Kurzgeschichte des Tages

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    matis

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    Das kleine Mädchen Lisa
    eine Geschichte von Esra Türk, Moers,
    Grundschule Achterathsfeld, Kl.4b

    Es war einmal ein Mädchen, das Lisa hieß. Lisas Eltern waren vor ein paar Monaten gestorben, weil sie einen schrecklichen Autounfall hatten. Auf der Autobahn hatte sie ein Lastwagen von der Fahrbahn abgedrängt und hatte noch nicht einmal gehalten. Lisa war sehr unglücklich, weil ihre Eltern gestorben waren und sie nun bei ihrer Tante wohnen musste. Aber das war immer noch viel besser, als wenn Lisa in ein Kinderheim hätte gehen müssen.

    Die Tante war böse zu Lisa. Die arme Lisa musste schon von morgens um halb sieben bis abends um sechs für die böse Tante arbeiten. Lisa musste kochen, jeden Tag das Haus aufräumen und die Betten machen. Irgendwie kam sie sich vor, wie das Aschenputtel, von dem sie mal in einem Märchen gehört hatte, das ihre Mutter ihr am Abend immer vorlas, wenn sie ins Bett ging. Sie hatte das immer unheimlich gern gehabt, im Bett liegen, langsam müde werden und die Stimme ihrer geliebten Mutter beim Vorlesen zu hören.

    Sie hatte einmal ihre Tante gefragt: „Kannst du mir auch mal ein Geschichte vorlesen?“ „Nein“, war ihre ablehnende Antwort, „du verstehst mich nicht. Ich gehe jetzt lieber mit meinem Freund zum Abendessen, als dass ich dir hier so eine Geschichte vorlese, und du bleibst zu Hause, klar?“

    Die Lisa durfte nicht mit ihrer Tante zum Abendessen gehen, sondern sie musste aufräumen, lesen, schreiben und rechnen.

    Ihre Tante war schon weg, die Lisa war alleine zu Hause und auf einmal klingelte das Telefon. Lisa nahm den Hörer ab. „Hallo, ist mein Tante da?“ fragte eine junge Frau. Die kleine Lisa fragte erstaunt: „Nein, aber wer bist du denn ?“
    „Ich heiße Susanne Kleinmann, und wie heißt du?“ „Ich heiße Lisa Kleinmann. Mensch, wir haben ja den gleichen Nachnamen.“ „Ja, tatsächlich! Kannst du meiner Tante sagen, dass ich angerufen habe ?“ „Ja klar“, meinte Lisa, „dann Tschüss.“

    Als die kleine Lisa das Telefon aufgelegt hatte, dachte sie noch lange über den gleichen Nachnamen der jungen Frau nach. Ihr fiel ein, dass ihre Mutter einmal gesagt hatte, dass sie noch eine größere Schwester hätte. „Ob das wohl ihre große Schwester war?“

    Am nächsten Morgen fragte sie ihre Tante. „Habe ich noch eine größere Schwester?“ „Ja, Lisa, du hast noch ein größere Schwester. Aber woher weißt du das ?“ „Gestern Abend rief mich eine junge Frau an, die hatte den gleichen Namen. Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“

    „Ich hatte keine Zeit“, war die freche Antwort der Tante. „Aber du hattest Zeit für Disco und viele Freunde, nur für mich nicht!“ „Ja, Lisa, aber wenn es dir lieber ist, dann geh doch zu deiner Schwester. Lebe doch glücklich bei deiner Schwester!“

    Lisa strahlte. Sie wäre so glücklich, wenn sie nur von der frechen Tante wegkommen würde. „Ruf doch meine Schwester an, ich gehe sofort, wenn du mich lässt.“

    Es war früh am Morgen, als das Auto der Schwester von Lisa vor der Türe hielt. Sie wurde abgeholt und war unheimlich glücklich, nun wieder in eine richtige Familie zu kommen.

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      #3982457  | PERMALINK

      matis

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      Shaved Pussies

      by The Morrigan , November 14, 2005

      OK, this is starting to scare me. I’m turning into a cliché – professional single woman with two cats and a freezer full of Lean Cuisine.

      I’m considered a marvel at work because I regularly get to the office at 4:45 a.m. My co-workers believe me to be sickeningly devoted to my job (and I am) but going to these levels is not so much an indication of my dedication as it is a sign of my pathetic lack of a life. I’m an insomniac anyway and since the only male mammal I’ve slept with in about a million years is a cat, there seems to be no point to lingering under the duvet.

      I had to go to another city recently because they were short-staffed but before I left, I had to take Ivan and Annie to the groomer. I’ve mentioned how furry they both are and despite the fact that it is fundamentally ridiculous to have cats shaved, that is indeed what I did. The fur around the place was unbelievable and since I’m no Martha Stewart, it was either shave the cats or mow the hardwood.

      I was using a new groomer this time and at first glance, she’d done a good job.

      Imagine two majestic, proud animals with normally glossy and flowing fur reduced to skinned rat clones with big heads and murder in their eyes. This time, when I went to pick them up, the woman who’d done the grooming said that she had cut Ivan „slightly“ but that it was nothing to worry about.

      I caught a glimpse of the wound a few hours later. „Slightly“ turned out to be a gash that took 4 staples to close, and one that my vet likened to being stabbed very deeply. I was incensed (and of course, I am suing the arse off them).

      The trouble was, I picked them up the day before I had to leave and in addition to having staples, Ivan was also prescribed antibiotics that were supposed to be given orally once a day. Luckily, I have a friend in the building who foolishly agreed to undertake this thankless task so off I went, worrying all the way. I decided not to put the space kitty cone on his head – I knew it would drive him insane.

      Have you ever tried to give a cat a pill? With dogs, it’s easy – you just stick it under another dog’s tail. Cats are different. Hissing, yowling and bloodletting are common, as is the surreptitious regurgitating of the pill in inconvenient locations.

      I worried all week and when I arrived home, it was to two bald, shivering creatures who plainly were in no mood to forgive this latest indignity. I also discovered that Ivan had picked all the staples out with his teeth. Really, I should have expected no less. I was a bit apprehensive, knowing that there was no way that he was going to let me get away with (a) taking him the groomer in the first place; (b) then to the vet; and (c) leaving them alone for a week.

      Sure enough, I discovered the next morning as I was rushing out the door to work that somebody had taken a shit in my brand new shoes – several of them, actually, if tactile sensation was anything to go by – squishy as I slid my foot in and then something rock-like in the toe. The really disturbing part was that it was still warm.

      Needless to say, the little bastard was nowhere to be found. As I peeled off my soiled pantyhose and washed my feet (cursing up a storm all the while), I decided that we were even and that I would take no retaliatory action. I always lose. That cat’s pretty fiendish and it’s beginning to worry me that I seem to be utterly unable to outwit him.

      But you know what the most ironic thing is?

      Even with two shaved pussies, I can’t get a date.

      Till next time,

      Morrigan

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      five to seven
      #3982459  | PERMALINK

      matis

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      Aus der Kategorie „Absurd“ (Kurzgeschichten):

      Kristina Korus
      [B]Eines Tages ging Dexter auf die Pirsch

      Eines Tages ging Dexter auf die Pirsch. Er war noch nie dort gewesen und schaute sich nun, wo er dort war, mit großen Augen um, aus denen das Erstaunen geradezu herausfloß. Schon bald war die ganze Straße überflutet und die Feuerwehr mußte anrücken und einige Keller auspumpen. Zum Erstaunen der Besitzer waren auch sie bald trocken.

      Dexter lief also auf der Pirsch entlang, als er ein entlaufenes Kaninchen sah, das mit einer Sanduhr zwischen den Ohren herumhoppelte, und zwar im Kreis. Dabei sang es laut „Tick – und – tahack und nochmal tihiiiiiiii…“

      Es hatte eine glockenklare Stimme, und als es den Mund weit aufriß, konnte Dexter sogar den Namen der Gießerei erkennen. Aber beim „… nochmal tihiiiiii…“ kam es mit seiner Stimme so hoch, dass sämtliche Glasfasern rissen und plötzlich war es stockdunkel in der Stadt, obwohl eigentlich Tag war.

      Doch die Bewohner der Stadt hatten das Sonnenlicht am Tag immer abgefangen und gespeichert, um es in der Nacht, wenn es richtig dunkel war, verstärkt durch Glasfaserbündel zu schicken, so dass es hell wurde. Dies war eine Tradition, die jetzt schon seit 5 Generationen bestand. Mit der Zeit hatten sich die Augen der Bewohner so an das grelle Glasfaserlicht gewöhnt, dass sie auf das normale Sonnenlicht gar nicht mehr reagierten. So wurde der eigentliche, durch den Lauf der Sonne definierte, Tag zur Nacht. Und deshalb war es für alle jetzt stockdunkel, auch für Dexter.

      Er überlegte, ob er in Panik verfallen sollte. Dann aber dachte er, dass er heute schon genug umgekippt war und blieb stehen und wartete. Er pfiff sich ein Liedchen und bald war er von einer Schar Hörlustiger umgeben, die – sich vorsichtig vorantastend – seinem Pfeifen gefolgt waren. Jetzt, wo keiner etwas sehen konnte, war das Hören das, worauf sie sich verlassen mußten. Was lag da näher, als einem lustigen Liedchen zu folgen, das die Herzen erhellte?

      Und plötzlich konnten sie wieder sehen. Das Licht der Herzen erleuchtete die Umgebung jedes Einzelnen.

      Damit drohte die Geschichte ins Moralische abzudriften – und das ist nicht gut. Jeglicher Versuch, einer Geschichte eine Moral zu geben, ist unmoralisch und nicht zu verantworten.

      Dexter jedenfalls starb am nächsten Tag beim Versuch seinem Fernseher ein Hertz zu geben, damit er wieder flimmerte. Er hatte aber vergessen den Netzstecker zu ziehen und die Spinne war äußerst wütend gewesen, als sie ihr Netz in einem Zustand größter Verwirrung vorfand.

      Sie packte ihre Koffer und verschwand.

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      #3982461  | PERMALINK

      matis

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      Jakob Kandinsky
      Shot in the Head

      ..zunächst ein fröhliches ‚Hallo‘ an den geeneigten Leser. Wenngleich die Fröhlichkeit so aufgesetzt ist wie ein alter Hut, der eh nie recht hat passen wollen.

      Ich hab SIE inzwischen (mehr oder weniger) erfolgreich aus meinem Wachbewusstsein verdrängt. Wohl aus Scham starb eine Hälfte von mir mit. Ich bin jetzt halbtot. Wieder mal. Selbst physisch. Gestern lief ich am ‚Esprit-Shop‘ vorbei, wo SIE arbeitet – schnell dran vorbei – wenngleich ich noch einen kurzen Blick riskierte. Und plötzlich ertapp ich mich, wie ich somnambul mitten durch den Laden schlendere. Wie bin ich hier nur wieder reingeraten? Schnell steuern meine Füße auf den Hintereingang zu (man sollte ja denken der Kopf steuert, aber es sind immer die Füße!). Dabei kein Blick nach links, kein Blick nach rechts.

      Wieder draußen sieht es aus wie im Hinterhof irgendeines Fabrikgeländes. Altes Backsteingemäuer, Fenster- und Wellblechflächen. Und nur eine Fluchtrichtung, der ich einzig deshalb folge, um nicht wieder zurück zu müssen. Ich gelange an eine Treppe, die mich mitten in einen Speisesaal führt. An langen Bänken und langen Tischen sitzen eine Menge junger Menschen. Ich setze mich dazu. Unfreundliche Frauen in weißen Kitteln servieren das Essen. ‚Hier wird also die Esprit-Belegschaft gespeist‘ denke ich.

      Es gibt Pommes. Die vier Jungs, die mir direkt gegenüber sitzen kommen mir bekannt vor. Sie scheinen mich aber nicht zu kennen. Ich beobachte das ganze, bis mir eine der Frauen in den weißen Kitteln ein Buch hinreicht. Wie selbstverständlich schneide ich es an, so wie man ein Kotelett anschneiden würde. Ich esse also dieses Buch. Mit Messer und Gabel. Ein trockenes Vergnügen.

      Ob SIE auch hier ist? Mein Blick schweift wieder durch den Saal. Und plötzlich entdecke ich SIE. Fast direkt neben mir. Ich winke ihr zu. Sie winkt zurück, freundlich, schüttelt aber den Kopf (schüttelt aber den Kopf) und wendet sich wieder den Mädchen zu, die ihre Freundinnen zu sein scheinen. tja.. (ein unsagbares, leise hallendes ‚tja‘). Und die Frau im weißen Kittel serviert schon den nächsten Gang. Hamburger, ohne Brötchen, überdeutlich erkennbar aus maschineller Fertigung.

      Ich mag nicht mehr essen. Ein letzter blick auf SIE, dann mach ich mich auf Richtung Ausgang. Dabei erblicke ich, mitten unter all den anderen, auf einer Bank am Fenster sitzend …Yvonne Catterfeld. ‚Hallo, du bist doch Yvonne Catterfeld‘ sage ich und strecke ihr meine Hand entgegen. Fast unmittelbar setzt sie ihr Catterfeld-Gesicht auf und erwidert den Gruß. Dankeschön. Als ich vom Fabrikgelände runter bin fällt die Tür hinter mir …in mein Schloss aus Luft. Einsame Strassen, Kreuzungen, Bahnübergänge.

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      #3982463  | PERMALINK

      matis

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      anubis737
      [B]Nachts

      Sie gingen alle fort. Verließen sie. Ließen sie im Stich. Nur sie war noch da. Musste fliehen aus der Heimat. Musste Söhne beerdigen. Musste Töchter beerdigen. Eltern, Ehemann. Blieb allein. Konnte nichts anderes tun. Voller Erinnerung, voller Vergangenheit, ohne Perspektiven, ohne sich.

      Sie lebte fortan in einem kleinen Haus. Fern ab von der Stadt. Bei einem Wäldchen. Im Herbst fielen seine Blätter. Sie wehten durch ihr Fenster. Die alte Frau, früher wurde sie Dame genannt, kümmerte sich nicht darum. Warum auch? Sie träumte nur. Träumte ständig; oder kümmerte sich um ihren Kater. Er war schwarz, ganz schwarz.

      Er saß oft bei der alten Frau und schaute mit ihr fern. Bis sie einschliefen. So ging es jeden Tag. Sie schauten fern und schliefen ein. Tranken Tee, schliefen ein.

      Tag für Tag.

      Wie schön sind doch jene Tage gewesen, als sie nicht wusste, was der Tag bringen würde. Doch nun, Stille.

      Manchmal, jedoch nur manchmal, liefen Kinder durch das Wäldchen; lachten. Wie ihre Kinder. Wie sie selbst damals.

      Jetzt hatte sie nur noch den Kater.

      Es war ein Sonntag. Der Fernseher war angeschaltet. Es lief Gottesdienst. Es war evangelischer. Sie war katholisch. Sie achtete auch gar nicht darauf. Sie kochte Wasser. In einem alten Kessel. Den fertigen Tee stellte sie auf einen kleinen Tisch. Er war schon sehr alt. Dunkles Holz. Viele Verzierungen. Er stand neben ihrem Sessel; beim Fernseher.

      Auf dem Sessel lag schon der Kater, schlief. Sie schaltete den Fernseher aus. Trank den Tee. Er war in einer weißen Tasse. Viele Verzierungen. Der Teebeutel war noch im Tee. Sie nahm den Beutel, zwirbelte ihn um einen alten Silberlöffel und ließ die letzten Tropfen hinaus.

      Sie starrte den Tee an. Solange bis er ganz kalt war. Das tat sie jeden Sonntag. Sie liebte den Geruch, nicht den Geschmack.

      Der Tee war noch von ihrem Mann. Er hatte ihn jeden Sonntag getrunken. Er hatte den Tee von einer Reise mitgebracht. Der Geruch des Tees war immer so lebendig, so voller Lebensfreude, Träumerei.

      Nun war der Geruch schon fast verflogen. Nahm sie ihn überhaupt noch wahr? Vielleicht.

      Die Erinnerung war einfach wichtiger.

      So war es auch bei dem Silberlöffel. Er hatte ihrem Sohn gehört. Sein Name war eingraviert. Zittrig strich sie mit ihren alten runzeligen Fingern über die Gravur. Sie seufzte, schloss die Augen.

      Sie sah ihn vor sich. Wie er in seinem Bett lag. Krank. Weinend.
      Wieder und wieder musste sie es sehen. Sie öffnete die Augen.

      Sie saß nur da. Einfach da. Bis es dunkel wurde. Sie schaltete den Fernseher ein. Es war spät; wurde immer später. Langsam verschwammen die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah. Sah all das Gute, all das Schlechte.

      Wachte wieder auf. Strich sich die Tränen aus dem Gesicht.

      Sie wollte wieder zurück. Sie konnte aber nicht.

