Gibt es objektive Kriterien für die Beurteilung von Rock/Popmusik

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  • #46209  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,673

    gerry;1232398 wrote:
    Die These, dass Bands, die mit einer Single debütiert haben erfahrungsgemäß besser sind als solche, die dies mit einer LP taten finde ich hochinteressant. Ich habe mir diese Frage bisher nicht gestellt, stimme nach einigem Nachdenken zu. Meiner Meinung nach gilt dies allerdings vorrangig für Pop und Rock, dort ist nach wie vor die Single das Leitmedium. Aber gilt dies auch z.B. für den Jazz?

    Gern würde ich obiger These eine weitere zur Seite stellen:

    Bands, die zunächst mit Liveauftritten ihre Meriten erworben haben sind eindeutig solchen Bands vorzuziehen, die mehr oder weniger im Studio entstanden sind. Hier gibt es unendlich viele Beispiele, die britische Clubscene der 60er: Rolling Stones, Yardbirds, Pink Floyd. UK Punk und CBGB. Folk & Country, überall wo es eine funktionierende (Live-)Clubscene gibt entstammt hervorragende Musik!

    Meine Haltung dazu: Es gibt sehr wohl objektive Bewertungskriterien auch für Populärmusik, abseits der klassischen musikalischen Maßstäbe. Dazu kommen subjektive Maßstäbe, die durch Erfahrung erworben wurden. Je tiefer und breiter der musikalische Erfahrungshintergrund des Kritikers desto relevanter auch die subjektiven Kriterien. Kennt man den Kritiker länger, weiß man seine Arbeit einzuordnen. Also höre ich auf WD und nicht auf Frau Fuß, nur um mal ein Beispiel zu nennen. Das hat also gar nichts mit Dogma oder Apologethentum zu tun sondern beruht auf langjähriger Lese- und Hörerfahrung.

    Ich dachte mir, es sei wohl am Zweckmäßigsten, Dir, Gerry, in einem Extra-Thread zu antworten.

    Die Frage, ob die Doebelingsche-Regel der debütierenden Bands auch im Jazz gilt, ist sicherlich an ihn gerichtet, dennoch hier meine Meinung:
    Nein, denn Jazzmusiker veröffentlichen – außer in bestimmten Sparten – nur gelegentlich Singles. Sicherlich haben berühmte Jazzmusiker auch Singles veröffentlicht, aber sehr viele eben auch nicht. Ausnahme: Jazzsänger und Sängerinnen.
    Die Unterscheidung macht natürlich nur erst ab dem Zeitpunkt Sinn, als sich LPs und Singles durch technische Innovationen in ihrer Entwicklung trennten. Als die Langform möglich wurde (gesucht wurde sie ja schon weit früher, siehe doppelseitige Schellack-Veröffentlichungen), wurde sie instant und bis heute zur ausschlaggebenden Form. Ausnahmen wie Sun Ra bestätigen die Regel. Aber dessen Singles sind so selten, dass sie vermutlich kaum jemand bewusst wahrgenommen hat.

    Der These bezüglich der Livebands stimme ich zu. Sie gilt meiner Ansicht nach auch im Jazz.

    Ich finde es sehr unbefriedigend, dass Du die Existenz von „objektiven Bewertungskriterien“ bejahst, aber keine lieferst. Wenn Du schon der Meinung bist, dass sie „natürlich“ existieren, dann wäre es nur fair, wenn Du uns auch mitteilen würdest, welche das sind. Übrigens hatte ich ja in meiner Frage einige Ansätze zur Operationalisierung entwickelt.

    Zu den „subjektiven Kriterien“: Logisch! Ich kaufe mir nicht den Metal Hammer, weil ich mit den Kritikern, die dort besprechen, wenig musikalische Gemeinsamkeiten habe. Ich bin selbstverständlich auch von bestimmten Kritikern bzw. Zeitschriften stark in meinem Musikgeschmack geprägt worden. Das sehe ich auch nicht als Problem an und das würde ich auch niemandem zum Vorwurf machen. Darin liegt auch kein Dogma und kein Apologtentum. Ich würde jedoch nie schreiben, dass ich auf jemanden „höre“.

