim sein, dieses Verhalten zu kritisieren.
    Menschen die Hera Lind für eine gute Schriftstellerin halten, würde jeder hier von uns unter „anspruchslos“, „geschmacklos“ oder „ungebildet“ verbuchen. Äußere mal hier Bedenken über Boney M.

    Selbstverständlich kann man das kritisieren, es wird die Leute nur mehr oder minder nicht treffen.

    --

    ~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~
    #6891129  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    @latho

    Der Mann heißt Hans-Rudi, so viel Zeit muss sein.

    @weilstein

    Ich kann nicht sehen, wo oder wie Rossi WD mit der Anstandsdame oder dem Pauker von damals auf eine Stufe stellt.
    Davon abgesehen hat Wolfgang aber mitunter eine recht strenge, ja autoritäre Sicht und Ausdrucksweise. Was ich übrigens nicht kritisiere. Es trägt durchaus zur Klärung der Verhältnisse bei.

    @all

    Ich schließe mich lathos Bemerkungen zum Thema Nostalgie weitgehend an.
    Auch ich möchte nicht unbedingt mit dem 18 oder 20-jährigen Mikko tauschen. Mit ihm ein Bier trinken würde ich schon gerne, um ihm ein paar Fehler und Irrtümer auszureden. Würde aber wohl nix nützen.

    Die grundsätzliche Frage nach dem Umgang mit Musik und nach der persönlichen Weiterentwicklung dabei, die Wolfgang hier stellte, beantwortet ja eigentlich dieses Forum tagtäglich auf’s Neue. Die Menschen, selbst die nach eigenem Bekunden musikinteressierten, gehen dennoch verschieden intensiv und von verschiedenen Partikularinteressen geleitet mit Musik um.
    Wer hier Boney M oder Hubert Kah (beides nur Beispiele) zu großen Künstlern erklärt, der muss mit Widerspruch rechnen.
    Mich erschreckt und ärgert allerdings auch bisweilen, wie viel Raum solche doch eher umstrittenen (um es mal vorsichtig auszudrücken) Themen hier einnehmen.

    --

    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
    #6891131  | PERMALINK

    prodigal-son

    Registriert seit: 26.12.2002

    Beiträge: 10,737

    Mikko
    Mich erschreckt und ärgert allerdings auch bisweilen, wie viel Raum solche doch eher umstrittenen (um es mal vorsichtig auszudrücken) Themen hier einnehmen.

    Aber umstrittene Themen nehmen doch immer den größten Raum ein.

    --

    If you try acting sad, you'll only make me glad.  
    #6891133  | PERMALINK

    bauer-ewald

    Registriert seit: 26.10.2005

    Beiträge: 4,279

    Mikko

    Mich erschreckt und ärgert allerdings auch bisweilen, wie viel Raum solche doch eher umstrittenen (um es mal vorsichtig auszudrücken) Themen hier einnehmen.

    Das liegt aber meistens nicht an der allgemeinen Beliebtheit der betreffenden Künstler im Forum, sondern daran daß sie eben hier umstritten sind. Es gibt einige Acts, bei denen neue Threads zuverlässig innerhalb von Stunden die schönsten Balgereien auslösen.

    --

    #6891135  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    Sebastian FrankAber umstrittene Themen nehmen doch immer den größten Raum ein.

    Da hast Du natürlich recht.

    Vielleicht hätte ich schreiben sollen „Irrtümer des Massengeschmacks“.

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    #6891137  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Hotblack DesiatoSelbstverständlich kann man das kritisieren, es wird die Leute nur mehr oder minder nicht treffen.

    Selbstverständlich trifft es sie. Es wird sie nur nicht zu einer Verhaltensänderung bewegen, eher dazu, sich trotzig noch weiter in die wohlige Ecke der müffelnden eigenen Geschmackskulturen zurückzuziehen.

    Und Rossis „alles ist erlaubt“-Ansatz in den Zusammenhang mit schmallippigen Studienrätinnen zu bringen, geht an der Sache vorbei. Im Gegensatz zu Rossi habe ich diese Zeit hautnah erlebt. Und damals sehr wohl auch bei Studienrätinnen sehr viel Suche und Offenheit erlebt (sicher auch das angesprochene Andere, das findet man unter anderen Vorzeichen aber auch heute noch). Das sind doch Klischees, sie haben m.E. weder mit Kunst und Schund, noch mit autoritärer Pädagogik zu tun. (Ist die PC-Pädagogik von heute nicht autoritär? Mathematik nicht? Die Rechtschreibung nicht?)