      Oft nahm sie sich ein Messer aus der Schublade. Legte es auf ihren kleinen Tisch. Sah es an. Überlegte. Nahm es in die Hand. Zögerte. Sie brachte es doch wieder zurück. So konnte sie nicht gehen. Und so brachte sie es jedesmal wieder zurück. Sie schlug gegen die Schublade, weinte.

      Manchmal konnte sie gar nicht weinen so stark war der Schmerz. Konnte es jemandem noch schlechter gehen? Durch den Tod sollte man doch stärker werden. Warum konnte sie nicht stärker werden? Sie fühlte sich so schwach. So gern hätte sie ihre Vergangenheit.

      Wie sollte sie mit allem ganz allein umgehen? Es ging einfach nicht. Sie wollte so gern schreien. So traurig, wütend war sie. Es ging einfach nicht. Sie gab sich auf, für diesen Tag, für diese Stunde.

      Morgen war ein neuer Tag.

      Tag für Tag.

      Ihr Kater schlich sich zu ihr. Holte sie zurück. Sie setzte sich mit ihm in den Sessel, sah fern. Bis sie ganz fern war. Fern von dem Kater, dem Sessel, dem Tisch, dem Tee, dem Schmerz. Ganz nah an der Vergangenheit.

      War so weit weg und doch so nah.

      Am nächsten Tag wachte sie auf. Ein Teil von ihr war gestorben, nachts. Sie hatte nur noch den Kater. Was würde sie nur tun, wenn er auch noch gehen würde? Sie musste sich mehr um ihn kümmern. Sie konnte jedoch nicht. Sie weinte, wenn sie ihn fütterte, weinte, wenn sie ihn bloß sah.

      Wieder saß sie vor dem Fernseher. Es war Sonntag. Der Tee stand noch neben ihr. Der Kater lag vor dem Sessel.

      Langsam entfernte sie sich von ihrer Trauer. Doch der Schmerz blieb. Sie konnte kaum sehen, weil ihre Augen mit den Tränen kämpften.

      Sie konnte nicht mehr. Sie war so kraftlos. Die Welt um sie herum verschwamm. Die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah, ganz nah. Sah alles Gute, alles Schlechte.

      Ihr letzter Atemzug. Keine Kontrolle mehr. Verlor das Gleichgewicht. Fiel vom Sessel. Riss den Tisch mit zu Boden. Die Tasse zerbrach. Schade um die Verzierungen. Der Tee hatte seinen Geruch verloren.

      Sie lag nur dort, auf dem Boden.

      Der Kater schleckte ihre Hand. Was soll jetzt nur aus ihm werden?

      Sie gingen alle fort.

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      #3982465  | PERMALINK

      matis

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      anubis737
      Kira

      Kira war nun schon 16. Sie war wie jedes andere Mädchen. Sie hatte ihre Ziele und einen Freund. Marcus hieß er. Er schrieb sich mit einem „C“, nicht mit „K“. Gewiss ungewöhnlich, aber das gefiel Kira. Man konnte den Namen jederzeit englisch aussprechen. Natürlich tat dies niemand. Klingt auch komisch in Deutschland.
      Sie mochte ihn wirklich sehr. Nein, sie liebte ihn. Obwohl das schon fast übertrieben ist. Schließlich erführe man wahre Liebe erst, wenn man älter werden würde. Mit dreißig vielleicht. So meinte es zumindest Kiras Mutter. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, stürzte sie sich in die Religion. So tief, dass sie gar nicht mehr zu erkennen war. Ihre Mutter trat einer Sekte, oder wie sie es nannte einer „freien religiösen Gemeinschaft“ bei. Sie sprach ständig von Jesus und anderen biblischen Figuren. Und von Anstand und Moral. Das prägte Kira natürlich. Zu einem gewissen Maß.
      Ihre Mutter schien oft sehr deprimiert. Sie begann aus heiterem Himmel minutenlang zu weinen. Kira ignorierte das. Sie musste einfach. Sie sah sie manchmal an und wusste nicht, ob sie ihre Mutter bewundern oder bemitleiden sollte. Sie war doch in der Vergangenheit so stark gewesen. So unglaublich stark. Tapfer. Sie bewies stets ein steinernes Herz, wenn ein Problem auftrat. Wenn Kiras Vater einmal an die Wohnungstür klopfte, um sie zu besuchen. In Gottes Namen solle er doch sofort verschwinden, schrie ihre Mutter dann.
      Und ihren Freund kannte Kiras Mutter gar nicht. Ihre Mutter predigte stets Enthaltsamkeit und das pure Heil der Ehe. Ja, die Ehe. Dabei war sie doch selbst „getrennt lebend“. Quasi geschieden. Außerdem war Marcus doch vier Jahre älter. Volljährig. Unmöglich wäre es, ihn vorzustellen. Dabei war er doch so nett. Zuvorkommend. Zumindest schien es so zu sein.
      An einem wunderschönen Sonntag bat Kira, mit „Freunden“ an einen See gehen zu dürfen. Picknicken. Die Mutter willigte ein. „Wen allein liebst du?“, fragte sie. „Dich natürlich.“, entgegnete Kira. „Und wen noch?“ –„Gott, Jesus.“ Kaum ein Klischee, das ihre Mutter nicht erfüllte. Sie musste sie einfach behüten. Kira musste eine ebenso starke Frau werden, wie sie es war. So musste stets klug sein, um auf keinen Mann, keinen Wolf, hereinzufallen. Liebe war etwas so Unantastbares, dass bis zur Ehe aufbewahrt werden musste. Das sagte ihr Pastor auch immer wieder. Enthaltsamkeit musste sie ihrer Tochter gar nicht vermitteln. Sexualität war überhaupt kein Thema. Es wurde nicht angesprochen. Mit keiner Silbe. Kira musste davor bewahrt werden. Unmöglich? O nein. Um ihre Tochter vor der Schamlosigkeit der Zügellosigkeit zu schützen, würde sie alles tun. Sehr wohl alles.
      Kira wusste das. Und obwohl sie die Haltung ihrer Mutter rein sachlich nicht recht verstand, war ihre Liebe zu ihrer Mutter doch so groß, dass sie ihr niemals hätte auf diese Weise wehtun können. Würde sie Marcus mit nach Hause bringen, die Welt ihrer Mutter wäre zusammengebrochen. Kira war doch ihr braves unschuldiges Mädchen.
      Am See traf sie sich natürlich mit ihrem Freund. Es brachte allerlei Waldfrüchte mit. Sie fütterten sich gegenseitig. Marcus begann sie zu küssen. Hielt sie fest. Schlief mit ihr. Kira versuchte sich zu wehren. Dachte an die Ehe. An die Liebe, die sie noch nicht empfinden durfte. Schließlich ließ sie ihn gewähren.
      In den nächsten Wochen fühlte sich Kira richtig wohl. Erwachsen. Doch sie ahnte nicht, dass sie schwanger war. Dass ihre Regel ausblieb, kümmerte sie nicht weiter. Sie wusste nur, dass sie sich manchmal verspäten konnte. Besser aufgeklärt war sie nicht. Woher auch? Von ihrer Mutter? Kira sah nie fern und ihre Schule lehrte nur Prävention.
      Als sie begann, sie oftmals zu übergeben und ihr Körper sich leicht veränderte, begann sie zwar ihre Situation zu begreifen, doch tat sie alles, um diese zu verdrängen. Sie musste es. Ebenso auch ihre Mutter. Sie sprach ihre Tochter anfangs jedoch nicht darauf an. Sie weinte nur. Still. An jedem Abend, wenn Kira schon schlief.
      Als Kira allerdings an einem Tag im Bett ihres Zimmers lag und leise vor sich hin wimmerte, musste ihre Mutter das Gespräch beginnen.

      „Was ist mit dir?“

      „Ich fühle mich krank. Schrecklich. Als ob ich sterben müsste.“

      „Ach ja? Vielleicht ist es eine Grippe. Oder eine Magenverstimmung. Hast du vor kurzem etwas Schlechtes zu dir genommen?“

      „Nein, nichts.“

      „Sicher nicht? Dann rufe ich jetzt einen Arzt, okay? Wir müssen dich ja nicht in ein Taxi quälen, oder?“

      „Wenn du es meinst, Mutter.“

      „Es wird das Beste sein. Das Beste. Wir wollen doch beide, dass es dir bald wieder besser geht, nicht wahr? Mit Gottes Hilfe, geht es dir schon in ein paar Tagen besser. Oder geht es dir sehr schlimm?“

      Kiras Mutter ging und rief einen Arzt an.
      Natürlich war dem Arzt klar, dass Kira ein Kind erwarten würde, doch wollte er es zuerst der Mutter unter vier Augen erzählen. Sie gingen auf den Hausflur. Kiras Mutter dankte für die rasche Diagnose. Sie sagte, sie wolle ihrem Kind selbst die von der Nachricht erzählen und verabschiedete den Arzt.
      Obwohl sie um das Schicksal ihrer Tochter bereits wusste, trat erst jetzt die Enttäuschung Kiras Tat in der Mutter hervor. Sie ging zurück in Kiras Zimmer und ließ sich die unheilbringende Diagnose nicht anmerken. Sie wollte Kira dazu bringen, ihr Versagen zu gestehen.

      „Der Arzt meinte, es wäre nur eine leichte Virusinfektion.“

      „Ja?“

      „Ja.“

      „Aber ich fühle mich so, als müsste ich sterben.“

      „Du wirst nicht sterben, mein Kind. Du stehst unter Gottes und meiner Obhut.“

      „Ich fühle es aber so sehr. Es geht mir so schlecht Mutter!“

      „Vielleicht belastest dich noch etwas anderes…“

      „O Mutter, das Leben ist nicht gut zu mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich empfinde so anders. Ich sehe die Dinge nicht mehr recht. Das Leben verlässt mich und ich habe keine Hoffnung mehr auf Besserung. Was ist, wenn der Virus mich töten wird? Was hat der Arzt denn gesagt?“

      „Der Virus wird dich nicht töten.“

      „O doch. Gott, ich fühle es doch! Er wird es! Ich sterbe!“
      „Du stirbst nicht!“

      „Doch. Woher kannst du das denn wissen?“

      „Ich weiß es!“

      „Woher denn? Ich sterbe. Ich sterbe. Ich werde bald tot sein! Tot, Mutter, tot!“

      „Nein! Du stirbst nicht! Du bekommst ein Kind!“

      „Ein Kind…ich habe es geahnt. Ich konnte es dir…“

      „O warum hast du mir das nur angetan? Warum? War ich nicht gut genug zu dir? Warum hast du das nur gemacht? Du bringst Schande über mich! O Jesus, was ist dir nur eingefallen!? Was? Was nur? Du hast mich so enttäuscht!“

      „Ich wollte nicht…“

      „Du hast aber. Was bist du? Eine kleine Hure? Bist du das? Bist du das etwa?“

      „Nein. Mutter es tut mir so Leid.“

      „O Gott! O großer Gott! Warum denn nur!?“

      Kira weinte fürchterlich. Sie saß in ihrem Bett. Strich sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Mutter weinte ebenfalls. Es war ein regelrechter Weinkrampf. Sie fasste sich aber bald wieder.

      „Hör Kind. Ich weiß nicht, was ich hätte anders machen müssen. Das weiß ich wirklich nicht. Himmel, ich weiß es nicht!“

      „Du hast nichts Falsches…“

      „Du hast die Heiligkeit der Ehe angetastet. Du hast sie befleckt. Die Schande werde ich dafür nicht auf mich nehmen. Niemals. Aber noch ist ja nichts geschehen.“

      „Was?“

      Kiras Mutter verließ ganz ruhig und scheinbar gefasst den Raum. Kira rief ihr nach, doch sie bekam keine Antwort.
      Die Stunden vergingen und Kira wurde müde. Sie deckte sich gut zu und schaute zur Tür, die einen Spalt offen stand und einen Blick in den erleuchteten Flur ließ.
      Irgendwann, Kira war schon fast eingeschlafen, kam ihre Mutter leise ins Zimmer. Kira war zu müde und zu schwach, um noch etwas zu sagen. Sie nahm ihre Mutter auch schon gar nicht mehr richtig wahr.
      „Psst. Schlaf weiter.“, sagte ihre Mutter leise. Dann nahm sie das Kopfkissen, das zu Kiras Beinen lag und drückte es auf Kiras Gesicht. Kira ergriff die Arme ihrer Mutter.

      „Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, der wird des ewigen Todes sterben!“

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      #3982467  | PERMALINK

      matis

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      anubis737
      [B]Blut im Schnee

      Er war die Güte. Immer. Zu jeder Stunde. Er war ein liebender Vater einer kleinen Tochter. Sie war erst fünf Jahre alt und schien stets zerbrechlich. Deshalb sorgte sich ihr Vater sehr um sie. Er hieß Joseph.
      Für Vater und Tochter war es nie leicht im Leben gewesen. Nachdem Josephs Frau verstorben war, zog er mit der Kleinen um. Er war bei der Erziehung nun auf sich allein gestellt. Und obwohl er ständig in Sorge um ihr Wohl war, konnte Joseph dennoch ein paar glückliche, entspannte Zeiten mit ihr erleben.
      Seine Tochter war nun das Zentrum in seinem Leben. Ohne dieses hätte er nach dem Tod der Ehefrau wohl keinen Sinn mehr in seiner Existenz gesehen. Er wusste wie schwer seine Zukunft ohne seine kleine Tochter gewesen wäre. Und so kümmerte Joseph sich nicht nur um die Tochter, sondern auch um Menschen, die ihre Partner verloren hatten. In seinem Heimatstädtchen wurde ihm dafür große Anerkennung gezollt. Joseph war stets gerngesehener Gast und geschätzter Freund und Nachbar.
      Vor allem die beiden alten Damen, die in den großen alten Haus neben ihm wohnten, sprachen nur positiv von ihm. Für sie war Joseph einer dieser wenigen Menschen, die trotz eines schweren Schicksalsschlags immer noch lächeln konnten und für andere da waren. Das machte ihn wirklich beliebt. Seine Tochter wurde für einen solchen Vater gelobt und zur Weihnachtszeit wurden die beiden reich mit Geschenken gesegnet.
      Auch an diesem Weihnachten. Und da Joseph es nicht mit sich vereinbaren konnte, einfach Geschenke von Fremden entgegenzunehmen, lud er alle Menschen, die er kannte, an Heiligabend zu sich ein.
      Es war ein heiteres Fest. Seine Tochter bekam von den beiden alten Damen einen weißen Mantel, dazu passende Handschuhe, einen Schal und eine Mütze. Seine Tochter bettelte darum, die neuen Kleidungsstücke anzuprobieren. Joseph erlaubte es natürlich.
      Es war schon zehn Uhr, vielleicht schon später. Nachbarn boten Joseph mitgebrachte Kekse an, plauderten mit ihm, scherzten.
      Es klingelte an der Haustür. Er öffnete. Draußen stand eine fremde Frau, die bitterlich fror. Sie sagte, sie hätte ein Problem mit ihrem Auto; es wäre einfach stehen geblieben. Joseph zögerte nicht, nahm sich schnell seine Jacke und rief einem Nachbar zu, er solle auf seine Tochter achten.
      Die Frau und er mussten ziemlich lange gehen, bis sie zum Auto gelangten. Joseph konnte nicht genau erkennen, was das Problem war. Es schien lediglich etwas Ernstes damit zu sein. Und so lud er sie ein, bei ihm für eine Nacht zu bleiben. Die Frau bedankte sich zwar, wollte aber lieber in einem Hotel übernachten. Sie ließ sich auch nicht dazu überreden, sich dorthin begleiten zu lassen. So verabschiedete Joseph sich und war ein wenig enttäuscht, dass er nicht besser helfen konnte.
      Zuhause angekommen wollte er sofort nach seiner Tochter sehen. Er schaute zuerst im Wohnzimmer nach. Danach in der Küche, in ihrem Schlafzimmer. Nichts. Er lief beängstigt zu dem Nachbarn, den er mit der Aufsicht betraut hatte. Der allerdings war bereits so betrunken, dass er seltsam lächelnd in einer Ecke saß und mit einen Feuerzeug herumspielte.
      Nun bekam Joseph Panik. Er lief von Raum zu Raum und rief verzweifelt nach seiner Tochter. Die heitere Stimmung war sofort vergangen und einer der Gäste schlug vor, sofort ausgiebig nach der vermissten Tochter zu suchen. Alle wollten beim Suchen mithelfen. Sie gingen vom Haus aus in alle Richtungen, während die alten Damen die Polizei verständigten.
      Während einige durch die Stadt liefen, verschlug es Joseph und ein paar Freunde in den nahegelegenen Wald. Vielmehr war es ein Wäldchen, denn er war wirklich nicht riesig. Joseph schrie sich die Seele aus dem Leib und plötzlich bemerkte er Fußspuren im Schnee. Fußspuren von kleinen Schuhen und welche von größeren. Er bekam eine furchtbare Ahnung. Er rannte so schnell er konnte an den Spuren vorbei. Seine Freunde folgten ihm.
      Da sah er sie.
      Die Kleidung zerrissen, der Mantel schon ganz rot. Das Blut färbte den Schnee. Ihre kleinen blauen Augen weit offen.
      Er sank zu Boden. Wollte zu ihr kriechen. Die Freunde zogen ihn weg. Joseph begann fürchterlich zu weinen. Zwei der Freunde gingen mit ihm zurück zum Haus. Die übrigen riefen die Polizei.
      Joseph starrte mit leerem Blick auf den Boden. Er bemerkte gar nicht wie eine der alten Damen ihm zärtlich über die Schulter fuhr. Er setze sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Hörte ein paar tuschelnde Leute. Plötzlich bemerkte Joseph wie ein paar Männer den betrunkenen Mann raustrugen, der auf die Tochter hätte achten müssen. Joseph rannte zu ihnen, nahm im Lauf eine Bierflasche mit sich. Er hielt die Männer an, der Betrunkene lächelte ihm ins Gesicht. Joseph holte mit der Bierflasche in der Hand aus und schlug den Lächelnden damit mitten ins Gesicht. Der Betrunkene fiel zu Boden. Joseph schrie ihn an und wollte sich noch auf ihn stürzen, doch hielten die umherstehenden Männer den aufgebrachten Vater fest.