    Dass Kritiker, die sich exzellent auskennen, Kritikern, die sich weniger gut auskennen, vorzuziehen sind, ist logisch. Aber kein Kritiker kennt sich in allen Bereichen der Musik aus oder kann sich dazu sinnvoll äußern. Ich würde nicht auf die Idee kommen, Frau Fuß zu Country oder Folk oder Wolfgang zu aktueller deutschsprachiger Pop/Rock-Musik oder Heavy Metal (ok, das höre ich selbst auch nicht) zu befragen. Was die objektiven Kriterien angeht, hilft uns das jedenfalls nicht weiter.

    --

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    #5835703  | PERMALINK

    mistadobalina

    Registriert seit: 29.08.2004

    Beiträge: 20,816

    Zur Singles-These:

    Kann ich nicht nachvollziehen. Beispiel: Roxy Music. Das erste Album kam vor der Single – deshalb kann man doch nicht sagen, dass die Band nichts taugt. Erst als das Album sich nicht so gut verkaufte, wurde die (zumeist hochgelobte) Single nachproduziert.

    Im Übrigen veröffentlichen in den meisten Fällen keine Bands irgendwelche Tonträger, sondern ihre Plattenfirmen. Und bei denen vollzieht sich alles nach einem Marketingplan. Singles waren/sind in den meisten Fällen eine Art Testballon, wie die Band ankommt. Dazu nimmt man vom Material der Band zumeist den kommerziellsten Song, das muss nicht mal der Beste sein.

    --

    When I hear music, I fear no danger. I am invulnerable. I see no foe. I am related to the earliest time, and to the latest. Henry David Thoreau, Journals (1857)
    #5835705  | PERMALINK

    rupert

    Registriert seit: 05.02.2007

    Beiträge: 607

    die Singles-these kann ich auch nicht nachvollziehen… es ist immer von Vorteil fuer objektiv feststellbare Qualitäten, wenn eine Band es zunächst LIVE bringt/kann. Nur: ALLGEMEINE objektive Qualitätskriterien, die dann dogmatisch fuer alle gelten, die gibt es nicht… eine gewisse Technik gehört dazu… sagte schon Van Morrison, der weder an Gitarre noch an saxofon selbst ein begnadeter Techniker ist.

    --

    In love we are and the thrushes know they're unable to keep in the news so they're singing ( Copyright Rupert 2007 )
    #5835707  | PERMALINK

    mistadobalina

    Registriert seit: 29.08.2004

    Beiträge: 20,816

    Zur LIVE-These:

    Die meisten Bands spielen nun mal LIVE und tingeln anfangs durch Clubs. Welche Bands sind denn gemeint mit „Bands die mehr oder weniger im Studio enstanden sind“? Irgendwelche Electro-Frickler?

    --

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    #5835709  | PERMALINK

    gerry

    Registriert seit: 29.06.2007

    Beiträge: 894

    OK, dünnes Eis – ich versuch es trotzdem mal:

    Für mich persönlich sind objektive und subjektive Bewertungsmerkmale gleichwertig. Für jeden Kritiker gelten zumindest unbewusst immer beide. Ich glaube dass es keinen Kritiker gibt, der seine persönliche Rezeptionsgeschichte ausblenden kann und nur nach objektiven Kriterien einordnet, selbst wenn manche dies behaupten.