    Kunst als solche ist autoritär, sonst ist sie für die Tonne. Kunst ist nicht demokratisch und nicht tolerant, sie ist in höchstem Maße nur sie selbst oder gar nichts. Als Rezipient hat man sich auf sie einzulassen, sie innerhalb ihres Soseins zu verstehen zu versuchen und kann daraus ihre immanenten Qualitätsmerkmale ableiten und daran gleichzeitig die eigenen Maßstäbe schulen.
    Sehe ich das Kunstwerk jedoch nicht als eigenständig autoritäres Werk, sondern will es mir untertan machen, in dem Sinne, dass es gefälligst so zu sein habe, wie ich es möchte und wie meine Geschmackskulturen gerade ausgerichtet sind, werde ich weder der Kunst gerecht, noch kann sich bei mir ein Wertesystem aufbauen. Das ist dann kein Umgang mit Kunst, das ist schlicht und einfach intellektuelle oder auch emotionale Selbstbefriedigung.

    --

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    #6891139  | PERMALINK

    mikko
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    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    Bauer EwaldDas liegt aber meistens nicht an der allgemeinen Beliebtheit der betreffenden Künstler im Forum, sondern daran daß sie eben hier umstritten sind. Es gibt einige Acts, bei denen neue Threads zuverlässig innerhalb von Stunden die schönsten Balgereien auslösen.

    Unbestritten.
    Aber da stellt sich dann ja sofort die Frage, warum sind sich bei Bohlen alle weitgehend einig, bei Frank Farian aber schon nicht mehr?
    Und zweitens, warum müssen immer gleich die Fetzen fliegen, wenn man sich in der Beurteilung und Bewertung von bestimmten Künstlern oder Platten nicht einig ist? Gegen eine verbale Auseinandersetzung ist ja nichts zu sagen, selbst wenn dabei harte und mitunter kompromisslose Urteile gefällt werden. An einem bestimmten Punkt muss man dann eben anerkennen, dass eine weitere Diskussion nichts bringt.
    Meine stille Hoffnung dabei ist, dass Leute, die hier mit ihren Ansichten überwiegend anecken oder provozieren, durch Nichtbeachtung gestraft werden, und dann irgendwann die Lust verlieren und sich trollen.

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    #6891141  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
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    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,017

    weilsteinAch, Rossi. Wenn wir „Schund“ und „Kitsch“ durch „Scheiße“ ersetzen, bewegen wir uns dann weg von autoritärer Pädagogik?
    Deine Vergleiche, Rossi, bewegen sich oft in eine üble Ecke. Du benutzt Fakten (Gymnasiallehrer, Anstandsdamen) um sie völlig verdreht auf Wolfgang zu projizieren.

    Ich projiziere nicht mehr als andere auch. Wenn Wolfgang hier seine Fensterreden hält, hat er ja auch recht plastische Bilder von bestimmten Verhaltens- und Denkweisen entwickelt, die er auf andere projiziert – der Schritt zum Stereotyp ist dabei nicht weit. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob man Wörter wie „Schund“ oder „Kitsch“ verwendet oder „Scheiße“, weil sie sehr unterschiedliche Begriffsgeschichten haben. Eine solche Unterscheidungsfähigkeit fällt einem allerdings auch nicht in den Schoß, die muss man sich erarbeiten.

    Damit unterschlägst Du, daß die Anstandsdame gegen alles gewettert hat, was neu, modern und anstößig war. Was hat das mit Wolfgangs kritischer Haltung zu tun? Übrigens rümpften nicht nur Anstandsdamen ihre Nasen über Groschenromane und Schlagermusik….

    Was damals als Schund und Kitsch bezeichnet wurde, hat heutzutage durchaus seine auch erwachsenen und kritikfähigen Verehrer, denk an die Klassiker des Krimi und des Comics.

    Ich verstehe jedenfalls die ganze Diskussion um „Jugendsünden“, von denen man sich gefälligst weiter zu entwickeln habe, nicht. Vieles, was mich als Kind und Jugendlicher begeistert hat, besteht für mich bei der Wiederbegegnung mühelos den Test, das gilt auch für Bücher, Filme und Serien. Manches dagegen erweist sich als veraltet oder nicht so gut, wie einst empfunden, das ist dann schnell abgehakt.

    Kinder sind doch keine verstockten, empfindungsarmen Wesen, die erst durch sittliche Reifung und Bildung das Gute, Wahre und Schöne erkennen können. Das ist tatsächlich die Auffassung der „schwarzen Pädagogik“. Ich liebte als Kind Donald Duck, Catweazle, Herrn Rossi (Überraschung!) und Jim Knopf, bekam nicht genug von der Kunst eines Wilhelm Busch und malträtierte meine Mitschüler mit Beach Boys, Elvis und Cliff Richard, wusste, dass Barclay James Harvest und Supertramp Langweiler sind und ABBA und Blondie jederzeit vorzuziehen, hielt mich von Deutschrock a la Bap und Maahn fern – und das alles ohne das mir irgendjemand erklärt hätte, warum das richtig ist. Musste ich mein Geschmacksurteil irgendwann grundsätzlich revidieren? Nein. Ich kann heute vielleicht besser erklären, was mich anspricht und was nicht, habe mehr Vergleichsmöglichkeiten und ein größeres Wissen, aber das vertieft die kindliche Bewunderung häufig nur.