      Der zuständige Gerichtsmediziner stellte fest, dass ein Mann sich an Josephs Tochter vergangen hatte. Dabei wollte er sie vermutlich davon abhalten sich zu wehren. Also setzte er sich auf ihren Brustkorb. Unter dem Gewicht des Mannes zerbrachen einige Rippen, die sich in die Lungenflügel der Tochter bohrten. Das ließ sie qualvoll ersticken. Nachdem sie gestorben war, schnitt der unbekannte Mann mit einem Messer an ihrem Bauch entlang, damit sie wie ein geschlachtetes Tier ausblutete.

      Als Joseph davon erfuhr, schien auch sein Dasein beendet. Er ging ins Badezimmer, ließ das Waschbecken mit Wasser volllaufen, nahm die Klinge aus seinem Rasierer und schnitt sich tief in die Pulsadern. Er hörte wie es an der Tür klingelte. Dennoch ließ er sich nicht beirren und tauchte seine blutenden Hände in das gefüllte Waschbecken.
      Vor der Tür standen die beiden alten Frauen mit einem selbstgebackenen Kuchen. Sie wunderten sich, dass Joseph nicht die Tür öffnete. Also gingen sie um das Haus herum zum Seiteneingang, der niemals verschlossen war. Sie hörten das Wasser noch laufen. Mit eiligen Schritten gelangten sie zu Joseph, der schon recht benommen war, und zogen ihn vom Waschbecken zurück. Ein Arzt wurde verständigt.

      Es waren nun schon einige Monate vergangen und Joseph war nicht mehr der gütige, stets hilfsbereite Mensch, der er einmal gewesen war. Er verbrachte die Tage nun damit, alte Fotos zu betrachten und Ausreden zu finden, warum er nicht die Einladungen zum Essen und zu Ausflügen annahm, die ihm von einigen Menschen ausgesprochen wurden. Er saß lieber im Zimmer seiner Tochter oder besuchte ihr Grab auf dem Friedhof. Das Grab war reichlich geschmückt. Jeder wollte Abschied von ihr nehmen. Joseph aber nicht. Er konnte es einfach nicht übers Herz bringen. Er hatte sie so sehr geliebt.
      Zwei Tage vor Heiligabend wollte Joseph ein Blumengesteck für seine Tochter zum Todestag kaufen. Hatte sie ausgerechnet an Heiligabend sterben müssen? Was war das doch für ein furchtbarer Tag zum Sterben. Und obendrein war sie doch noch so jung gewesen.
      Es war schon recht spät. Die Geschäfte würden bald schließen. Joseph beeilte sich also ein wenig.
      Gerade wollte er eine Straße überqueren. Da sah er von weitem einen Mann, der mit seinem Kind an einem Schaufenster stand. Joseph blieb stehen. Beobachtete. Versuchte zuzuhören. Der Mann schrie das Kind an. Wie konnte man nur so etwas tun? Das Kind versuchte den Vater nämlich davon zu überzeugen, etwas zu kaufen. Der Mann schien gestresst und nicht gewillt, etwas zu kaufen. Das Kind gab allerdings keine Ruhe und begann zu laut zu weinen. Der Mann konnte sich nicht mehr beherrschen und gab seinem Kind eine Ohrfeige. Seinem eigenen Kind.
      Joseph konnte nicht mehr klar denken. Er war mehr als nur wütend. Er ging in schnellen Schritten über die Straße und ging zu einem Regal vor einem Geschäft. Er lockerte eine Metallstange aus dem Regalgerüst während das vor Schmerz schreiende Kind deutlich zu hören war. Jetzt lief er mit der Stange auf den Vater des Kindes zu. Als dieser sich umdrehte, schlug ihn Joseph mit der Stange auf den Kopf. Wieder und wieder. Dann drängte er den Mann an das Schaufensterglas und rammte ihm die Stange in den Magen. Der Mann fiel auf seine Knie, stützte sich mit den Händen auf den Boden. Joseph holte wieder aus. Schlug dreimal, viermal, fünfmal auf den Rücken des Mannes. Blut lief aus seinem Mund. Joseph trat ihn mit dem Fuß, um den furchtbaren Vater umzudrehen. Er schlug mit der Stange immer wieder auf den Oberkörper des Mannes ein, als dieser schon längere Zeit tot war.
      Das Kind zerrte verzweifelt an Josephs Hose.

      Dann begann es zu schneien.

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      matis

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      [B]Die Geschichte von dem Jungen, der Katzen zeichnete

      von Lafcadio Hearn

      Es lebten vor langer, langer Zeit in einem kleinen Dorfe in Japan ein Bauer und seine Frau. Das waren gute, aber arme Leute, die eine Reihe Kinder hatten und es schwer fanden, sie alle zu ernähren. Der älteste Sohn war schon mit vierzehn kräftig genug, seinem Vater zu helfen, und die kleinen Mädchen lernten, kaum dass sie gehen konnten, ihrer Mutter zu helfen.
      Aber das jüngste Kind, ein kleiner Junge, schien für schwere Arbeit nicht geschaffen. Er war sehr gescheit – gescheiter als alle seine Brüder und Schwestern, aber er war ganz schwach und klein, und die Leute sagten, er werde nie sehr gross werden. Deshalb dachten seine Eltern, es wäre für ihn besser, Priester zu werden als Bauer. So gingen sie eines Tages mit ihm zum Dorftempel und fragten den guten alten Priester, der dort lebte, ob er ihren kleinen Jungen als Gehilfen haben und ihm alles beibringen wolle, was ein Priester wissen müsse.
      Der alte Mann sprach freundlich mit dem Jungen und stellte ihm ein paar schwere Fragen. Doch der gab so gescheite Antworten, dass der Priester sich bereit fand, den kleinen Kerl als Gehilfen anzunehmen und ihn zum Priesteramt auszubilden.
      Der Junge lernte schnell, was der Priester ihm beibrachte, und war in den meisten Dingen sehr gehorsam. Aber er hatte einen Fehler. Er zeichnete gern Katzen während des Unterrichts und zeichnete Katzen sogar dorthin, wohin man Katzen überhaupt nicht zeichnen darf.
      Immer, wenn er allein war, zeichnete er Katzen. Er zeichnete sie auf die Ränder der Bücher des Priesters und auf alle Wandschirme im Tempel. Der Priester sagte ihm mehrere Male, das sei nicht recht, aber der Junge hörte nicht auf, Katzen zu zeichnen. Er zeichnete sie, weil er nicht anders konnte. Er hatte, was man das Genie eines Künstlers nennt, und aus ebendiesem Grunde war er zum Priesterschüler nicht ganz geeignet – ein guter Priesterschüler sollte aus Büchern lernen.
      Eines Tages, als er gerade einige sehr gute Katzenbilder auf einen Papierschirm gezeichnet hatte, sagte der Priester streng zu ihm: »Mein Junge, du musst diesen Tempel sofort verlassen. Aus dir wird nie ein guter Priester werden, aber vielleicht ein grosser Künstler. Lass mich dir noch einen letzten Ratschlag geben, und sieh zu, dass du ihn nie vergisst: Meide grosse Plätze zur Nacht, halte dich an kleine!”
      Der Junge wusste nicht, was der Priester damit meinte, wenn er sagte: Meide grosse Plätze zur Nacht, halte dich an kleine! Während er sein kleines Bündel mit Kleidern schnürte, überlegte er und überlegte, konnte aber die Worte nicht verstehen und hatte Angst, den Priester noch einmal anzusprechen, ausser ihm auf Wiedersehn zu sagen.
      Er verliess den Tempel in grosser Sorge und wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er stracks nach Haus ginge, würde ihn sein Vater sicher bestrafen, weil er dem Priester ungehorsam gewesen war. Deshalb hatte er Angst, nach Hause zu gehen. Da fiel ihm plötzlich ein, dass im nächsten Dorf, zwölf Meilen entfernt, ein sehr grosser Tempel war. Er hatte gehört, dass eine Reihe von Priestern in diesem Tempel waren, und so entschloss er sich, zu ihnen zu gehen und sie zu fragen, ob sie ihn als Priesterschüler haben wollten.
      Der grosse Tempel war zwar inzwischen geschlossen worden, doch davon wusste der Junge nichts. Der Grund für diese Schliessung war folgender: Ein böser Dämon hatte den Priestern Angst eingejagt und sie vertrieben und danach von dem Tempel Besitz ergriffen. Später waren ein paar tapfere Krieger nachts in den Tempel gegangen, um den bösen Dämon zu töten; aber keiner hat sie je lebend wiedergesehen. Niemand hatte dem Jungen von diesen Dingen erzählt. Der ging daher den langen Weg zu dem Dorfe und hoffte, freundlich von den Priestern aufgenommen zu werden.

      Als er in das Dorf kam, war es schon dunkel, und jedermann war bereits zu Bett gegangen. Er aber sah den grossen Tempel auf einem Hügel am Ende der Hauptstrasse liegen, und er sah, dass im Tempel Licht war. Leute, die diese Geschichte erzählen, sagen, dass der böse Dämon Licht machte, um einsame Wanderer zu verlocken, nach Unterkunft zu fragen. Der Junge ging stracks zu dem Tempel und klopfte an. Aber drinnen rührte sich nichts. Er klopfte wieder und wieder, doch niemand kam. Schliesslich drückte er sacht gegen die Tür und stellte zu seiner Freude fest, dass sie nicht verriegelt war. Da ging er hinein und sah eine Lampe brennen – sah aber keinen Priester.
      Er dachte, ein Priester werde sicher bald kommen, setzte sich nieder und wartete. Da fiel ihm auf, dass alles im Tempel grau von Staub und dicht mit Spinnenweben bedeckt war. Er dachte bei sich, die Priester würden sicher gern einen Schüler haben, um den Tempel sauberzuhalten. Er konnte jedoch nicht verstehen, weshalb die Priester alles hatten so staubig werden lassen. Was ihn aber am meisten erfreute, waren ein paar grosse weisse Wandschirme, auf denen sich gut Katzen malen liessen. Obwohl er müde war, sah er sich sogleich nach Schreibzeug um, fand es auch, rieb Tusche an und begann Katzen zu malen.
      Er malte ziemlich viele Katzen auf die Wandschirme, und dann wurde er sehr, sehr müde. Er wollte sich gerade neben einen der grossen Wandschirme niederlegen, als er sich plötzlich der Worte erinnerte: Meide grosse Plätze zur Nacht, halte dich an kleine!
      Der Tempel war sehr gross, und er war ganz allein. Als er da an diese Worte dachte – obwohl er sie nicht ganz verstehen konnte -, fing er zum erstenmal an, sich ein wenig zu fürchten. Und er beschloss, sich nach einem kleinen Platz umzusehen, um dort zu schlafen. Er fand auch einen kleinen Raum mit einer Schiebetür, ging hinein und schloss sich ein. Dann legte er sich nieder und schlief ganz fest ein.
      Tief in der Nacht wurde er von einem ganz schrecklichen Lärm geweckt – einem Lärm wie von Kampf und Geschrei. Es klang so fürchterlich, dass er sogar Angst hatte, durch einen Spalt des kleinen Raumes zu gucken. Er lag ganz still und hielt den Atem an vor lauter Angst.

      Das Licht, das im Tempel war, ging aus, aber die greulichen Geräusche hörten nicht auf und wurden noch greulicher. Der ganze Tempel begann zu beben. Nach langer Zeit trat Stille ein. Doch der Junge fürchtete noch immer, sich zu bewegen. Er rührte sich nicht, bis die Strahlen der Morgensonne durch die Ritzen der kleinen Tür in den Raum fielen.
      Dann verliess er sein Versteck sehr vorsichtig und sah sich um. Als erstes sah er, dass der ganze Boden des Tempels voll von Blut war. Und dann sah er, tot inmitten des Tempels liegend, eine ungeheure abscheuliche Ratte – einen Rattendämon -, grösser als eine Kuh!
      Aber wer oder was hatte sie wohl getötet? Kein Mensch oder auch kein anderes Lebewesen war zu sehen. Doch plötzlich fiel dem Jungen auf, dass die Schnauzen all der Katzen, die er am Abend zuvor gezeichnet hatte, rot und nass von Blut waren. Da wusste er, dass der Dämon von den Katzen getötet worden war, die er gezeichnet hatte. Und dann erst verstand er auch, weshalb der weise alte Priester zu ihm gesagt hatte: Meide grosse Plätze zur Nacht, halte dich an kleine!

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      matis

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      Shurak
      [B]Heimweg