    Unter die objektiven Bewertungsmaßstäbe würde ich folgende einsortieren:

    Musikalische Qualität – sicher bei Klassik und Jazz jeweils anders als bei Popmusik zu bewerten; ich verstehe darunter z.B. die Komplexität der musikalischen Struktur (wobei niemals Komplexität um ihrer selbst willen gemeint ist – es gibt simples, das schwierig klingt um zu beeindrucken (vieles im Prog) oder äußerst komplexes, das sich regelrecht in die Gehörgänge einschmeichelt (z.B. Mozart oder Burt Bacharach), Melodienreichtum, rhythmische Komplexität, Beherschen des Instrumentariumns und des musikalischen Materials, Vermeiden von Klischees, etc.

    Authentizität – ist die Musik zum Zeitpunkt des Entstehens glaubwürdig und aus dem eigen Erleben gespeist, basiert sie auf Wurzeln, die der Interpret/Komponist verarbeitet und verinnerlicht hat, auch die sog. Street Credibility im Pop/Rock gehört dazu

    Originalität – inwieweit trägt der Komponist/Interpret etwas neues bei, überwindet er seine Vorbilder oder wiederholt er nur Bekanntes

    Bei Songs kommt die textliche Qualität dazu sowie das Zusammenspiel Text und Musik

    Soweit die objektiven – es gibt sicher mehr aber das sind die für mich wichtigsten.

    Nun zu den subjektiven Kriterien:

    hier gibt es sicher zu viele, um sie alle aufzuzählen; einige Beispiele:

    Eigener musikalischer Hintergrund, womit bin ich aufgewachsen

    Stilistische Vorlieben

    Kultureller Hintergrund

    Soziales Umfeld

    sollen als Beispiele genügen.

    Heutzutage zerfällt gerade die Jugendkultur in hunderte von Microscenen, die jeweils nur die eigenen Vorlieben gelten lassen. Es gibt immer weniger Popmusik, auf die sich alle einigen können – wie zu Elvis Zeiten oder zu Zeiten der Beatles (vor Rubber Soul, danach scheiden sich die Geister).

    Ich persönlich versuche, meine musikalische Bandbreite so breit es mir eben möglich ist auszuweiten. Deshalb will ich auch immer wieder neues hören. Mir genügt es nicht, die Sachen mit denen ich aufgewachsen bin immer wieder rauf und runter zu hören. Ich möchte mich immer mal wieder herausfordern lassen und gehe dann wieder gerne „back in time“.

    Soweit zu meinen persönlichen Maßstäben. Bin gespannt wohin die Diskussion noch führt.

    --

    #5835711  | PERMALINK

    gerry

    Registriert seit: 29.06.2007

    Beiträge: 894

    @mistadobalina
    Sogenannte Retortenbands oder solche, die sehr schnell – ohne einen entsprechenden Erfahrungshintergrund ein erstes Album produzieren. Es gibt ja sogar Elektro-Frickler mit ordentlichem Live-Hintergrund.

    Gegen meine eigene These muss ich allerdings zugeben, dass schon manche großartige Musik aus der Einsamkeit des Hinterzimmers gekommen ist.

    Das mit der Veröffentlichungspolitik der Plattenfirmen stimmt sicher.

    --

    #5835713  | PERMALINK

    whole-lotta-pete

    Registriert seit: 19.05.2003

    Beiträge: 17,435

    @gerry: Deine „objektiven“ Kriterien unterscheiden sich bitte worin in den „subjektiven“….? Üblicherweise müsste das die Messbarkeit sein, und zwar die definitive. Das wird spannend, wenn du das jetzt darlegst ;-)

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    #5835715  | PERMALINK

    meloy

    Registriert seit: 07.01.2006

    Beiträge: 1,378

    Nach vielen Diskussionen im Freundeskreis bin ich mittlerweile für mich zu dem Schluss gekommen, daß es mit den objektiven Kriterien nicht weit her ist.
    Denn wie soll das funktionieren? Welche Kriterien sind frei von Subjektivität?
    Das würde doch in letzter Konsequenz auf einen Vergleich von messbaren Daten hinauslaufen. Also: Wer spielt die meisten Töne in kürzester Zeit? Wer singt am höchsten? Wer kann am längsten?
    Kann man sicher so machen, behagt mir aber ganz und gar nicht.

