Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

@Witek
Nein, die beginnt erst im September. Ich wollte davor noch ein paar Lücken unter den TV-Arbeiten schliessen und mir dann vor allem seine frühen Sachen im Kino anschauen. In die beiden Filme gehe ich wohl aber auch nochmal.

The Graduate (Mike Nichols, 1967) ****½
Eraserhead (David Lynch, 1977) ***½

pinchSeltsame Wertung. Eigentlich ist die Rezeption dieses Films für gewöhnlich ja genauso schwarz/weiss wie ERASERHEAD selbst. Also entweder komplett top oder vollflop. Kannst du mal deine Eindrücke etwas detailliert schildern? Würde mich interessieren.

Gerne. Prolog: Ich bin noch relativ Lynch-unangetastet, ich kenne Blue Velvet und Mulholland Drive (beide ****) sowie die komplette Twin Peaks-Serie, die ich liebe (*****). Ich weiß gar nicht, was genau es war, warum ich mich als nächstes an Eraserhead herangewagt habe. Bauchgefühl vielleicht. Ich mag den Film. Ich finde ihn sehr gut. Aber nicht begeisternd, was für mich die Trennspur zur **** ist.

Was ich mag: Die Atmosphäre. Die Atmosphäre bleibt den ganzen Film über beunruhigend, selbst dann, wenn eigentlich gar nichts passiert. Das ist sehr gut in Szene gesetzt, und ich mag es, wie Lynch einen Hauptcharakter in diese Atmosphäre gesetzt hat, der bis auf seine Frisur so herrlich unspektakulär ist. Die Nebencharaktere – besonders toll: Die Eltern von Henrys Freundin – tragen ihr übrigens dazu bei, das industrielle Setting sagt mir auch zu. Aber meine Highlights sind auf jeden Fall die Auftritte der Lady in the Radiator, die – für mich jedenfalls – die Todessucht des Protagonisten ausdrückt, besonders deutlich im wundervollen In Heaven (Everything Is Fine)-Song.

Warum fehlt also das letzte bisschen Grundbegeisterung für die ****? Gute Frage. Aber wahrscheinlich gab es von dieser tollen Basis ausgehend zu wenige Momente, die mich als wirklich genial angesprungen hätten. Eraserhead war für mich bei weitem nicht der Mindfuck, der Mulholland Drive war und bei seiner Rezeption habe ich wohl mehr damit gerechnet. Wirkliche Überraschungsmomente (wohlgemerkt: im Plot) gab es nicht, einiges fand ich sehr voraussehbar, einige Szenen (die Hühnchen, der auf den Boden fallende Kopf) gar unfreiwillig komisch, wovon die bedrohliche Atmosphäre in Mitleidenschaft gezogen wurde. Manchmal wurde es auch ein bisschen zu sehr „seltsam um der Seltsamheits Willen“ (die komplette Kopfszene).

Ich denke aber, das was mir am meisten gefehlt hat, war: Faszination. Und die entsteht ja sehr unmittelbar. Eraserhead hat mich nicht genug in seinen Bann gezogen. Als der Film durch war das mehr ein „Okay, das war jetzt schön weird“ und kein „Was zur Hölle…?!?“, dieses wunderschöne Perplexsein, das es bei Mulholland Drive gab und das mich da Tage lang nicht losgelassen hat (Blue Velvet hatte diese Reaktion auch nicht, zielt aber auch nicht darauf ab). Ich werde auf den Film zurückkommen, wenn ich noch weiter drin bin im Lynch-Kosmos, aber trotz aller Sympathien für Film und Regisseur würden sich mehr als ***½ ohne diesen letzten Funken Begeisterung gerade falsch anfühlen.

Ein paar deiner eigenen Eindrücke würden mich auch interessieren. Gerade über Lynch lässt es sich sehr gut über die unterschiedlichen Wahrnehmungen austauschen. Für mich definitiv ein Pluspunkt seines Schaffens.

Jan Lustiger
einige Szenen (die Hühnchen, der auf den Boden fallende Kopf) gar unfreiwillig komisch, wovon die bedrohliche Atmosphäre in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Wieso unfreiwillig komisch? Ich fand den gesamten Film gerade durch die von dir genannten Szenen ziemlich witzig, was sich meiner Auffassung nach nicht mit der gruseligen Grundstimmung biss, sondern viel mehr zu einem faszinierendem Gesamtkunstwerk führte, dass man nicht so einfach in eine Schublade packen kann.

Danke für deine Schilderungen, Jan. Das Bewundernswerteste an ERASERHEAD ist für mich diese Langsamkeit. Alles bewegt sich wie unter Wasser, wirkt weggetreten und schläfrig. Zusammen mit der grandios gestalteten Tonkulisse ergibt das für mich den wahren Horror dieses Films. Ich bin da vom ersten Moment an wie hypnotisiert. Der „In Heaven“-Song hat mich damals bei ersten Gucken sogar nächtelang im Schlaf heimgesucht, weitaus mehr als die „Baby-Kreatur“. Mir gefällt außerdem Lynchs trockener Humor: die Fahrstuhltür, die erst nach elend langer Zeit schließt, der debil grinsende Schwiegervater, die Oma mit der Kippe im Mund und schließlich der Buster-Keaton-artige „Henry“, der in die Pfützen der gottverlassenen Fabriklandschaft tappt.
Am besten kommt ERASERHEAD aber echt, wenn man die seltene Gelegenheit hat, ihn in einem schäbigen Mitternachtskino sehen zu können. Klingt abgedroschen, ist aber so.

Jan LustigerAber ich lasse mal noch etwas Zeit verstreichen bis zum nächsten Mal.

Würde ich auch vorschlagen. Und dann am besten nachts gucken, wenn ringsherum alles ruhig ist.

Der ERASERHEAD-Soundtrack erschien damals übrigens auf Jello Biafras „Alternative Tentacles“-Label. Soviel Punk muss sein!

Jan LustigerDas gab es 1977 doch noch gar nicht?

Der Soundtrack wurde ja auch nicht 1977 sondern 1982 veröffentlicht.