      Im Schein der rotglühenden Abendsonne ritten sie auf ihren prächtigen Pferden in das Dorf ein, vier Gestalten, die direkt aus einem Märchen zu kommen schienen. Vorneweg ein Stern, gleißend hell, blendend im roten Gegenlicht. Erst auf den zweiten Blick war die aufrechte, edle Gestalt zu erkennen, gehüllt in blanken Stahl, das blonde Haar leicht im Abendwind wehend, mit lässiger Hand das weiße Pferd dirigierend, um dessen kraftvolle Gestalt eine weiße Schabracke wie ein mächtiges Banner wehte. Hinter ihm eine Königin. Langes dunkles Haar, kaum gehalten von einem silbernen Reif, fiel in dicken, sanften Wellen auf die geraden Schultern und warf einen geheimnisvollen Schatten auf das feingeschnittene Gesicht, aus dem zwei dunkle Augen wie schwarze Edelsteine hervorglühten. Das fremdartige, samtblaue Gewand leuchtete vor der makellosen, bronzenen Haut, umwehte die schlanke Gestalt wie eine Wolke, bauschte sich, Hülle und Verheißung zugleich. Das nachtschwarze Pferd hielt stolz den Kopf aufgerichtet, tadellos sein Gang, scheinbar mühelos zähmte es die unbändige Kraft, die doch aus jedem seiner Schritte sprach. Neben ihr ritt ein Märchen, ein Geist, eine lebendig gewordene Sage. Ein echter Elf! Fast weißes Haar flog in dem leichten Wind um die katzenhaften Züge, aus denen große, smaragdgrüne Augen die Welt mit einem Ausdruck spöttischer Belustigung betrachteten. Das grüne Gewand war wie aus einem einzigen Blatt gewachsen, leicht, fast zärtlich schmiegte es sich um die hochaufragende Gestalt, hier und dort von einem winzigen Edelstein wie von einer kleinen Blüte verziert. Das feurig rote Pferd des Elfen trug weder Zaum noch Zügel, ja nicht einmal einen Sattel und doch saß er darauf wie auf einem Sessel, das eine Bein untergeschlagen, in der Hand eine Flöte, auf der er ab und an ein paar Töne spielte, kleine, scheinbar bedeutungslose Harmonien, die eine unbestimmte Sehnsucht nach einer verheißungsvollen Ferne weckten. Den Schluss machte eine lustige Gestalt, ein bunter Vogel, mit einem großen Federhut, der die wilde, rote Lockenpracht kaum fassen konnte. Schalkhaft blitzende Augen in einem zarten Kornblumenblau umfassten eine niedliche kleine Nase über einem immer lächelnden Kirschmund, aus dem kleine weiße Perlen hervorblitzten. Das in allen Farben leuchtende Gewand flatterte lustig umher, wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel und eine Schar bunter Bälle tanzte zwischen den feingliedrigen Händen einen schnellen Reigen. Atemlose Stille breitete sich rings um die vier Reiter aus, die Menschen erstarrten mitten in der Bewegung, nur hier und da war ein ehrfurchtsvolles Flüstern zu hören. Es war, als kehrte die Zeit der Sagen zurück und die Menschen fühlten für einen kurzen Augenblick, wie die Dunkelheit, die sich über die Welt gebreitet hatte, zurückwich, geradezu floh vor diesen vier Gestalten, deren aufrechter Blick ein Licht in jene düsteren Tage trug.
      Mitten auf der Strasse stand ein Kind, ein Mädchen, kaum älter als vier. Mit angstvoll aufgerissenen Augen starrte sie den Reitern entgegen, die genau auf sie zu kamen. Unendlich verloren und klein sah sie aus, in ihrem zerschlissenen Leinenkleid, eine einfache Strohpuppe an sich gepresst, das blonde Haar in wirren Strähnen, die der Abendwind um ihren Kopf wirbelte, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Und doch stand noch etwas anderes in ihren Augen als der furchtsame Respekt, den alle den Reitern entgegenbrachten, ein leises, begeistertes Funkeln, wie es in Kinderaugen erscheint, wenn die Großmutter vor dem Kamin Märchen und Geschichten erzählt. Langsam, ohne von ihr Notiz zu nehmen, trottete das schwere Pferd des Ritters an ihr vorbei, als plötzlich zaghaftes Leben in die kleine Gestalt kam. Unsicher machte sie einen kleinen, Schritt nach vorne, die Puppe immer noch an sich gepresst, und zwischen bebenden Lippen zwängte sich ein dünnes Stimmchen hervor. „Bist du… bist du ein.. Prinz?“ Mit einer lässigen Bewegung verhielt der Ritter sein Pferd. Ein wenig irritiert wandte er sich der kleinen Gestalt zu, die da so nahe an seinem Pferd stand, dass sie nur ein wenig die Hand hätte ausstrecken müssen, um seine glänzende Flanke zu berühren, und mit großen blauen Augen zu ihm heraufsah. Noch einmal, jetzt schon wesentlich mutiger, kam die Frage: „Bist du vielleicht ein Prinz?“ Einen kurzen Moment runzelte der Ritter die Stirn. Irgendwo am Straßenrand setzte sich eine bleich gewordene Frau mit für ihre Leibesfülle erstaunlicher Behendigkeit in Bewegung. Dann brach er in schallendes Gelächter aus und auch seine Begleiter konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Elegant verbeugte er sich aus seinem Sattel heraus vor der Kleinen und erklärte dann mit gezwungener Ernsthaftigkeit. „Verzeiht, edles Fräulein, doch ich bin nur ein bescheidener Ritter, ein unwürdiger Diener der Herrin Rondra, der mit seinen treuen Gefährten auf große Fahrt gegangen ist, um gegen die finsteren Mächte dieser Welt zu bestehen. Man nennt mich Rovin von Felsenrain, zu euren Diensten, vieledle Maid. Erlaubt mir die Dreistigkeit, nach eurem Namen zu fragen.“ Eine Weile sah die Kleine den Ritter nur staunend an, doch schließlich fasste sie sich ein Herz und verkündete „Ich bin Anjissa.“ Noch einmal verbeugte sich der Ritter. „Nun denn, edle Anjissa, seid mir gegrüßt. Seid versichert, dass ich auch in eurem Namen für das Recht und die Freiheit streiten werde.“ Einen Augenblick lang bekam sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck, dann lächelte er, griff in die Tasche und zog einen funkelnden Dukaten daraus hervor. Mit dem Dolch ritzte er seine Initialen in die Fläche der Münze, dann beugte er sich herab und überreichte sie feierlich dem kleinen Mädchen. „Nehmt dies hier, edle Maid, als bescheidenes Pfand meiner Gunst. Sollte euch einmal die Not treffen, so zögert nicht, und sendet nach mir. Dieses Pfand wird euch meine Türe öffnen, und mein Schwertarm ist der eure. Doch nun, vieledle Maid, muss ich weiterziehen. Gehabt euch wohl, und den Segen der Götter für euch.“ Damit richtete er sich wieder auf und trieb, immer noch nur schwer beherrscht, sein Pferd wieder vorwärts. Auch die anderen trieben ihre Pferde wieder an und zogen einer nach dem anderen an der kleinen vorbei, allerdings nicht, ohne noch einen Blick auf das beherzte Kind zu werfen.
      Noch lange, nachdem die vier außer Sicht gekommen waren, stand die Kleine dort, mitten auf der Straße, die Puppe in der einen, die Münze in der anderen Hand. Ein wildes Glühen, wie im Fieber, lag in ihrem Blick und hitzige Röte überzog ihre Wangen. Ein echter Ritter. Und er hatte ihr etwas geschenkt! Sie würde die Münze wie ihren Augapfel hüten. Und eines Tages würde sie den Ritter wiedersehen.

      Sie kamen mitten in der Nacht, ohne Vorwarnung, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Als die ersten Bewohner des Dorfes vom Donnern der Hufe auf dem gefrorenen Boden, von wildem Lachen, blutrünstigem Brüllen und zuckendem Fackelschein geweckt wurden, war es bereits zu spät. Türen wurden eingeschlagen, Männer, Frauen und Kinder schrieen durcheinander oder wälzten sich blutend am Boden. Bald schon loderten Flammen aus den Häusern und fraßen sich wie hungrige Wölfe durch die Strassen, dicht hinter den schwarzvermummten Gestalten her, die mit gezackten Säbeln und breiten Äxten über die hilflosen Menschen herfielen und sie niedermachten, wo immer ihnen einer vor die Klinge lief. Verzweifelt flehten die Dorfbewohner um Gnade, boten den Angreifern ihre wenigen Habseligkeiten an, versuchten, sich in ihren Häusern zu verbergen oder aus dem Dorf zu entkommen, doch sie ernteten nicht mehr als Hohn und Hass und ein grausames, blutiges Schicksal. Manch ein beherzter Vater suchte vergeblich, die seinen zu verteidigen, manche Mutter fiel an der Wiege ihres Kindes mit dem Dolch in der Hand. Nichts konnte sich den grausamen Schlächtern entgegenstellen, nichts ihrer blinden Mordlust Einhalt gebieten. Gleich tollwütigen Hunden metzelten sie mit schaumtriefenden Mäulern wahllos junge und Alte, Männer und Frauen nieder, plünderten und zerstörten, schändeten und verbrannten, wateten durch Ströme von Blut und gierten doch schon nach dem nächsten Opfer, dass sich hilflos schreiend unter ihren Schlägen winden würde. Kaum eine Stunde wüteten die Schlächter, dann ritten sie lachend und blutrünstige Lieder singend wieder fort, und die Nacht, die sie ausgespieen hatte, verschlang sie wie ein hungriger Wolf.
      Das erste Licht des neuen Tages fiel auf ein rauchendes Grab. Wo einst eine blühende, kleine Siedlung gewesen war, lag jetzt nichts als ein paar niedergebrannte Ruinen, aus denen dicker, schwarzer Qualm aufstieg und so noch für eine Weile die Raben fernhielt, die sich aber schon in einiger Entfernung in den Bäumen niedergelassen hatten. Die Wölfe würden später kommen, aber sie hatten die Witterung bestimmt schon aufgenommen und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihre grauen Schemen aus dem Wald schälen würden, um über die Toten herzufallen und das, was das Feuer sich nicht geholt hatte, voller Gier zu verschlingen. Grabesstille lag über dem hässlichen, schwarzen Fleck, der sich wie ein krankhaftes Geschwür aus der weißverschneiten Umgebung erhob. Nur hier und da knackte ein Scheit, in dem noch immer die Glut wütete. Kein Lüftchen regte sich und so stiegen die düsteren, schwarzgrauen Schwaden fast senkrecht in den Himmel auf, der vollkommen mit dicken, bleigrauen Wolken verhangen war, als wollte er sich dem furchtbaren Anblick entziehen. Mit heiserem Krächzen flog einer der Raben auf, zog einen weiten Bogen um die Ruinen des Dorfes und landete schließlich etwas abseits, in den Trümmern eines kleinen Schuppens, den die Angreifer in der letzten Nacht einfach niedergeritten hatten. Dort lag ein kleines, schwarzverrußtes Bündel, eng an eine der zersplitterten Holzwände gekauert, den Kopf in einer hilflosen Geste in den Armen verborgen. Neugierig hüpfte der Rabe auf seinen dürren Beinen darauf zu. Ein wenig unsicher pickte er gegen das Bündel, aber als er merkte, dass es sich nicht rührte, wurde er mutiger, flatterte auf, landete oben auf dem seltsamen Häuflein und begann erneut, danach zu picken. Bald schon hatte er den völlig verkohlten Stoff, der das Bündel umhüllte, aufgerissen und helle, von der großen Hitze gerötete Haut freigelegt. Freudig hieb er mit dem Schnabel danach. Ein großer Riss tat sich in der wunden Haut auf und frisches Blut quoll daraus hervor. Noch ein Hieb. Und noch einer. Bald schon würde er einen fetten Brocken im Schnabel halten. In Vorfreude auf das kommende Mal schlug der Rabe mit den Flügeln, als das Bündel plötzlich ein Wimmern hören lies. Irritiert schaute der Rabe nach unten. Dass war ungewohnt. Wieder wimmerte das Bündel und dann begann es sich zu regen. Erschrocken flatterte der Rabe auf und begann empört zu krächzen. Vorsichtig Abstand haltend lies er sich in ein paar Schritten Entfernung nieder und beobachtete die vermeintliche Beute. Diese begann sich langsam und stöhnend aufzurichten. Es war ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Winter alt, blass und rußverschmiert , das einstmals blonde Haar fast vollkommen verkohlt, gehüllt in schwarze, völlig verbrannte Stofffetzen, das sich verzweifelt bemühte, auf die Beine zu kommen und mit weit aufgerissenen, mit panischem Entsetzen gefüllten Augen zu dem Raben hinüber starrte. Aus der Wunde an ihrem Arm lief ein dünner, roter Blutfaden, aber dass schien sie kaum zu bemerken. Eine Weile stand sie einfach nur da, stumm und verloren, während Bäche von Tränen breite Spuren in ihrem Gesicht hinterließen und ein hilfloses Schluchzen ihren Körper schüttelte. Sie war allein. Verlassen. Ihr Leben war in einer Nacht zu Ende gegangen. Sie war die einzige, die den Schrecken überlebt hatte – doch dass verdammte sie nur zu einem langsamen, grausamen Kältetod in der frostigen Einsamkeit. Kraftlos sank das Mädchen zurück auf die Knie, ihre schmalen Hände furchten ziellos den schwarzen Boden, fuhren durch die verstreuten Splitter und Kohlebrocken, panisch nach einem Halt in einer Welt suchend, die gerade um sie herum zusammengestürzt war. Plötzlich verharrten die Finger auf ihrer Suche, schlossen sich krampfhaft um einen kleinen Gegenstand, der unter Ruß und Asche verborgen gelegen hatte. Langsam hob das Mädchen seine Hand, bis sie fast auf Augenhöhe war. Noch langsamer, als fürchte sie, das, was sie gefunden hatte, könnte ihr wieder entgleiten, öffnete sie ihre Finger. Ein warmes, goldenes Funkeln strahlte ihr entgegen, ein kleiner Schimmer, der sich in ihren Augen spiegelte. Rasch schloss das Mädchen die Hand wieder, presste sie an ihre Brust und schloss die Augen. Sie holte tief Luft und kam taumelnd auf die Füße. Langsam, ganz langsam setzte sie sich in Bewegung. Schritt für Schritt stolperte sie aus den schwarzen Ruinen, die noch gestern ihre Heimat gewesen waren, auf den fernen Waldrand zu, der wie ein breiter, grünbrauner Gürtel in einiger Entfernung zu sehen war. Noch immer lagen Angst und Verzweiflung in ihrem Blick, aber nun hatte sich ein entschlossener Zug um ihren Mund gelegt. Sie würde nicht aufgeben, nicht hier und nicht jetzt!
      Verwirrt starrte der Rabe der dürren, schwankenden Gestalt nach, die sich langsam, aber zielstrebig von ihm fortbewegte. Das war ihm noch niemals passiert. Irgendwie weckte dieses Wesen seine Neugier. Träge breitete er die Flügel aus und schwang sich in die Luft, und während die anderen Raben nun damit begannen, sich trotz der Rauchschwaden in den Ruinen des Dorfes niederzulassen, verfolgte er das seltsame Wesen, das kraftlos, aber unbeirrt voranstapfte. Er würde bald eine eigene Beute haben, dessen war er sich sicher.