    --

    #5835717  | PERMALINK

    gerry

    Registriert seit: 29.06.2007

    Beiträge: 894

    Es gibt sicher keine „messbaren“ Kriterien für die qualitative Betrachtung von Musik, zumindest nicht im mathematisch/naturwissenschaftlichen Sinne.

    Dennoch würde ich diese als objektiv betrachten, da sie mit ausreichender Erfahrung beschrieben und belegt werden können.

    Es geht also nicht darum, wieviele Akkordwechsel ein Stück enthält, wieviele Noten in einem Solo gespielt werden oder wie schnell – das wären ja „messbare“ Größen, sondern darum ein Musikstück in einem bestehenden Umfeld einzuordnen. Dies geht nun wirklich nur mit größtmöglicher Kenntnis zumindest der Musikgattung in der das Stück angesiedelt ist.

    Wenn ich also einen neuen Song z.B. von Ryan Adams höre, kann ich diesen vor dem Hintergrund seiner früheren Werke und der ihm vorausgegangen Musik einordnen und bewerten. „Objektiv“ mag dann das Ergebnis sein, dass wir es mit einem durchschnittlichen Werk recht gewöhnlicher Machart zu tun haben (Easy Tiger) „subjektiv“ kann mir dieses Werk dennoch gefallen, weil ich eine gewisse Schwäche für eingängige Melodien, einen bestimmten Sound habe und/oder einfach nur seine Stimme mag.

    --

    #5835719  | PERMALINK

    onkel-tom

    Registriert seit: 23.02.2007

    Beiträge: 42,836

    gerry

    „Objektiv“ mag dann das Ergebnis sein, dass wir es mit einem durchschnittlichen Werk recht gewöhnlicher Machart zu tun haben (Easy Tiger) „subjektiv“ kann mir dieses Werk dennoch gefallen, weil ich eine gewisse Schwäche für eingängige Melodien, einen bestimmten Sound habe und/oder einfach nur seine Stimme mag.

    Das ist deine Meinung. Und was sagst du demjenigen, der das von dir genannte Album jetzt z.B. besser als „Gold“ findet (falls es so jemanden gibt).
    Und wie willst du ihn z.B. im Verhältniss zu anderen Bands bzw. Interpreten einschätzen.
    Du kannst es drehen und wenden wie du willst. Es bleibt dein subjektiver Eindruck.

    --

    Gewinnen ist nicht alles, gewinnen ist das einzige.
    #5835721  | PERMALINK

    meloy

    Registriert seit: 07.01.2006

    Beiträge: 1,378

    gerry
    Wenn ich also einen neuen Song z.B. von Ryan Adams höre, kann ich diesen vor dem Hintergrund seiner früheren Werke und der ihm vorausgegangen Musik einordnen und bewerten. „Objektiv“ mag dann das Ergebnis sein, dass wir es mit einem durchschnittlichen Werk recht gewöhnlicher Machart zu tun haben (Easy Tiger) „subjektiv“ kann mir dieses Werk dennoch gefallen, weil ich eine gewisse Schwäche für eingängige Melodien, einen bestimmten Sound habe und/oder einfach nur seine Stimme mag.

    Evtl. bin ich einfach zu sehr naturwissenschaftlich geprägt, aber die Aussage, daß ein Album ein „durchschnittlichen Werk recht gewöhnlicher Machart“ sei (jetzt mal ganz unabhängig von Ryan Adams) hat für mich nichts objektives.
    Was ist denn „gewöhnliche Machart“? Wie beschreibst Du die, ohne entweder Partituren zu vergleichen oder bei der Nullaussage „sowas hört man halt“ zu landen? Und was sagt das über die Qualität des Songs aus?

    Spannendes Thema, by the way.