    Und diesen sicheren kindlichen Instinkt billige ich auch jedem anderen zu, auch wenn ich seine Präferenzen nicht teile. Ich fühle mich nicht persönlich angesprochen, aber all der ganze argumentative Aufwand, um erwachsenen Hörern von „Deutschrock“ ins Gewissen zu reden, das ist doch recht albern.

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    #6891143  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    otisSehe ich das Kunstwerk jedoch nicht als eigenständig autoritäres Werk, sondern will es mir untertan machen, in dem Sinne, dass es gefälligst so zu sein habe, wie ich es möchte und wie meine Geschmackskulturen gerade ausgerichtet sind, werde ich weder der Kunst gerecht, noch kann sich bei mir ein Wertesystem aufbauen. Das ist dann kein Umgang mit Kunst, das ist schlicht und einfach intellektuelle oder auch emotionale Selbstbefriedigung.

    Kannst Du das mal anschaulicher machen, damit es auch ein in Kunst Theorien weniger beschlagener Musikfreund versteht. :-)

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    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
    #6891145  | PERMALINK

    herr-rossi
    Moderator
    -

    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 85,017

    otisUnd Rossis „alles ist erlaubt“-Ansatz in den Zusammenhang mit schmallippigen Studienrätinnen zu bringen, geht an der Sache vorbei.

    Ich habe keinen „alles ist erlaubt“-Ansatz. Begriffe wie „erlaubt“ und „verboten“ haben in der Beschäftigung mit Kunst für mein Verständnis nichts zu suchen.

    Im Gegensatz zu Rossi habe ich diese Zeit hautnah erlebt. Und damals sehr wohl auch bei Studienrätinnen sehr viel Suche und Offenheit erlebt (sicher auch das angesprochene Andere, das findet man unter anderen Vorzeichen aber auch heute noch). Das sind doch Klischees, sie haben m.E. weder mit Kunst und Schund, noch mit autoritärer Pädagogik zu tun.

    Ich habe nicht gesagt, dass alle Erzieher damals so waren, aber ich kann Dir gerne die Flut von Aufklärungsschriften zeigen, in der besorgte Pädagogen sich gerade in den fünfziger und sechziger Jahren den Kopf zerbrachen über „Schund“ und „Kitsch“ und dessen verderblichen Einfluss auf die Jugend und die arbeitende Bevölkerung. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es das auch schon und es wurde nahtlos fortgesetzt im Geiste von 68, als man Unterhaltungskultur als „eskapistisch“ und „affirmativ“ geißelte. Irgendwer trägt immer Bedenken, mit den allerbesten Absichten natürlich.

    Kunst als solche ist autoritär, sonst ist sie für die Tonne. Kunst ist nicht demokratisch und nicht tolerant, sie ist in höchstem Maße nur sie selbst oder gar nichts. Als Rezipient hat man sich auf sie einzulassen, sie innerhalb ihres Soseins zu verstehen zu versuchen und kann daraus ihre immanenten Qualitätsmerkmale ableiten und daran gleichzeitig die eigenen Maßstäbe schulen.
    Sehe ich das Kunstwerk jedoch nicht als eigenständig autoritäres Werk, sondern will es mir untertan machen, in dem Sinne, dass es gefälligst so zu sein habe, wie ich es möchte und wie meine Geschmackskulturen gerade ausgerichtet sind, werde ich weder der Kunst gerecht, noch kann sich bei mir ein Wertesystem aufbauen. Das ist dann kein Umgang mit Kunst, das ist schlicht und einfach intellektuelle oder auch emotionale Selbstbefriedigung.

    Das ist das abendländische „Hochkultur“-Verständnis, das kann ich mit der Begeisterung für Popmusik nicht in Einklang bringen.
    Ich muss dabei tatsächlich an Wolfgangs Schilderung denken, wie ein autoritärer Pauker ihm an der Tafel durchdeklinierte, warum „Satisfaction“ Dreck ist. Der Mann hatte genau den gleichen Kulturbegriff. Für mich ist die Folgerung daraus, dass man mit der Absolut-Setzung von Kultur auf dem Holzweg ist. Kultur ist Diskurs, ist Kommunikation zwischen Menschen. Das absolute, autoritäre Kunstwerk ist eine esoterische Vorstellung.

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