      Mit einem aufreizenden Lächeln näherte sich die junge Frau dem breitschultrigen Matrosen, der soeben aus der schmierigen Hafenkneipe getorkelt kam. „Na, mein Großer, suchst du´n bisschen Spaß?“ Ihr Rücken bog sich noch ein wenig mehr durch, ihr geschnürtes Hemd öffnete sich wie zufällig noch ein wenig weiter und gewährte dem Betrunkenen einige äußerst einladende Einblicke. Stumpfsinnig stierte der Mann sie an. Eine dicke Dunstwolke von Schweiß und Alkohol umgab ihn wie eine unsichtbare Wand. Langsam drang der Anblick durch die Nebel in seinem Verstand und ein dreckiges Grinsen zog sich über sein wettergegerbtes Gesicht. „Imma doch!“ Schon langten seine sehnigen Arme nach ihr, bekamen ihre Schulter zu fassen und zerrten sie zu sich. Mit einer geschickten Drehung entzog sie sich ihm, fasste ihn am rechten Arm und drängte ihm ihre wohlgeformten Hüften entgegen. „Dann lass uns wo hingeh´n wo´s gemütlich ist, was meinst du, Großer?“ Mit sanfter Gewalt schob sie ihn vorwärts, einer kleinen Seitengasse zu. Immer wieder langte er mit seiner freien Linken zu ihr herüber, versuchte, seine kräftige Pranke in ihrem Ausschnitt zu versenken oder ihren Kopf an seinen zu zerren, um einen feuchten Kuss auf ihren vollen, vielleicht ein wenig zu roten Mund zu drücken. Den Ekel in ihrem Gesicht nahm er gar nicht war, Alkohol und Gier hatten seinen Verstand völlig umnachtet. Immer wieder entzog sie sich ihm, bis sie ihn schließlich vollends in die dunkle, kleine Gasse gelotst hatte, aus der ihnen ein fauliger, muffiger Gestank entgegenschlug. Müll und Unrat türmten sich unter geschlossenen Fensterläden, kaum ein Lichtstrahl drang zwischen den schiefen Dächern hindurch und außer ein paar Ratten war kein lebendes Wesen zu erkennen. „Wo gemman hin?“ Kaum konnte der Mann den Satz zwischen zwei herzhaften Rülpsern hervorwürgen. Sanft, aber entschlossen drängte sie ihn gegen eine der Hauswände und schob ihr Bein zwischen seine Schenkel. Laut und dreckig lachte er auf und griff mit beiden Händen nach ihrem Po, den er durch den dünne Rock hindurch walkte und knetete. „Bissne ganz wilde, wa? Stehs´auf Kerle wie mich, wa?“ Angewiedert zuckte sie vor seinem fauligen, nach Bier und billigem Fusel stinkenden Atem zurück. „Aber sicher, mein Großer, ich brauche echte Männer wie dich.“ Sie bemühte sich, den Ekel in ihrer Stimme zu unterdrücken. Selbst wenn sie besoffen waren konnten manche Männer sehr empfindlich darauf reagieren wenn sie merkten, was man wirklich von ihnen hielt. Sanft strich sie mit ihrem Knie an seinem Oberschenkel auf und ab, lies ihre linke Hand über seine breite Brust gleiten, während ihre Rechte behutsam an seinem Gürtel entlang tastete. Sie unterdrückte ein heiseres Keuchen, als der Matrose ihr mit aller Kraft in den Po kniff. Sein lautes Lachen dröhnte in ihren Ohren, doch sie lies sich nicht beirren. Endlich fühlte ihre Hand, was sie gesucht hatte, ein kleines Beutelchen, in dem es verräterisch klimperte. Während sie mit der einen Hand an dem kleinen, aber festen Knoten nestelte, lies sie ihre andere langsam nach unten gleiten. Jetzt kam es darauf an! Sie musste ihn ablenken, unbedingt. Als sie ihre Hand in seinem Schritt versenkte, grunzte er auf wie ein brünstiger Eber. „Dass´isses, Mädel, so magich dass!“ Eng, sehr eng zog er sie heran und wieder näherte sich sein Gesicht dem ihren, versuchten halbgeöffnete, rissige Lippen sich speichelfeucht auf ihre zu legen, während eine fette, schwammige Zunge gierig über große, gelbe Pferdezähne strich. In diesem Moment löste sich der Knoten. Mit einem schnellen Ruck entfernte sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Verwirrt schaute der Mann sie an, ein Speichelfaden hing aus seinem Mund, die trüben Augen bemühten sich verzweifelt, sich von ihrem Ausschnitt zu lösen. Mit Verachtung im Blick musterte sie ihn, ein besoffenes Schwein, kaum mehr Herr seiner Sinne, zu betrunken, um zu begreifen, was vor sich ging. Fast tat er ihr leid. Fast. Mit einem koketten Augenaufschlag wandte sie sich um, schob den Beutel mit Münzen in die Tasche und wollte gerade gehen, als sich plötzlich zwei kräftige Pranken um sie legten und sie hart zurückrissen. „So hattn wia dassnich abgemacht!“ Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen, aber in den Händen des betrunkenen Mannes steckte erstaunlich viel Kraft. Rücksichtslos riss er sie an sich, dann stieß er sie zu Boden und war im Augenblick über ihr. Panisch versuchte sie, den Dolch in ihrem Stiefel zu erreichen, doch schon hatte er ihre Arme gepackt und drückte sie nun mit der linken Hand auf den Boden. „Has wohl gedacht, du könnsmich reinlgn, wa?“ Sein breites Gesicht spaltete sich zu einem höhnischen Grinsen. „Aba nich mit mia!“ Ein kurzer Ruck und ihr Hemd hing in Fetzen. Was er sah, lenkte den Mann, der bereits wild zu Keuchen begonnen hatte, für einen kurzen Moment ab. Zwischen den schmächtigen Brüsten der jungen Frau baumelte an einer dünnen Schnur ein einzelnes Goldstück, in der Mitte durchbohrt und mit ein paar seltsamen Einkerbungen darauf. Ein Hoffnungsschimmer keimte in der hilflos am Boden Liegenden auf, als sie seinen gierigen Blick sah. Mit der Kraft der Verzweiflung riss sie ihr Knie hoch, um es ihm in die Weichteile zu rammen, doch ihr Angriff ging wirkungslos ins Leere. „Dat klappt bei mia nich, Mädl!“ Laut und hässlich lachte er auf, dann packte er ihren Rock und riss ihn zur Seite. Brutal rammte er ihr sein Knie zwischen die Beine und zwang sie, die Schenkel zu öffnen. Mit einem leisen, ängstlichen Wimmern erstarb ihr letzter Wiederstand und sie ergab sich in das Unvermeidliche.
      Hinterher lag sie zusammengekauert, die Beine fest an sich gepresst, schluchzend und zitternd im feuchten Straßengraben. Die wenigen Gestalten, die zu solch später Stunde noch unterwegs waren, hasteten achtlos an ihr vorüber. In dieser Gegend war es besser, sich um seine eigenen Sorgen zu kümmern. Wen interessierte schon eine kleine Hure, die dort im Rinnstein krepierte? Es waren Tage wie dieser, an denen sie jene Stunde verfluchte, in der sie die Menschen verlassen hatte, die sie aus dem Schnee aufgelesen hatten, damals, vor sechs Jahren, als sie halbverhungert und schon beinahe erfroren im Wald gelegen hatte, nichts bei sich als eine goldene Münze und ein paar verbrannte Stofffetzen, die lose um ihren schmächtigen Körper hingen. Die Menschen hatten sie aufgenommen, ihr etwas zu essen und Kleidung gegeben. Sicher, sie hatten sie geschlagen, oft und hart, und sie hatte Arbeiten müssen, bis ihre schmalen Schultern ihr den Dienst versagten, aber sie hatte ein Dach über dem Kopf gehabt, jeden Tag etwas zu essen bekommen und sie war nicht darauf angewiesen gewesen, sich an fremde Männer zu verkaufen, wenn sie sich nicht gerade mit kleineren Diebstählen über Wasser halten konnte. Damals war es ihr wie die Hölle vorgekommen, aber heute sehnte sie sich nicht selten in die Sicherheit jenes kleinen Gehöftes zurück, aus dem sie bei Nacht und Nebel geflohen war. Manchmal dachte sie daran, zurückzukehren, die Schläge und die Schelte über sich ergehen zu lassen und wenigstens ein bisschen Sicherheit zurückzugewinnen. Aber sie wusste, dass es kein zurück gab. Ängstlich tasteten ihre Finger über ihre verschrammte Brust. Die Münze war noch da! Er hatte sie ihr gelassen „füa den Spaß“, hatte er gesagt, hatte sein Geld genommen und sie liegen lassen. Haltsuchend schlossen sich ihre zitternden Hände um die kleine, goldene Scheibe, die seid Jahren der Stern war, nach dem sie ihr Leben ausrichtete. Mühsam kam sie auf die Beine. Sie musste hier weg, wenn sie nicht noch weit schlimmeren Menschen in die Hände fallen wollte. Leise weinend, mit der linken an die Hauswand gestützt, mit der rechten die Münze umklammert, humpelte sie in die trübe Dunkelheit der engen Gassen, bis nur noch ein feuchter, roter Fleck auf dem Boden an das Geschehen erinnerte.

      Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging die junge Frau im trüben Licht eines nebligen Herbstnachmittags den steinigen Pfad entlang, der hinauf zu der kleinen Feste führte, die sich trutzig auf einer steilen Felsnadel über das Land erhob. Dies war der Ort, von dem sie seid Jahren geträumt hatte, den zu erreichen ihr einziges Ziel gewesen war. Der Gedanke, eines Tages hier zu sein, hatte sie aufgerichtet, wenn es ihr schlecht ging, hatte er ihr Kraft gegeben, wenn die Welt sich gegen sie gestellt hatte, hatte mehr als einmal ihr Leben gerettet. Nun war sie fast ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich eine mächtige, prachtvolle Festung vorgestellt, doch diese kleine Burg war alles andere als prachtvoll, sie wirkte eher abweisend und ein wenig heruntergekommen. Dickes, dunkelgrünes Efeu und feucht-glitschiges Moos bedeckten die grauen Bruchsteinwände, die hier und da feine, aber dennoch deutlich sichtbare Risse aufwiesen. Das einzelne Banner, dass träge im kalten Wind flatterte, war an den Enden ausgefranst und von Wind und Wetter gebleicht, kaum mehr ein Schatten des Wappens war darauf zu erkennen. Das schwere, eisenverstärkte Eichentor wies Spuren mehrfacher Reparaturen auf und seine Beschläge waren an vielen Stellen nahezu völlig verrostet. Der Kopf des steinernen Wasserspeiers, der direkt über diesem Eingang thronte, war geborsten und lag, über und über mit Moos bewachsen, etwas abseits des Weges. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich ihrer, als sie nach dem schweren, eisernen Klopfer griff und ihn mehrmals schwer gegen das Tor fallen lies. Eine ganze Weile geschah nichts, dann aber wurde eine winzige Klappe zur Seite geschoben und zwei mürrische Augen starrten ihr entgegen. „Was wollt ihr? Hier gibt es nichts zu erbetteln!“ Die junge Frau schluckte trocken. Entschlossen nahm sie allen Mut zusammen und antwortete: „Ich will zum Ritter Rovin von Felsenrain. Sagt ihm, Anjissa ist hier. Und zeigt ihm dies hier.“ Mit einer schnellen Bewegung zog sie die Kette von ihrem Hals, an der noch immer die goldene Münze hing, die ihr der Ritter damals geschenkt hatte, und reichte sie durch die schmale Klappe hindurch. Das Augenpaar blitzte kurz auf, dann war ein mürrisches „Wartet“ zu hören und die Klappe schloss sich wieder. Ungeduldig trat Anjissa von einem Fuß auf den anderen. Ihr war kalt und ihre dünne Kleidung schützte sie nur ungenügend vor der klammen Feuchtigkeit, die sich in diesen Tagen wie ein Leichentuch über das Land gelegt hatte. Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen. Schon fürchtete sie, der Torwächter habe ihre Münze genommen und sie dann einfach stehen gelassen, als sie das metallische Schaben eines schweren Riegels hörte. Gleich darauf öffnete sich knarrend das schwere Tor und gab den Blick frei auf einen kleinen, verlassen wirkenden Burghof. Vor ihr stand ein alter, gebeugt gehender Mann, dessen kleine, braune Augen sie unter schütterem, grauen Haar misstrauisch anfunkelten. „Kommt rein, der Herr will euch sehen!“ Ungeduldig winkte er sie heran, dann verriegelte er dass Tor wieder und lies den Schlüssel zu der kleinen Klappe unter seiner grauen Leinenjacke verschwinden. „Kommt!“ Mit kleinen, ein wenig unsicheren Schritten humpelte der Alte vor ihr her, über den Burghof, auf dem allerlei altes Gerümpel langsam vor sich hin schimmelte und rostete, durch eine schwere, fast schwarz gewordene Eichentür und durch einen kalten, feuchten Gang, den eine einzige, rußende Fackel spärlich erleuchtete. Vor einer alten, schon ein wenig mitgenommen wirkenden Holztüre blieb der Alte noch einmal stehen. „Der Herr wartet auf euch. Ich rate euch, benehmt euch ja ordentlich, oder ich Prügel auch vom Hof, dass ihr Tagelang nicht mal mehr euren eigenen Namen kennt!“ Damit zog er die Türe auf und trat einen Schritt zur Seite. Langsam schritt Anjissa in den dahinterliegenden Raum, aus dem ihr angenehme Wärme entgegenströmte. Der Raum war recht groß und mit alten, zerschlissenen Wandbehängen ausgeschmückt, die allerlei Jagd- und Schlachtszenen zeigten. An seinem Kopfende befand sich ein großer, offener Kamin, aus dem ein kleines Feuer leise knisternd Behaglichkeit verbreitete. In einer Ecke des Raumes stand eine schwere, eiserne Rüstung, gestützt auf ein mächtiges, zweihändiges Schwert, dessen Klinge mit Dutzenden von Scharten und Schrammen übersäht war. Direkt vor dem Kamin stand ein kleiner, runder Tisch auf dem ein Kelch und ein tönerner Krug abgestellt waren. Direkt daneben stand ein gewaltiger, rotgepolsterter Ohrensessel, der über und über mit kostbaren Stickereien versehen war und immer noch prächtig wirkte, wenn er auch schon arg fadenscheinig geworden war. In dem Sessel saß ein alter, eisgrauer Mann, dem Mann deutlich ansehen konnte, das er früher einmal eine stattliche Erscheinung gewesen sein musste, groß, breitschultrig und mit edlen, ebenmäßigen Gesichtszügen. Doch nun hatte das Alter tiefe Spuren in das Gesicht gegraben und ein melancholischer, beinahe verbitterter Zug lag um die schmalen Lippen. Anjissa erkannte ihn sofort wieder – und doch war es ihr, als stehe sie einem vollkommen anderen Mann gegenüber. Dies war nicht der kraftvolle, heldenhafte Recke, den sie gesucht hatte, dies war nicht der strahlende Ritter auf seinem weißen Pferd, der damals in ihr Dorf eingezogen war an der Spitze seiner tapferen Schar. Dies war ein gebrochener alter Mann, den das Schicksal in die Knie gezwungen hatte. Tiefe, dumpfe Mutlosigkeit überkam sie. Sollte denn alle ihre Hoffnung vergebens sein? Sie hatte gelebt für diesen Tag, hatte gebetet und gefleht, dass sie den Ritter finden möge, um – ja, warum eigentlich? Nun, da sie ihm gegenüberstand, war sie selbst nicht mehr sicher, was sie seid Jahren an diesen Ort zog, welche Hoffnung sich mit diesem Ritter verband. Es war ein vages Gefühl gewesen, eine namenlose Gewissheit, die sie nun, da es soweit war, nicht in Worte zu fassen vermochte. „Ich grüße dich, mein Kind.“ Seine Stimme war rau und dunkel, nicht jung und kraftvoll, wie sie es in ihrer Erinnerung gewesen war. Einen Moment lang wusste sie kaum, was sie sagen sollte, aber dann fasste sie sich ein Herz und antwortete: „Die Götter mit euch, Herr. Verzeiht wenn ich euch störe, aber… ich dachte… ich hatte gehofft…“ Er lachte leise, ein heiserer, zynischer Laut, der ihr eiskalt in die Seele schnitt. „Gehofft, mein Kind? Es gibt keine Hoffung unter dem Antlitz des Fürstgottes.“ Verzweifelt versuchte sie es noch einmal. „Herr, vielleicht erinnert ihr euch nicht mehr an mich, aber ihr seid damals in unser Dorf gekommen und ihr gabt mir diese Münze und sagtet, ich solle in der Not nach euch senden, und nun bin ich hier und…“ „Brauchst du Geld?“ Der lauernde Unterton in seiner Stimme lies Anjissa zögern. Hielt er sie denn für eine gemeine Bettlerin? Sie warf einen flüchtigen Blick an sich herunter. Nun, sie konnte es ihm nicht einmal verübeln, so erbärmlich, wie sie aussah. Trotzdem, er musste sie doch erkennen. „Nein, Herr, ich will kein Geld. Ich… ihr sagtet, wenn ich eures Schwertarmes bedürfe, so sei er der meine. Ihr habt eure Initialen in die Münze geritzt und…“ „Münze? Was für eine Münze ist das, von der du immer sprichst, Kind?“ Anjissa fühlte, wie kalte Angst nach ihr Griff. Hatte der Alte Diener ihm denn die Münze nicht gegeben? „Eine goldene Münze, mit einem Loch in der Mitte, die an einer Kette hängt. Ich habe sie eurem Diener geg…“ Mit einer wütenden Handbewegung unterbrach der Ritter sie. „Ernholm ist nicht mein Diener! Er ist mein Freund, der einzige, der mir auf dieser Welt geblieben ist. Sprich nicht so abfällig von ihm! Nie wieder!“ Erschrocken machte Anjissa einen kleinen Schritt zurück. Für einen kurzen Moment hatte sie die alte Kraft in jenem zerbrechlichen Körper aufbegehren sehen. Aber die unbändige Wut in der Stimme des alten Ritters machte ihr Angst. Sollte sie wieder gehen? Aber jetzt war sie bis hierher gekommen. Sie durfte nicht aufgeben. Das war etwas, was sie auf der Strasse gelernt hatte. Wer aufgab, der hatte endgültig verloren. „Fragt euren … Freund doch nach der Münze. Ich habe sie ihm gegeben.“ Eine Weile fixierte der Ritter sie scharf unter zusammengezogenen Brauen. Sie fürchtete bereits, dass er sie hinauswerfen würde, als er nach einer kleinen Glocke griff, die er laut durch den Raum tönen lies. Kurz darauf öffnete sich die Tür und der alte Ernholm steckte seinen Kopf herein. „Was gibt es?“ Er bedachte Anjissa mit einem misstrauischen Blick humpelte zu dem Ritter hinüber. „Ernholm, gib mir die Münze.“ Hoffnung begann in Anjissa aufzukeimen. Vielleicht glaubte er ihr doch. Erst zögerte der angesprochene, dann aber griff er mit einem mürrischen Knurren in die Tasche und reichte dem alten Ritter die Kette mit der Münze. „Du kannst gehen, Ernholm.“ Der Ritter wartete, bis der Alte die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann hob er die Münze zwischen zwei Fingern gegen das Licht und betrachtete sie genauer. „Es ist lange her…“ murmelte er, und plötzlich glitt ein Leuchten der Erkenntnis über sein Gesicht. „Du… du bist das kleine Mädchen… mit der Puppe… die mich einen Prinzen nannte. Wie lange ist das her? Zwanzig Jahre?“ In Anjissas Welt ging die Sonne wieder auf. Er hatte sie erkannt! Sie wusste noch nicht, was das für sie bedeutete, aber es war ihr auf einmal, als sei sie nach langer und beschwerlicher Fahrt endlich nach Hause gekommen. „Komm näher, Kind, lass dich anschauen!“ Ein wenig zögerlich noch trat sie auf den alten Mann zu. Dieser fasste ihre Hand mit seinen knochigen Fingern und zog sie noch näher. „Schön bist du geworden in all den Jahren, Kind. Der dich einmal heimführt ist ein glücklicher Mann. Aber mager bist du. Ist du nicht genug? Vergib einem alten Mann, dem das Leben zuweilen übel mitgespielt hat, seine Schroffheit. Wenn man lange so einsam ist, wie ich es bin, wird man zuweilen ein wenig verbittert. Aber was rede ich und rede ich, erzähl doch, wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Was führt dich zu mir und… ach wo bleiben meine Manieren? Vergib mir, vergib mir, ich hatte so lange keinen Besuch mehr. Heda, Ernholm, bring einen Stuhl und etwas zu trinken und dann koch uns was gutes. Heute haben wir einen Gast!“ Anjissa war tief gerührt von der überströmenden Freude des alten Mannes. Eifrigst war er darum bemüht, es ihr so angenehm wie nur möglich zu machen, dreimal schickte er seinen alten Freund, ihr etwas zu trinken, eine Decke und etwas Gebäck zu holen, dann endlich lehnte er sich zurück und hörte sich ihre Geschichte an. Anjissa erzählte, erst stockend, dann immer flüssiger und schließlich brach es aus ihr heraus, all die Not und das Elend der letzten Jahre seid jenem unglückseligen Tag, an dem ihr Dorf brannte. Sie erzählte von Schmutz und Hunger, von Angst und Leid, aber auch von den wenigen glücklichen Momenten, die ihr hartes Leben gehabt hatte. Der alte Ritter hörte ihr schweigend zu. Nur hin und wieder, wenn sie von einem gar zu harten Schicksalsschlag erzählte, seufzte er leise und traurig auf. Schließlich, als sie sich beinahe schon heiser geredet hatte und das Praiosmal längst hinter den Bergen im Westen versunken war, endete ihre Geschichte. Eine ganze Weile schwiegen sie beide und in dieser tiefen Stille fühlte Anjissa sich enger mit dem alten Ritter verbunden als seid Jahren mit irgendeinem anderen Menschen. Sie fühlte sich sicher in seiner Nähe, geborgen hinter jenen alten, verfallenen Mauern, die trotz allem, wenigstens für eine Weile, die Schatten ihres Lebens fernhielten. „Ein hartes Leben führst du, mein Kind. Gerne würde ich für dich hinausziehen, noch einmal mein Schwert erheben und dir Gerechtigkeit verschaffen, ungeachtet meines Alters. Doch… ich kann nicht.“ Mit einer knappen Bewegung zog er die Decke zur Seite, die während der ganzen Zeit über seinen Beinen gelegen hatte und gab den Blick auf einen gut eine Handbreit über dem Knie endenden Stumpf frei. „Eine Erinnerung an meinen letzten Kampf. An den Tag, an dem ich alle jene verlor, die mir etwas bedeuteten. An den Tag, an dem nur noch Ernholm und ich übrig blieben. Ich wollte, ich könnte für dich hinausziehen, aber ich kann es nicht.“ Anjissa konnte die Verbitterung in den Worten des Ritters beinahe körperlich fühlen. Er, der einst ein Streiter für eine gerechte Sache gewesen war, an die er geglaubt und für die er sein Leben gewagt hatte, war nun nichts weiter als ein alter Krüppel, angewiesen auf die Hilfe des letzten Freundes, der ihm geblieben war. Sachte legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Es ist gut, Herr…“ „Nenn mich nicht Herr, Kind. Ich bin kein Herr mehr, schon lange nicht mehr. Nenn mich Rovin, wie es meine Freunde taten.“ Sie nickte nur und strich ihm sanft mit der Hand über den Arm. Vorsichtig, fast zaghaft legte er seine Hand auf ihre und hielt sie fest. „Aber eins schwöre ich dir, Anjissa: Was auch immer geschieht, hier ist von nun an dein zu Hause. Die Tore meiner Burg stehen dir immer offen, ein Bett für dich ist immer bereit und bin ich auch kein großer Herr und auch kein Krieger mehr, aber, bei allen Göttern, hier, in diesen Mauern, bist du sicher vor allem Unbill, dass dir in der Welt begegnen mag.“ Feierlich sah der Ritter ihr in die Augen und es war Anjissa, als blicke sie noch einmal in das offene, ehrliche Gesicht, nach dem sie schon so lange gesucht hatte.
      Am nächsten Morgen, nach einer ruhigen, angenehmen Nacht in einem weichen, großen Bett brach Anjissa in aller Frühe auf. Sie hasste Abschiede, vor allem jene, bei denen man sich von wirklich lieben Freunden trennte. Leise schlich sie durch die Gänge, leise schob sie den Riegel des großen Tores zurück und trat hinaus in die klare Morgenluft. Mit kräftigen, federnden Schritten lief sie den Weg hinunter, der ihr nun viel freundlicher und angenehmer erschien als gestern. Sie wusste, dass sie nicht hier bleiben konnte. Das Leben, das sie geführt hatte, hatte sie geformt, hatte die Rastlosigkeit wie eine wild wuchernde Rose in ihre Seele gepflanzt und lies sie nie lange an einem Ort verweilen. Sie brauchte ihre Freiheit, brauchte das Abenteuer und das Neue, Unbekannte, das dort draußen in der Welt auf sie wartete. Aber etwas war anders als in all den Jahren seid jener Feuernacht. Nun gab es einen Ort, an den sie zurückkehren konnte, an dem sie sich sicher fühlte und an dem man sie mit einem freundlichen Gruß empfangen würde. Nun, endlich, hatte sie dass gefunden, was sie all die Jahre wirklich gesucht hatte: Sie hatte ein zu Hause. Fröhlich und ausgelassen begann sie zu singen und der alte Rabe, der sie von einem knorrigen Baum in der Nähe beobachtete, breitete seine zerzausten Schwingen aus und flog davon. Hier gab es nichts mehr für ihn zu hohlen.