    --

    #5835723  | PERMALINK

    whole-lotta-pete

    Registriert seit: 19.05.2003

    Beiträge: 17,435

    Mit Objektivität sind m.E. Wertfreiheit, Sachlichkeit, Neutralität zu verbinden. Alles Dinge, die von einer Plattenkritik, so fachlich sie auch verfasst sein mag, nicht zu erwarten sind. Warum auch? Was man bekommt, ist eine Meinung. Selbst wenn diese sehr fundiert und mit großem Hintergrundwissen unterfüttert ist, bleibt es doch eine Meinung. Die Kriterien der Objektivität, z.B. auch Vergleichbarkeit (alle Betrachter kommen zum gleichen Ergebnis, da die Eigenschaften objektiv feststellbar sind) und Relation (andere Platten können anhand der erhobenen Qualität in einen genauen Vergleich gestellt werden, z.B. durch eine Testnote) kommen hier nicht zum Tragen.

    Man kann natürlich für sich selbst eine eigene Art der „Objektivität“ aufstellen, z.B. umso erfahrener und anerkannter ein Kritiker sei, desto mehr „Objektivität“ komme seiner Meinung zu. Das scheint mir aber eine sehr persönliche Definition zu sein.

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    #5835725  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,673

    Ich frage mich jedoch, ob sich hinter diesen Äußerungen mehr als eine – in Deinem Fall durch jahrzehntelange Recherchen und Beschäftigungen mit der Materie entwickelte – Meinung steckt.

    Konkret meine ich die These „Bands, die mit einem Album debütieren, taugen nichts.“ Ich finde diese These sowohl plausibel, als auch begründbar. Du nennst diese These oben jedoch „empirisch überprüfbar“ und das bereitet mir Schwierigkeiten.

    „Empirische“ Erkenntnisse sind nun, meinem Verständnis nach, mit einer wissenschaftlichen Methode gewonnene Erkenntnisse. Da liegt natürlich die Frage nahe, welche Methode Du verwendet hast. Ich rate einfach mal und nenne: Studium der Musik sowie des Kontextes, in dem sie entstanden ist, Recherche bezüglich der Personen, des Stils mit Hilfe von Konzertbesuchen, Interviews, Besuchen vor Ort usw. Wenn noch mehr dazukommt, dann kannst Du das ja ergänzen.

    Wenn ich also Deine Erkenntnisse überprüfen will, dann muss ich gleichsam diese oder ähnliche Studien durchführen. Nehmen wir die obige Aussage als empirisch zu überprüfende These und formulieren sie etwa anders. „Bands, die mit einem Album debütieren, sind qualitativ minderwertig (im Vergleich zu Bands, die mit einer Single debütieren)“ Dazu bilden wir eine Vergleichsmenge A (Bands, die mit einem Album debütierten) und eine Vergleichsmenge B (Bands, die mit einer Single debütierten).

    Das ist kein Problem. Das Problem ist der qualitative Vergleichsmaßstab. Wie operationalisiere ich jetzt „Qualität“, d.h. wie unterscheide ich gute von schlechten Bands? Da gibt es nun verschiedene Möglichkeiten, einen indirekten und einen direkten Weg. Der erste basiert letztlich auf der Aggregierung der Meinungen anderer Menschen: Ich könnte beispielsweise die Verkaufszahlen zum Erscheinungszeitpunkt des Debuts nehmen. Oder die Verkaufszahlen über einen längeren Zeitraum. Man könnte auch die Bewertungen verschiedener Kritiker sammeln (wie bei metacritic.com) und damit ein System zur Messung von Qualität erstellen. Ich nehme mal einfach an, dass Du von diesen Methoden wenig halten würdest.

    Die andere (direkte) Methode basiert darauf, Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln, um den Faktor der Qualität zu messen. Man könnte die Qualität der Produktion, des Songwritings, der Aufnahme, der instrumentellen Fähigkeiten als Maßstab nehmen. Das Problem bei diesen Kriterien ist jedoch, dass ihre Feststellung in der Regel mit sehr subjektiven Werturteilen verbunden ist. In der Popmusik würde man zusätzlich vor dem Problem stehen, dass die am Besten produzierte oder gespielte Musik häufig nicht unbedingt die beste Musik darstellt. Welche Kriterien sollte man also verwenden?