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      matis

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      Paulo Coelho
      Auszug aus: Der Dämon und Fräulein Prym

      „Ein Mann, sein Pferd und sein Hund wanderten eine Straße entlang. Als sie nahe an einem riesigen Baum vorbeikamen, erschlug ein Blitz alle drei. Doch der Mann bemerkte nicht, dass sie diese Welt bereits verlassen hatten, und wanderte mit seinen beiden Tieren weiter. Manchmal brauchen die Toten etwas Zeit, bis sie sich ihrer neuen Lage bewusst werden…
      Die Wanderung war sehr weit, führte hügelan, die Sonne brannte, und sie waren verschwitzt und durstig. An einer Wegbiegung sahen sie ein wunderschönes marmornes Tor, das zu einem mit Gold gepflasterten Platz führte, mit einem Brunnen in der Mitte, aus dem kristallklares Wasser floss. Der Wanderer wandte sich an den Mann, der das Tor bewachte.

      „Guten Tag.“
      „Guten Tag“, entgegnete der Wächter.
      „Ein wunderschöner Ort ist das hier, wie heißt er?“
      „Hier ist der Himmel.“
      „Wie gut, dass wir im Himmel angekommen sind, denn wir haben großen Durst.“
      „Sie können gern hereinkommen un soviel Wasser trinken, wie Sie wollen“,
      sagte der Wächter und wies auf den Brunnen.
      „Mein Pferd und mein Hund haben auch Durst.“
      „Tut mir leid“, sagte der Wächter. „Tieren ist der Zutritt verboten.“

      Der Mann war enttäsucht, weil sein Durst groß war, aber er wollte nicht allein trinken. Er dankte dem Wächter und zog weiter. Nachdem sie lange bergauf gewandert waren, kamen sie an einen Ort mit einem alten Gatter, das auf einen mit Bäumen gesäumten Weg aus gestampfter Erde ging. Im Schatten eines der Bäume lag ein Mann, den Hut in die Stirn gerückt, und schien zu schlafen.

      „Guten Tag“, sagte der Wanderer.
      Der Mann nickte.
      „Wir haben großen Durst, mein Pferd, mein Hund und ich.“
      „Dort zwischen den Steinen ist eine Quelle“, sagte der Mann
      und wies auf die Stelle. „Ihr könnt nach Lust und Laune trinken.“
      Der Mann, das Pferd und der Hund gingen zur Quelle und stillten ihren Durst.
      Der Wanderer dankte abermals.

      „Kommt wieder, wann ihr wollt“, antwortete der Mann.
      „Wie heißt übrigens dieser Ort?“
      „Himmel.“
      „Himmel? Aber der Wächter am Marmortor hat mir gesagt, dass dort der Himmel sei.“
      „Das war nicht der Himmel, das war die Hölle.“

      Der Wanderer war verwirrt. „Ihr solltet verbieten, dass sie euren Namen benutzten!
      Diese falsche Auskunft wird viel Durcheinander stiften!“
      „Auf gar keinen Fall. In Wahrheit tun die uns einen großen Gefallen.
      Denn dort bleiben alle, die es fertigbringen, ihre besten Freunde im Stich zu lassen.“

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      matis

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      Nannette Lachner
      Das andere Kind

      So weit ich mich auch an meine Kindheit zurückerinnere, immer war ich das „andere Kind“. Ich fühlte mich nicht geliebt, nicht beachtet und auch nicht erwünscht. Aber ich war da und erst als Erwachsene sollte ich erfahren, warum ich all das erleben und erleiden musste. Ich wurde als zweite Tochter meiner Eltern, Henry und Saskia Hüblein, geboren. Meine ältere Schwester Wiebke, damals vier Jahre alt, war da bereits der Sonnenschein meiner Eltern. Ich wuchs auf, lernte an der Hand meines Vaters laufen und konnte mit drei Jahren bereits meinen Namen buchstabieren, Liane. Wie von selbst konnte ich mit meiner Armbanduhr umgehen, wusste wie spät es war und noch bevor ich in die Schule kam, konnte ich Bücher lesen. Dies brachte mir niemand bei, keiner nahm mich an die Hand und erklärte mir irgendetwas, ich lernte die Welt selbst kennen. Dies war bei meiner Schwester Wiebke alles ganz anders. Vater ging mit Wiebke in den Zoo. Mutter lief mit ihr zu jedem Kindertheater oder veranstaltete für sie extravagante Kindergeburtstage.
      Meine Mutter hatte eine ganz besonders intensive Beziehung zu Wiebke. Mir kam es immer so vor, als ob sie sie wie einen Goldschatz behütete, sie Wiebke als ihr Eigentum betrachtete und nicht mehr hergeben wollte. Wiebke wurde auch von ihr ganz besonders „süß“ angezogen, immer in pink, Ringelstrümpfchen, schwarze Lackschuhe, Fellmäntelchen usw. Mich dagegen brachte Vater in die Kinderabteilung von Karstadt, dort suchte er mir, meist in blau, weiß oder schwarz, knielange Röcke, Kleider, Hosen und Pullover aus. Ich wüsste nicht, dass ich jemals ein farbiges Kleidungsstück als Kleinkind getragen habe. Kurz bevor ich in die Schule kam, wollte ich auch unbedingt die Tiere im Zoo sehen. Wochenlang hatte ich das Tierlexikon meines Vaters von A bis Z studiert und wollte endlich die lebendigen Tiere betrachten. Mein Vater winkte ab, es wären immer viel zu viele Leute dort, man bekäme nicht immer alle Tiere zu sehen. Manche wären krank, schliefen oder wären gar nicht erst im Zoobestand. Er ging mit mir ins Museum König, ich musste das dicke Lexikon der Tiere von A bis Z mitschleppen und vor jedem Tier, das dort aufgestellt war, im Lexikon nachschlagen, was darüber geschrieben stand. Das machte meinen Vater sehr zufrieden. Schließlich konnte ich alle Ausstellungsexponate in Ruhe ansehen, sie hielten ja still, sie waren ja schließlich ausgestopft. Nur zu einer kleinen Dummheit ließ sich mein Vater hinreißen, die Giraffe und den Elefanten durfte ich kurz anfassen, was ja eigentlich total verboten war. Sein Kommentar dazu war der, dass man dies im Zoo ja nicht könnte. Entweder würden die Tiere weglaufen oder zubeißen und somit wäre das, was ich erleben durfte doch richtig großartig. Mich hat das alles ziemlich traurig gemacht, ich merkte recht bald, bei mir wurden immer Unterschiede gemacht, aber nur zu meinem Nachteil. Es hat sehr lange gedauert, bis ich die hämischen Blicke meiner Schwester Wiebke einfach übersah, sie irgendwann gar nicht mehr registrierte. Auch ihre bissigen Kommentare erwiderte ich nicht mehr, ich hörte ihr einfach nicht zu. Trotzdem blieb sie Vaters und Mutters Lieblingstochter, ich dagegen weiterhin „das andere Kind“. Als wir älter wurden und Wiebke in die Disco gehen durfte, musste unser Vater auf Verlangen unserer Mutter den Wecker auf nachts um zwei stellen, um Wiebke mit dem Auto von der Disco abzuholen. Da duldete unsere Mutter keinen Widerspruch, Vater hatte das selbstverständlich zu machen, sie dagegen legte sich zufrieden ins Bett, wusste sie doch, ihr Mann würde sich kümmern.
      Manchmal kam unser Vater dann erst gegen vier oder gar fünf Uhr mit Wiebke nach Hause. Sie hatte mal wieder die Zeit vergessen und unser Vater saß stundenlang im Auto und wartete darauf, dass Wiebke endlich aus der Disco kam. Unser Vater hat sich überhaupt immer um alles gekümmert, er war Mathematiklehrer am Gymnasium, er hat diesen Beruf geliebt und seine Schüler ebenso. Schon aus dieser beruflichen Verantwortung heraus, erfüllte er auch pflichtbewusst alle familiären Pflichten. Als Familienoberhaupt hatte er seiner Meinung nach stets alles mit Sorgfalt und eiserner Disziplin im Auge zu behalten. Mich hat dies nie gestört, es gehörte einfach dazu, dass unser Vater sich für alle familiären und häuslichen Belange verantwortlich fühlte.
      Als Wiebke und ich älter wurden, konnte unser Vater immer schlechter schlafen. Dies äußerte sich darin, dass er, der nie Alkohol trank, sich abends ein erwärmtes Bier hinunterekelte, um wenigstens für ein paar Stunden einschlafen zu können. Spätestens um halb sechs stand er auf, ging ins Bad, setzte danach Kaffee und Tee auf und füllte diese in Thermosflaschen.
      Pünktlich um sechs Uhr zog er sich an, um bei Frau Wilmers um die Ecke, die einen Zeitungskiosk betrieb, seine Zeitung und Brötchen für alle zu kaufen.
      Er deckte den Tisch und als wir alle dann kurz vor sieben am Frühstückstisch saßen, wusste er schon von den Geschehnissen der Welt zu berichten. Wiebke und unsere Mutter verleierten dann die Augen, ihnen war das wurscht und sie wollten ihre Ruhe haben. Mir dagegen imponierte, dass unser Vater sich für alles interessierte und uns daran teilhaben lassen wollte. Je älter Wiebke und ich wurden, desto deutlicher wurde, dass ich das „andere Kind“ war. Als ich mit dreizehn Jahren Wiebke fragte, warum das eigentlich so wäre, antwortete sie nur, ich wäre das Kind vom „anderen“. Ich war total geschockt, fragte ich mich doch, was das nun wieder soll. Natürlich fragte ich weder meinen Vater, noch meine Mutter nach dem „anderen“, ich begann unsere Familie genauestens zu beobachten. Wiebke hatte das lange, braune Haar unserer Mutter geerbt, nie musste sie zum Frisör gehen. Unsere Mutter schnitt ihr alle vier Wochen, wie bei einem heiligen Ritual, immer nur die Haarspitzen. Ich dagegen musste mit Vater zum Herrenfigaro, der mir dann ebenfalls die Haare kurzraspelte. Schön fand ich das nicht, aber Vater versuchte mir immer einzureden, wie pflegeleicht dieser Haarschnitt nun wäre. Weil ich sowieso nur zu Hause war, viel las oder einfach nur auf der Bank vor dem Haus saß, schenkte mir unser Vater als ich zehn Jahre alt wurde eine kleine Katze. Sie war schneeweiß und sehr anhänglich. Ich gab ihr keinen Namen, sie hörte auf alles, was nett in ihren kleinen Ohren klang.
      Anfangs wollte diese Katze irgendwie nichts mit mir zu tun haben. Wie ich mich auch bemühte, sie streichelte, hochnahm und verwöhnte, sie dankte es mir mit Ignoranz. Wiebke dagegen, die an Tieren so gar nichts fand, lief sie ständig hinterher. Das war schlicht und ergreifend ganz furchtbar für mich.
      Später fand ich heraus, dass dies bei Katzen normal ist, je mehr man sie bedrängt, desto mehr ziehen sie sich auch zurück. Kurioserweise suchen sie die Nähe der Menschen, die Katzen am wenigsten mögen, weil sie von diesen eben nicht bedrängt werden. Meine Katze jedenfalls änderte nach einigen Monaten ihre Meinung, schlief in meinem Bett, hörte auf mich und füllte mein Kinderherz mit unendlich viel Zuneigung und Wärme. Diese Katze nahm ich auch in meine erste eigene Wohnung mit, sie war zu diesem Zeitpunkt zwar schon einige Jahre alt, aber wir zwei konnten nicht ohne einander. Wiebke hat oft die Fenster absichtlich offen gelassen, damit die Katze, wir wohnten im Parterre, abhauen konnte. So sehr ich Wiebke auch anschrie, sie spielte immer das Unschuldslamm und war nie daran schuld. Gott sei Dank lief die Katze nie weit weg und einmal brachte sie sogar ein Nachbar wieder. Nie in meinem Leben hatte ich bis dahin vor Dankbarkeit so geweint wie damals.
      Unser Vater brachte dann an alle Fenster einen Katzenschutz an und für Wiebke wurde es uninteressant, mich auf diese Art und Weise zu demütigen.
      Wiebke und ich wurden älter, gingen uns aber immer mehr aus dem Weg. Alles, was sie interessierte besprach sie mit unserer Mutter. Die wurde dann immer ganz geschäftig und Wiebke bekam, was sie wollte. Ich versuchte erst gar nicht, unsere Mutter auf meine Belange aufmerksam zu machen. Mittlerweile wusste ich, dass sie froh war, wenn ich sie in Ruhe ließ. Unser Vater wurde krank, ein erster Herzinfarkt folgte. Nur langsam erholte er sich wieder, blieb aber nun mehr und mehr zu Hause. Da unsere Eltern schon immer getrennte Schlafzimmer hatten und beide eigentlich seit jeher ihrer eigenen Wege gingen, fing meine Mutter an, sich „selbst zu verwirklichen“, wie sie es nannte. Sie besuchte Frauenkreise, reiste umher und lebte ihr eigenes Leben. Unser Vater blieb zu Hause, Wiebke zog in ihre erste eigene Wohnung und unsere Mutter richtete diese ein. Eigentlich wäre ich auch noch gern zu Hause wohnen geblieben. Ich bekochte unseren Vater, wir sahen zusammen Dokumentarfilme und ich hatte ihn irgendwie endlich für mich allein. Unsere Mutter bestand aber darauf, dass ich kurz nach meiner Berufsausbildung in eine eigene, kleine Wohnung zog. Sie gab mir einen Scheck und ich zog los, um mir meine Ersteinrichtung zu kaufen. Da wir zum 18. Geburtstag den Führerschein von unseren Eltern geschenkt bekommen hatten, die einzige Ausnahme, bei der kein Unterschied zwischen Wiebke und mir gemacht wurde, konnte ich meinen ersten Hausstand mit einem kleinen Transportwagen selbst lenken. Ich hatte also meine Wohnung, meine Katze und eine Arbeit, die mich ausfüllten. Mein Leben war in Ordnung. Die erste große Liebe kam und ging, ich nahm es nicht tragisch und alles nahm seinen Lauf. Dann kam der Brief von Wiebke. Sie wollte, dass wir einen Vaterschaftstest machen ließen, sie wollte nun endlich mal die Familienzugehörigkeiten schwarz auf weiß festgestellt haben. Für mich war das bis dato völlig unerheblich gewesen. Im Hinterstübchen von mir wusste ich doch von ihr, ich war das Kind „des anderen“, aber es interessierte mich nicht mehr. Sie bestand auf diesen Test und seltsamerweise war unser Vater überhaupt nicht dagegen. Nur unsere Mutter rief mich vor dem Test an und fragte mich, warum ich da mit machen wolle. Es wäre doch alles so schön in Ordnung, wir müssten doch nun nicht alles in Frage stellen. Ob sie Wiebke das auch gefragt hat, habe ich nie erfahren. Wir haben diesen Test jedenfalls durchführen lassen, Wiebke hatte es sich nehmen lassen, diesen auch selbst zu bezahlen. Dann kam das Ergebnis per Post, jeder bekam persönlich eine Mitteilung. Diese wurden an unsere elterliche Wohnung versandt, Wiebke hatte darauf bestand, dass wir gemeinsam das Ergebnis erfahren sollten. Mein Vater öffnete den Brief erst gar nicht, er forderte uns auf, als erste die Umschläge zu öffnen. Höhnisch überließ Wiebke mir als Erste, das Ergebnis zu lesen. Nachdem ich die ersten Zeilen gelesen hatte, bekam ich einen Lachanfall, ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Wutentbrannt las sich nun Wiebke auch das Ergebnis des Vaterschaftstests durch. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Vater, Henry Hüblein, ihr Vater sei, war ausgeschlossen. Ich dagegen war zu 99 Prozent die leibliche Tochter meines Vaters. Damit hatte sie nie im Leben gerechnet.
      Im Moment lief bei Wiebke alles schief im Leben; ihre große Liebe hatte eine andere Frau gefunden, ihre Arbeitgeber hatte ihr wegen ständiger Unpünktlichkeit gekündigt und auch so fand sie nicht die Anerkennung, die ihr ihrer Meinung nach zugestanden hätte. Sie hat sich wohl darauf besonnen, dass sie als letzten Trumpf nun ihre Schwester für all ihre Niederlagen büßen lassen müsste. Deshalb strengte sie diesen Vaterschaftstest an, um mir nun ein letztes Mal beweisen zu können, dass ich „das andere Kind“, bin, es hätte ihr unendlich viel Genugtuung bereitet. Unsere Mutter stürzte zornig in das Wohnzimmer und war außer sich vor Wut. Alles Angestaute brach nun aus ihr raus. Sie, die mit 17 Jahren von ihrer großen Jugendliebe Robert schwanger sitzen gelassen worden war, musste den Familiefreund und Mathematiklehrer Henry Hüblein auf Weisung des Vaters heiraten. Damit wurde die Familieehre gerettet und Wiebke hatte einen wirklichen Vater. Als unsere Mutter kurze Zeit später eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann hatte und mein Vater dahinterkam, forderte er von ihr nicht, diese zu beenden. Er war auch nicht gekränkt oder wollte die Scheidung. Als einzigen Pfand für all seine Opfer verlangte er ein eigenes Kind, mich. Dazu ließ sich unsere Mutter herab. Mein Vater erzählte mir nun, dass er, als er mich das erste Mal wickelte, sofort wusste, dass ich auch wirklich seine Tochter war.
      Plötzlich öffnete mein alter Vater das erste Mal in seinem Leben die Hose vor mir, zog sie herunter und zeigte mir sein Muttermal. Dieses Muttermal am linken Oberschenkel habe auch ich und er wusste damals, dass ich wirklich seine Tochter bin. Unsere Mutter wusste also von meiner Geburt an, dass ich nicht das Kind „des anderen“ war. Sie hat Wiebke einfach nie die Wahrheit gesagt, damit ihre Lebenslüge nicht auffliegen konnte. Wiebke verließ daraufhin sofort die elterliche Wohnung und auch unsere Mutter suchte das Weite. Ich blieb bei meinem Vater, ich war so aufgewühlt und wollte mehr wissen. Geduldig erklärte er mir, warum eine uneheliche Schwangerschaft zur damaligen Zeit so verpönt war. Er wollte unserer Mutter und ihren Eltern helfen und opferte sich als Ehemann und Vater. Unsere Mutter sah in Wiebke ihre große Liebe und vergötterte sie dementsprechend, ich war das lästige Übel für sie, um im gesellschaftlichen Leben weiter gut dastehen zu können.
      Mein Vater erlitt noch in derselben Nacht einen zweiten, dieses Mal tödlichen, Herzinfarkt. Er starb in meinen Armen. Sein Testament wurde kurz nach seiner Beerdigung eröffnet, ich war Alleinerbin, Wiebke bekam nur seine Taschenuhr, weil sie zeit ihres Lebens immer so unpünktlich war. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass mich mein Vater immer um sich haben wollte. Er hat mir die vielen Bücher gekauft und mir die Buchstaben erklärt, damit ich lesen lernen konnte. Er hat mich ständig gefragt, wie spät es ist und wenn ich es nicht genau wusste, erklärte er mir die Zeiger und Zahlen immer wieder. Er wollte, dass ich nicht durch Äußerlichkeiten, sondern wegen meiner inneren Werte, meines Wissens, das er mir vermittelte und meines Charakters, den er prägte, auffalle. Er hat mich gefördert und gefordert, ohne dass ich es bemerkte. Heute erfüllt mich diese Gewissheit mit sehr viel Freude, endlich weiß ich, wie sehr mich mein Vater geliebt hat. Wiebke hat sich erst wieder gemeldet, als unsere Mutter starb. Ich bat sie um die Rechnung der Beerdigungskosten, die ich zur Hälfte beglich. Zur Beerdigung meiner Mutter ging ich nicht. Ich habe Wiebke nie wieder gesehen. Sie ruft nicht an und ich weiß auch nicht, ob sie noch in ihrer alten Wohnung wohnt.

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      István Kalász
      Der Himmel dazwischen

      P., mein bester Freund und ich, wir haben uns vorgenommen, dass wir ein ganzes Jahr lang nicht weinen würden, und so wurde es. Zwölf Monate später dachten wir, das Jahr sei vorbei, und in dieser Zeit wären wir stärker, klüger geworden, und niemand könnte uns erniedrigen. Wir haben nicht geweint. Nicht in der Schule, nicht zu Hause, wo unsere Väter mit dem Gürtel auf uns einschlugen, nicht hinter dem Wohnblock, nicht auf der Wiese, in der Nähe der Baustelle. Wo die schwächeren Kinder Regenwürmer essen mussten, wo wir den Ball abgeben mussten an die Stärkeren, wo wir die Flügel der Fliegen ausrissen, wo große LKWs standen, staubige Trucks aus Bulgarien, Ungarn … und um die Kräne herum die Mädchen, die Nutten. Wo nachts geschrien wurde und die Polizei oft kam.
      Ja, das haben wir geschafft, sagte P. stolz, und hat die erste Zigarette seines Lebens angesteckt.
      Ja, sagte ich auch, keiner kriegt uns, nicht wahr?
      Dann machen wir weiter, sagte P., wir werden in unserem ganzen Leben nicht weinen, in Ordnung?
      So haben wir entschieden in jenem dunkeln, feuchten Keller unter dem Haus, dass wir von nun an nie weinen würden, und wer doch schwach werden sollte, muss es zugeben, dem anderen Bescheid sagen, weil er so den Kampf verloren hatte. Und so gehöre seine Seele dem Anderen, sagte ich ernst, weil ich es so sah nachts in den Horrorvideos, bevor der Mörder die Kettensäge hob.
      Und es gelang uns.
      Wir wurden erwachsen, hatten Jobs, Ehefrau, Chefs, die Freundin kam, die Scheidung kam danach, Krankheiten überfielen uns. Das Leben ist ein Haufen Müll, auch dieses Gefühl kannten wir. Und es gab Liebe, nachts einsames Trinken vor dem Fernseher, es gab, dass der Fernseher zertrümmert wurde, es war so, dass wir fühlten, das ganze Leben gehört zertrümmert. Ich stand auf Berggipfeln, still am Ozean, und ich verstand mit der Zeit, dass ich mit Frauen höflich sprechen sollte, dann sind sie auch nett zu mir, und ich habe begriffen, dass man die Möbel zudecken sollte, wenn man verreist. Genauso wie meine Großeltern, Eltern es taten. Und ich wurde irgendwann betrogen, bestohlen, und ich habe auch betrogen, gestohlen.
      Dazwischen wurden unsere Eltern alt, die Väter starben, und wir dachten, wir hätten das Weinen überwunden, ja, dann ist es doch passiert. Weil bis dahin ich wirklich nicht geweint habe. Ich wusste: P. weinte auch nicht. Er hätte es mir gesagt. Ja, es gab einige Augenblicke, aber dann doch nicht. Nein und nicht. So verging die Zeit, rannten die Jahre dahin, was weiß ich wie man das schöner, klüger sagt mit der Zeit, ja, ich wurde älter, meine Haare schütterer, es passierte dieses, jenes, aber weinen?
      Wir haben nicht geweint.
      Und dann: wir weinten doch. Am selben Tag. Es gibt keine Zufälle? Ja, das Schicksal ist ja doch letztendlich willkürlich, Asche und Wind in einem, Chaos; wenn ich es mir überlege, nennen wir immer die Schläge im Leben Schicksal, und am selben Tag haben wir geweint. P. und ich. An jenem Tag war ich gerade zur Hälfte meines Wunschalters gekommen, die Hälfte meines Lebens hatte ich um, nur meine Mutter lebte noch. Es war Sommer, Hitze, die Stadt ist fast geschmolzen, die Straße stank, der Himmel schmutzigweiß, ja, an diesem Tag saß ich im Auto. Ich fuhr dem Geld hinterher, jagte gerade raus in ein Industriegebiet, als mein Handy klingelte. Die Nachbarin meiner Mutter, ein altes Ekelweib rief an, ich solle zur meiner Mutter kommen, es ist was passiert.
      Die Zeit ist wie das Kind, sie läuft immer weg, sagte meine Mutter immer, wenn ich wieder keine Zeit für sie hatte, wenn ich mich wieder am Telefon rausredete, ich könne nicht kommen, ja, antwortete ich dann immer, die Zeit ist das Kind der Moral, ich weiß, und dann lachten wir immer laut. Zusammen. Es ist eine ernste Sache, sagte die Nachbarin, Sie müssen wirklich kommen. Jetzt.
      Und ich fuhr los. Bog ab, raste über Sperrlinien, über rote Ampeln hupend, raste über den Fluss, und mir fiel ein, wie oft ich nach einer hübschen Frau so raste, aber so schnell fuhr ich zur meiner Mutter nie. Zu meiner Mutter, die vergesslich geworden ist. Sie schließt die Wohnungstür nicht ab, der Hahn tropft in der Küche seit Wochen, in der Wanduhr ist die Batterie lange aus, die Lichter brennen Tag und Nacht in der Wohnung, das Radio summt vor sich hin im Schlafzimmer, ja, so ist meine Mutter. Dann kam ich an bei ihr, rannte die Treppe rauf, öffnete die Tür, die Wohnung war stickig, schwül, ja, im großen Zimmer saß sie da. Meine Mutter.
      Und ich sah sofort, sie ist verwirrt. Woher? Wieso wusste ich es sofort? Ich wusste es nicht. Ich fühlte es.
      Sie saß am Tisch, und sprach mich mit dem Namen meines Vaters an. – Peter, ich weiß, du magst keine Kinder. Ja, du kannst mit Kindern nicht umgehen, ja, ich weiß es.
      – Peter, wir müssen reden.
      – So kann es nicht weitergehen.
      Ich kniete vor ihr, und sagte, ich sei es, ich wäre hier, ihr Sohn, den sie schon so lange nicht mehr gesehen hätte, und der sich jetzt entschuldigen möchte. Und der Sohn würde jetzt Kuchen für sie bringen. Mutter, den mit Mohnkuchen, den magst du doch so gern, oder?
      Sie lächelte, und sagte leise, nein, den mit Maronen, den habe sie gern.
      – Peter, wir müssen reden, fuhr sie fort.
      – Ich würde für dich sorgen, du würdest alles haben. Aber es gibt hier etwas, Peter…
      So sprach sie leise, und ich habe verstanden, sie ist in der Vergangenheit versunken. Endgültig.
      – Es freut mich, sagte ich endlich, dass du verstehst, dass ich Kinder nicht mag, und ich muss dir sagen, auf dieser Erde kann keine Frau so gute Suppe kochen, wie du.
      Meine Mutter lächelte, sie streichelte mein Gesicht.
      – Ja, Peter, aber jetzt muss ich mit dir über etwas reden. Es ist wichtig.
      – Ich möchte wissen, heiratest du mich?
      – Weil ich es wissen möchte, woran ich bin. Mit dir, mein Lieber. Die Frauen sind so, sie können nicht warten, das hast du neulich so gesagt. Ich liebe dich.
      Ich küsste ihren kalte, faltige Stirn, und ging dann ins Schlafzimmer meiner Eltern, und setzte mich auf ihr Bett. So saß ich da, schaute die vergilbte Tapete an der Wand an, während meine Mutter draußen im Wohnzimmer leise weiter redete.
      – Peter, bist du da? Werden wir heiraten?
      – Peter, ich will nicht vor dir weinen.
      Es gab einen Schuhkarton im Schrank, hinter den alten Anzügen meines Vaters. Mit Bildern, Videobändern. Von ihrer Hochzeit.
      Wie sie so dastehen vor der Mauer. Auf einem anderen Foto stehen sie mit dem Pfarrer auf einem Platz. Zwischen den Verwandten. Hinter ihnen alte Autos, Typen die es heute nicht mehr gibt. Rostige Fiats, Wolgas. Und über den Geschäften sind seltsam verschnörkelte Neonreklamen zu sehen. Mein Vater steht da in einem Anzug, meine Mutter mit einem ärmlichen Blumenstrauß in der Hand.
      So saß ich da. Im Schlafzimmer. Das alte Radio summte, dieses passierte in der Welt, jenes passierte, ich saß nur da, schaute den Schrank an, in dem die Fotos lagen, und dachte, ich müsste die Bilder rausholen, ich müsste sie mir anschauen, damit ich genau wüsste, wie es an jenem Tag war … Was für eine Krawatte trug mein Vater damals? Was für ein Kleid hatte meine Mutter an zum Heiraten? Wie war das Wetter? Schien die Sonne damals? War es windig? Überhaupt, was passierte in der Welt an jenem Tag? Meine Eltern haben mir nie über diesen Tag erzählt. Ja, Heiraten ist eine gute Sache, nicht heiraten ist aber eine bessere, steht in der Bibel irgendwo, aber das dürfte ich nie vor meiner Mutter sagen.
      Ich holte tief Luft, draußen murmelte meine Mutter immer noch, dann stand ich auf, damit ich mich wieder vor sie hinstellen kann, und sagen könnte: Alles wird gut, Mutter.
      – Ich erwarte ein Kind, Peter.
      – Wenn du mich nicht heiratest werden sie dieses Kind aus mir herausholen, Peter.
      – Ich will nicht weinen.
      – Ja, Mutter, sagte ich.
      – Ich will nicht, dass sie dieses Kind aus mir rausholen. Ich weiß, du magst keine Kinder.
      – Aber jetzt, Peter, musst du dich entscheiden. Ich habe genug gewartet.
      – Ich verspreche dir, es wird kein anderes Kind mehr geben.
      Ja, in diesem Augenblick fing ich an zu weinen. Weil ich plötzlich die Filzpantoffeln meiner Mutter sah. Sie trug die verkehrt, die Nachbarin hatte ihr die wohl so angesteckt, keine Ahnung wie es passieren konnte. Denn ich habe nie gesehen, dass meine Mutter irgendwas verkehrt getragen hätte, sie war ihr ganzes Leben lang sehr achtsam und penibel mit ihrer Kleidung.
      Ja, sagte ich, hab keine Angst.
      Dann ging ich raus, raus aus der Wohnung, aus dem Haus raus, unter den Himmel und rief P. an, und erzählte, wie meine Mutter um Leben bettelte damals, und erzählte auch, dass ich weinte, weil ich ihre Pantoffeln sah.
      P. schwieg, dann hörte ich wie er auch leise zu weinen anfing, und dann legten wir beide auf. Ich blieb da, unter dem riesigem Himmel, sah rauf, sah das Fenster meiner Mutter und wusste, ich muss rauf. Denn ich werde viel zu tun haben, und in diesem Augenblick kam eine solche friedliche Ruhe über mich, wie ich sie so noch nie in meinem Leben gespürt hatte.