    Eine interessante Möglichkeit könnte die quantitative Überprüfung von Coverversionen bilden. Je häufiger die Lieder einer Band von anderen Künstlern gecovert wurden, desto – bereinigt nach Zeit und Veröffentlichungsoutput – qualitativ besser ist sie. Dieses System hätte jedoch den Nachteil, dass es bestimmte grundsätzliche Unterschiede zwischen verschiedenen Musikstilen ignoriert. Außerdem gibt es sicherlich Bands, die obwohl sehr gut, wenig gecovert worden sind. Im Country/Folk-Bereich könnte das System dennoch am Ehesten ein sinnvolles Ergebnis erbringen.

    Nehmen wir an, jemand hat eine Reihe von Kriterien entwickelt (welche auch immer das sind) und versucht mit diesen, seine These zu unterstützen. Wenn man jetzt eine Tabelle erstellte (nicht unähnlich einer der Stiftung Warentest), dann würde man vermutlich erkennen, dass die Vergabe von positiven oder negativen Bewertungen von anderen Experten in Frage gestellt würde. Einige würden sicherlich auch zustimmen, einige mehr oder weniger ablehend reagieren. Einige würden sicherlich auch erklären, dass die Maßstäbe oder deren Gewichtung falsch sind und würde eigene Vorschläge machen.

    Am Ende hätte man dann Hunderte von Listen, die alle mehr oder weniger verschiedene Aussagen zur Verifizierung (ist strenggenommen nicht möglich, es könnte ja morgen eine Band kommen, die das Gegenteil beweist) und Widerlegung Deiner These enthielten. Wie sollte man jetzt aber entscheiden, welche richtig ist?

    In den Naturwissenschaften kann man Thesen durch Experimente falsifizieren, selbst in den Geistes- und Sozialwissenschaften, ist es möglich, Thesen zu widerlegen (wenn es auch schwieriger ist). Wie widerlege ich jedoch eine These wie „A ist besser als B“? Es muss eine Möglichkeit geben, diese These zu verwerfen, damit sie empirisch überprüfbar ist. Aber damit das geschieht, brauchen wir Kriterien, um zu entscheiden, was „Qualität“ in der Musik darstellt. Ohne die, haben wir letztlich nur Meinungen, die auf verschiedenen Ansprüchen an Musik basieren und sich nur durch das vom Zuhörer erworbene Wissen über Musik unterscheiden. Das macht dieses Wissen nicht wertlos, es erschwert jedoch, überhaupt empirisch überprüfbare Thesen zu formulieren!

    Ein Beispiel: Nehmen wir King Crimson, die – soweit ich das weiß – mit einem Album debütiert haben (Wenn dem nicht so ist, egal. Dann suchen wir eine andere Prog-Band). Du würdest vermutlich erklären, dass die Band nichts taugt. (Wenn nicht, dann nehmen wir eine andere Prog-Band). Jetzt müsste ich, um Deine These (jedenfalls theoretisch) widerlegen zu können, Deine Maßstäbe kennen, auf deren Grundlage Du dieses Urteil entwickelt hast.

    Selbst wenn Du diese Maßstäbe liefern könntest (und sie würden mich definitiv interessieren), könnte ich Deine Bewertung aushebeln, indem ich behauptete, Deine Maßstäbe wären falsch. Stattdessen nehme ich meine eigenen Maßstäbe: Bands mit langen Songs sind besser als Bands mit kurzen Songs und Bands, die ein Mellotron verwenden, schlagen alle anderen Bands.

    Das ist nun erkennbarer Unsinn, aber damit könnte ich zeigen, dass King Crimson die beste Band überhaupt sind. Du könntest meine Bewertungsmaßstäbe attackieren, aber letztlich hättest Du – meiner Ansicht nach – keine Möglichkeit meine These zu widerlegen. Mit anderen Worten: Wir hätten wieder „nur“ zwei Meinungen und keine Möglichkeit zu entscheiden, welche die „richtige“ ist. Das ist ein Dilemma, das jeder hat, der über Musik spricht. So gerne wir auch objektive Kriterien hätten, es fällt uns unglaublich schwer, sie zu entwickeln, wenn es konkret wird. Wie sollen wir dieses Dilemma nun lösen? Ich habe darauf keine Antwort.

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #5835727  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,673

    Ich habe diesen Beitrag aus dem DJ-Thread nochmals gespostet, weil ich auf das eingehen will, was Pete schreibt. Er treibt es meiner Ansicht nach etwas weit, weil es selbst in den Naturwissenschaften häufig nicht gelingt, dass alle Beobachter zum selben Ergebnis kommen. Vielmehr ist das Problem grundlegender. Wir müssen uns erst über Kriterien einigen, wie wir Qualität messen wollen bzw. wir müssen diese Kriterien diskutieren. Generell gilt aber für jede Wissenschaft, dass die Kriterien der Beurteilung Gegenstand wissenschaftlicher Debatte sind. Die Ergebnisse natürlich sowieso. Empirie setzt nämlich voraus, dass sowohl Methode wie auch Ergebnisse intersubjektiv überprüfbar sind. Auch die Naturwissenschaften arbeiten allerdings nicht immer mit wertfreien Methoden.

    --

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    #5835729  | PERMALINK

    gerry

    Registriert seit: 29.06.2007

    Beiträge: 894

    @meloy:
    Wie gesagt: man muss die anderen Alben dazu kennen und eben auch möglichst viele wegweisende Alben des Genres.

    Mir ist schon klar, dass die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität sehr schmal ist – trotzdem möchte ich mich entschieden gegen eine mögliche Beliebigkeit zur Wehr setzen, die automatisch zum Tragen kommt, wenn man sagt: „alles ist irgendwie subjektiv“.

    Wie würde man denn z.B. in der Literaturkritik vorgehen. Hier sollte auch keiner auf den Gedanken kommen, Konsalik höher als Joyce einzustufen.

    Sicher ist es bei zeitgenössischer Kunst schwieriger ein gültiges Urteil zu treffen. Vor allem wenn es sich um Kunst handelt, die völlig neue Maßstäbe setzt und bekannte Kriterien verschiebt. Dann braucht es eben eine Weile, bis diese „objektiv“ eingeordnet werden kann, siehe die Rezeption von Elvis, Beuys oder Joyce.

    Je besser man etwas kennt, desto besser kann man es beurteilen. Nehmen wir mal ein ganz anderes Beispiel, das aber ähnlich funktioniert:

    Bei der Bewertung von Wein gibt es eindeutige Qualitätskriterien, die sich nur bei entsprechender Kenntnis der Materie erschließen. Trotzdem sind sie nachvollziehbar, beschreibbar und damit „objektiv“. Das sagt nichts darüber aus, ob ich (oder Du) einen Wein bestimmter Geschmacksrichtung mag oder nicht. Deshalb kann mir (oder Dir) subjektiv ein einfacher Landwein besser schmecken als ein Grand Cru. Vielleicht magst du ja überhaupt keinen Wein, dadurch wird dieser aber nicht unbedingt schlechter und du selbst bist damit schon gar kein schlechterer Mensch. Würden die Weintrinker dies behaupten, verhielten Sie sich elitär.

    Dieses Beispiel lässt sich auf vieles übertragen: Bier, Espresso, Jazz, whatever.

    Im Sport ist das natürlich anders, dort gibt es tatsächlich messbare Ergebnisse. Aber es gibt eben auch Doping. Ganz schön kompliziert die Welt.

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