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      matis

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      Stella Eva Henrich
      [B]Ein Hirn wäscht das andere

      Manuel trägt mal wieder sein Schweißband als ich den Laden betrete. Mitten im Herbst. Die ersten Blätter fallen bereits goldgelb von den Bäumen. Ich peile beim Eintreten sofort sein Handgelenk an. Ich amüsiere mich jedes Mal bei meinen Besuchen im Laden köstlich über dieses Frotteeteilchen, das er wie ein Schmückstück anlegt.
      „Hallo Darling“, begrüßt er mich mit wachsweicher Stimme.
      „Hi“, erwidere ich knapp, aber nicht unfreundlich.
      Mit der Schweißbandhand weist er mir meinen Platz zu.
      „Willst du einen Kaffee, Darling?“
      Es ist zehn Uhr morgens. Ich bin noch nicht allzu lange wach. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin dankbar über sein Angebot.
      „Nehme ich, schwarz ohne Zucker“, antworte ich.
      Ich hätte allerdings auch einen genommen, wenn ich zuvor bereits eine halbe Kanne Kaffee getrunken hätte. Ich liebe dieses Ritual beim Friseur. Ich genieße den frischen Kaffeeduft, während ich in ein paar teuren Hochglanzfrauenmagazinen blättere. Während dessen schickt mir Manuel seine Assistentin Kati vorbei, die mich in einen Kimono verpackt und mir das Haar mit einer großflächigen Borstenhaarbürste glättet. Kati berührt dabei sanft meine Schläfen, um meinen Kopf in die richtige Position zu bringen. Meist entschwinde ich bei diesen Berührungen meines Gesichts bereits in einen leichten Trancezustand.
      Es sind nur ganz wenige und außerdem unaufdringliche Berührungen, dafür aber sehr wirkungsvoll. Absichtlich verdrehe ich hin und wieder meine Kopfhaltung, damit Kati mich nochmals zurechtrücken muss.
      Erst der Auftritt Manuels holt mich in das Hier und Jetzt zurück.
      „Was machen wir denn heute?“, fragt er und wackelt dabei kokettierend mit dem Hintern.
      Meine Wünsche sind rasch erklärt. Mein Stylist hat allerdings ganz andere Vorstellungen.
      „Darling, nicht immer das gleiche. Rechts und links schneiden wir ab, stufen das Deckhaar an und färben das Unterhaar rot. Das kommt gut zum Herbst.“
      Manuel lässt mir nicht viel Zeit zum Überlegen.
      „Darling, der Kerl ist eh weg“, schiebt er noch rasch hinterher. Der Zaubersatz zeigt Wirkung.
      „So soll es sein“, sage ich lachend.
      „Voila, du bist die Größte.“ Manuel ist begeistert von meiner raschen Entschlusskraft.
      Die Assistentin bittet mich zum Waschbecken. Ich schließe die Augen. Ich liebe das Rauschen des Wassers so nah an meinen Ohren. Es ist schön warm. Das Shampoo riecht köstlich nach Kokosnussmilch. Ich spüre, wie Kati ihre Finger etwas steif macht, um meine Kopfhaut besser massieren zu können.
      Vor meinem geistigen Auge sehe ich Bilder vorbeiziehen. Wie Wolken.

      Strand, Sonne, eine ruhige Bucht. Lyés liegt neben mir im warmen Sand. Wir schauen beide in den Himmel und spielen: Ich seh´ etwas, was du nicht siehst. Ich höre uns lachen. Urlaub auf Rügen. Kurz bevor mir Lyés mitteilt, dass sich unsere Wege trennen. Sein Unternehmen sende ihn nach Südamerika, erklärte er mir.
      Diese verflixten Sektierer bestimmten schon immer sein Leben. Die Firma ist seine Familie. Und wenn die Familie sagt, du gehst, dann ging er.

      „Autsch“, wehre ich mich gegen das heiße Wasser, das Kati über meinem Haar ergießt, um das Shampoo auszuspülen. „Kopfwaschen“ denke ich leise vor mich hin und bewege ausdrucksvoll die Lippen dazu. Zum ersten Mal seit langer Zeit, dass ich keine Freude an der Friseurkopfwäsche verspüre. Meine Stirn wirft Falten.

      Ein Hirn wäscht das andere. Diesen Satz habe ich Lyés vorgehalten, wenn er mir mit seiner Firma kam. Mir waren diese Männerbünde seines Ladens immer zuwider. Er und seine Kollegen erinnerten mich stets an Pater Ralph aus den Dornenvögeln. Viele Paters, die ihren Dienst einer höheren Macht zur Verfügung gestellt hatten. Auf dem Programm standen Entsagung dem Weib und Triebhaftigkeit, wenn es den Feind zu jagen galt. Leistungssportler haben kurz vor Wettkämpfen ein ähnliches Programm zu absolvieren, aber auch Soldaten werden auf diese Weise vor dem Kampfeinsatz durch Steuerung ihres Emotionsbudgets scharf gemacht.
      Und manchen Weibern scheinen solche Buben zu gefallen.
      Auch mich faszinierte Lyés mit seiner Unnahbarkeit, seiner Zielstrebigkeit, seinem ungebrochenen Glauben an sich selbst und an die Ziele seiner Firma. Er bedient sich dabei kaltblütig einer Jüngerschar, die nicht bemerkt, wie er sie verführt. Ich beobachtete sein Spiel stets mit Entsetzen und Ekel. Aber gleichzeitig war ich auch fasziniert, wenn ich sah, wie er ihre Hirne wusch, ohne dass die Buben dies registrierten. Er manipulierte ihr Unterbewusstsein mehr mit Körpersprache und Gesichtsmimik als mit Sprache an sich.
      Wenn ich Lyés heimlich beobachtete, wurde mir klar, dass non verbale Kommunikation für die meisten Menschen sehr viel verständlicher und eindeutiger ist. Sprache dagegen verwirrt sie. Sie lässt zu viele Spielräume für Interpretationen und Missverständnisse zu.
      Lyés lässt Menschen träumen. Wie ein Magier weckt er Sehnsüchte, die leider nicht oft ihre eigenen sind.
      Immer wieder stellte ich mir bei meinen Beobachtungsstudien deshalb die Frage, hat der Mensch wirklich einen freien Willen. Handelt er so, wie er handeln will. Oder bilden wir uns lediglich ein, einen freien Willen zu haben. Was bedeutet dann Bewusstsein? Wird der Mensch eher von einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit geleitet oder gibt es neuronale Gesetzmäßigkeiten in unserem Gehirn, aus denen wir unsere Erkenntnisse ableiten. Ist der Mensch etwa wie ein Roboter programmiert?
      Sobald ich Lyés studierte, sah ich, er schöpfte aus den Tiefen des Unterbewusstseins. Bei sich und anderen. Das Bewusstsein seiner Umwelt war meist ausgeknipst, die Jünger wirkten wie Schläfer und Traumtänzer, die zum Reigen aufgefordert werden mussten. Es war für ihn ein leichtes, ihre Träume und Visionen zu beflügeln. Viele stürzten sich in ein finanzielles Fiasko, manche sogar in den Ruin. Dann sprach er davon: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Predigte den Jüngern Mut und schloss Niederlagen nicht aus. Asketisch lebte er ihnen vor, wie man seine Risikobereitschaft steigerte. Sie sahen ihn als Vorbild. Er, der Guru, hatte Erfolg. Die Buben scheiterten, nur wenigen gelang ein Wurf. Für die übrigen geriet er zum Seelsorger. Nicht ungewollt, versteht sich. Er fing sie auf, bevor sie abstürzten. Damit schaltete er die Gefahr aus, dass sie erwachten auf ihrem Dämmerzustand.
      Das System der Abhängigkeiten funktioniert nach Plan.
      In der Nachbetrachtung muss ich sagen, dieses ganze System ist ein großer, beschissener Bluff. Männer bekunden Solidarität, waschen Hirne und lassen waschen, fragen nicht nach den dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten und der Sinnhaftigkeit. Viele der Buben, denen es oftmals an Selbstrespekt mangelt, lockt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Anerkennung der Gemeinschaft. Ohne sie sind sie ein niemand. Ausgelöscht.

      „Soll er doch gehen“ – sage ich laut sprechend.
      „Und wir gehen jetzt zum Schneiden über, Darling“, erkenne ich die Stimme von Manuel.
      Ich öffne die Augen, klopfe mit der linken Hand auf meinen Kopf und stelle fest, dass Kati mein Haar bereits in ein Handtuch eingewickelt hat.
      „Hat Kati dir kräftig den Kopf gewaschen?“
      „Sie hat Erinnerungen hochgespült“, gebe ich offen zu.
      „Du wirst sehen, mit der neuen Frisur fühlst du dich gleich besser“, prophezeit Manuel.
      Manuel plaudert beim Schneiden. Zauberhaft lenkt er meine Gedanken weit weg von Lyés. Virtuos beherrscht er diese Kunst, mich mit Worten zu hypnotisieren.
      Als ich erwache, betrachte ich mich im Spiegel.
      „Das bin ich“, sage ich ein wenig erstaunt.
      „Das bist du, Darling“, bestätigt Manuel.
      „Ein bisschen verrückt, unberechenbar, mit einem Schimmer Magie und einem erfrischenden Lachen“, erklärt mir mein Hairstylist.
      Beim Verlassen des Ladens werfe ich erneut einen Blick auf das Schweißband an seinem Handgelenk. Es hat etwas von meiner roten Haartönung abbekommen. Ich schaue Manuel irritiert an. Er versteht mich sofort. Ohne ein Wort. „Macht nichts, Darling. Eine Hand wäscht die andere“, scherzt er.
      Ich verstehe zwar in diesem Moment nicht so genau, wie er das meint. Aber der Gedanke gefällt mir. Und Lyés mit seiner Hirnwäsche kann mich in Zukunft garantiert kreuzweise.

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      matis

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      Gabriele Wohmann
      Ein netter Kerl

      Ich habe ja so wahnsinnig gelacht, rief Nanni in einer Atempause. Genau wie du ihn beschrieben hast, entsetzlich.

      Furchtbar fett für sein Alter, sagte die Mutter. Er sollte vielleicht Diät essen. Ubrigens, Rita, weißt du, ob er ganz gesund ist?

      Rita setzte sich gerade und hielt sich mit den Händen am Sitz fest. Sie sagte: Ach, ich glaub‘ schon, daß er gesund ist. Genau wie du es erzählt hast, weich wie ein Molch, wie Schlamm, rief Nanni. Und auch die Hand, so weich. Aber er hat dann doch auch wieder was Liebes, sagte Milene, doch, Rita, ich finde, er hat was Liebes, wirklich.

      Na ja, sagte die Mutter, beschämt fing auch sie wieder an zu lachen; recht lieb, aber doch gräßlich komisch. Du hast nicht zu viel versprochen, Rita, wahrhaftig nicht. Jetzt lachte sie laut heraus. Auch hinten im Nacken hat er schon Wammen, wie ein alter Mann, rief Nanni. Er ist ja so fett, so weich, so weich! Sie schnaubte aus der kurzen Nase, ihr kleines Gesicht sah verquollen aus vom Lachen. Rita hielt sich am Sitz fest. Sie drückte die Fingerkuppen fest ans Holz. Er hat so was Insichruhendes, sagte Milene. Ich find ihn so ganz nett, Rita, wirklich, komischerweise.

      Nanni stieß einen winzigen Schrei aus und warf die Hände auf den Tisch; die Messer und Gabeln auf den Tellern klirrten. Ich auch, wirklich, ich find ihn auch nett, rief sie. Könnt ihn immer anseh‘n und mich ekeln.

      Der Vater kam zurück, schloß die Eßzimmertür, brachte kühle nasse Luft mit herein. Er war ja so ängstlich, daß er seine letzte Bahn noch kriegt, sagte er. So was von ängstlich. Er lebt mit seiner Mutter zusammen, sagte Rita. Sie platzten alle heraus, jetzt auch Milene. Das Holz unter Ritas Fingerkuppe wurde klebrig. Sie sagte: Seine Mutter ist nicht ganz gesund, so viel ich weiß.

      Das Lachen schwoll an, türmte sich vor ihr auf, wartete und stürzte sich dann herab, es spülte über sie weg und verbarg sie: lang genug für einen kleinen schwachen Frieden. Als erste brachte die Mutter es fertig, sich wieder zu fassen.

      Nun aber Schluß, sagte sie, ihre Stimme zitterte, sie wischte mit einem Taschentuchklümpchen über die Augen und die Lippen. Wir können ja endlich mal von was anderem reden.

      Ach, sagte Nanni, sie seufzte und rieb sich den kleinen Bauch, ach ich bin erledigt, du liebe Zeit. Wann kommt die große fette Qualle denn wieder, sag, Rita, wann denn? Sie warteten alle ab.

      Er kommt von jetzt an oft, sagte Rita. Sie hielt den Kopf aufrecht.

      Ich habe mich verlobt mit ihm.

      Am Tisch bewegte sich keiner. Rita lachte versuchsweise und dann konnte sie es mit großer Anstrengung lauter als die anderen, und sie rief: Stellt euch das doch bloß mal vor: mit ihm verlobt! Ist das nicht zum Lachen!

      Sie saßen gesittet und ernst und bewegten vorsichtig Messer und Gabeln. He, Nanni, bist du mir denn nicht dankbar, mit der Qualle hab ich mich verlobt, stell dir das doch mal vor!

      Er ist ja ein netter Kerl, sagte der Vater. Also höflich ist er, das muß man ihm lassen.

      Ich könnte mir denken, sagte die Mutter ernst, daß er menschlich angenehm ist, ich meine, als Hausgenosse oder so, als Familienmitglied. Er hat keinen üblen Eindruck auf mich gemacht, sagte der Vater.

      Rita sah sie alle behutsam dasitzen, sie sah gezähmte Lippen. Die roten Flecken in den Gesichtern blieben noch eine Weile. Sie senkten die Köpfe und aßen den Nachtisch.

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      deleted_user

      Registriert seit: 20.06.2016

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      Auch, wenn sich in diesem Thema bisher nur matis getummelt hat, stelle ich heute auch mal meine persönliche Kurzgeschichte des Tages hier rein. Es ist zwar im eigentlichen Sinne ein Manifest, aber man sollte es wohl doch zur Gattung der Kunstprosa zählen. Es ist das letzte Werk des Autors, den ich schon lange sehr gerne mag und nun nach intensiver Beschäftigung, und dieses Wort ist hier nicht übertrieben, verehre. Zudem dachte ich, dass der hier stattfindende Aufruf sehr gut zur sich immer weiter verdunkelnden weltpolitischen Lage passt und vielleicht wenigstens einige von uns daran erinnert, dass man in solchen Tagen eigentlich nur eine Aufgabe hat: Zumindest persönlich soviel Friede wie möglich zu bewahren.

      Wolgang Borchert: Dann gibt es nur eins! (1947)

      Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie Dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren – sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Schneider auf deinem Bett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, Du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
      Sag NEIN!

      Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du am Hoangho und am Missisippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
      Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!

      Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann: dann:

      In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest, den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –

      die Strassenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen –

      eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig unaufhaltsam –

      der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken –

      in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln –

      in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Saecke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln – zerbröckeln – zerbröckeln –

      dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch –

      all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn — wenn — wenn ihr nicht NEIN sagt.

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