Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Die musikalische Länderkunde › The Sound of Japan
-
AutorBeiträge
-
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
peterjoshua
peterjoshuaFür Geneigte: Ich schreibe nun auf der FB-Seite des mir nachstehenden Hamburger Plattenladens Michelle Records in unregelmäßigen Abständen kurze Berichte über Tokioter Plattenläden: https://www.facebook.com/100370546675435/posts/3822707404441712/?d=n
Hier ist mein nächster Bericht, diesmal zu Tower Records: https://www.facebook.com/100370546675435/posts/3864872723558513/
Schade, ich habe keinen facebookzugang (mehr)…
--
Highlights von Rolling-Stone.deZum 60. Geburtstag von Eddie Vedder: Sänger für die Verlorenen
Christmas-Playlist: 10 großartige Songs zu Weihnachten
Oh, du Hässliche! Die 25 schrecklichsten Weihnachtsalben-Cover
Legendäre Konzerte: The Concert For Bangladesh 1971
„Kevin allein zu Haus“: Ein Familienfilm ohne Familie
The Beatles: Wie die Aufnahmen zu „Let It Be“ zum Fiasko wurden
Werbungplattensammler
peterjoshua
Hier ist mein nächster Bericht, diesmal zu Tower Records: https://www.facebook.com/100370546675435/posts/3864872723558513/
Schade, ich habe keinen facebookzugang (mehr)…
Kopiere es mal ein:
Halleluja! Hosianna! Frohlocket! Tower Records ist gar nicht pleite. Nicht allzu lange, nachdem ich 2005 New York nach nur einem halben Jahr Montage verlassen musste, machte Tower Records (erneut) die Gabel, also: bankrott. Kurz darauf nahm man für immer den Tonabnehmer vom Vinyl, den Laser vom Silberling: alle Geschäfte schlossen. Ich hatte zwar in den sechs Monaten so manchen Dollar in nächtlichen Kaufräuschen an der Filiale an der Upper West Side gelassen. Aber die Behauptung meiner Frau, der durch meinen Wegzug bedingte Umsatzrückgang hätte Tower Records das Genick gebrochen, weise ich zurück.
Meine Freude war also riesig, als ich vor zweieinhalb Jahren unversehens vor einem ganzen, achtstöckigen Gebäude in Shibuya voll mit Tower Records stand. (Shibuya ist der Stadtteil mit der Wuselkreuzung, die immer gezeigt wird, wenn irgendwo im Fernsehen über Tokio berichtet wird, wenn nicht Kirschblüte ist. Sehr einfallsreich.) Tower Records Japan hatte sich im Jahr 2002, wie ich recherchierte, vom amerikanischen Mutterschiff gelöst. Japanerinnen und Japaner kaufen nach wie vor wie besessen analog, also im Laden, wenn auch im Tonträgersegment vor allem die dann doch eher digitale CD. Die wird bei Tower Records Shibuya auf etwa zehnmal so viel Fläche angeboten wie Vinyl. Ein Stockwerk nur J-Pop, ein Stockwerk nur K-Pop, ein Stockwerk Klassik und Jazz, ein Stockwerk Rock, Pop, R&B usw., ein Stockwerk nur Soundtracks usw. Paradiesisch.
Als ich Anfang letzten Jahres nach Tokio zog, entdeckte ich die Tower-Records-Filiale in Shinjuku, die dort liquiditätsgefährdend direkt am Bahnhof liegt. Das ist übrigens der Bahnhof, an dem täglich 3 Mio. Menschen ein-, aus- oder umsteigen, das freilich, ohne sich auch nur einmal anzurempeln oder auf den Fuß zu treten. In der Filiale gibt es auf vier Stockwerken jede Menge CDs – und im obersten Stock Vinyl in rauen Mengen. Fast jeden Freitagabend schaue ich vorbei, so, wie ich auch in Hamburg freitags immer bei Michelle reingeschaut habe.
Etwa ein Viertel des Angebots ist Neuware, der Rest Second Hand. Die Sortierung ist dem Plattenkäufer allerdings ein Achttausender. Wenn auch nicht wegen des unwegsamen japanischen „Alphabets“ – das wird nur bei japanischer Musik verwendet –, sondern weil sich nicht so recht erschließen will, nach welchem System überhaupt ausgestellt wird. Nun sind wir ja von Michelle verwöhnt. Wer stürzt sich nach Betreten unseres Tempels nicht sofort auf das breite Regal mit den sauber sortierten Neuerscheinungen. Bei Tower Records gibt es davon nur anderthalb Boxen. Was zur Aufnahme in diesen erlesenen, nun ja: Kreis berechtigt, ist unklar. Weitere Neuerscheinungen verbergen sich in separaten Fächern für einzelne Independent-Plattenfirmen, andere stehen eher unmotiviert und vereinzelt auf verstreuten Plastikständern oder in einer Display-Rille oberhalb der regulären Fächer.
Das Ganze scheint kein wirkliches System zu haben. Oder eben doch: Auf der Suche nach bestimmten Exemplaren muss man mindestens fünf Stationen anlaufen und macht so manchen umsatzfördernden Beifang. Nachgerade paradiesisch ist das Stöbern in der gebrauchten Ware, die ähnlich skurril sortiert ist: nach Genres, die mir zum Teil völlig unbekannt waren; Zeitpunkt des Wareneingangs; nach Preislage und bei den bedeutendsten Acts nach Provenienz der Pressung. Bei den Beatles oder Stones gibt es also Japan-, UK- und USA-Fächer. Die Japanpressungen sind komischerweise – oder eben auch nicht, wir sind ja in Japan – in der Regel die günstigeren.
Das Sortierungswirrwarr ist einem natürlich schnuppe, denn man sucht ja nicht gezielt, sondern schnöft, wie wir Mentalitäts-Düsseldorfer sagen. Das täte man gerne stundenlang, wenn nicht japanische Geschäfte beheizt wären wie finnische Saunen. Japanerinnen und Japaner sind tendenziell sehr schlank, um nicht zu sagen; klapperdürr und demgemäß anders isoliert als wir Mitteleuropäer. Da hat man es im Laden gerne muckelig. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, auch bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt nur in Pullover oder Sommerjacke nach Shinjuku zu fahren.
Ich finde im (tatsächlichen) Schweiße meines Angesichts immer zahlreiches gebrauchtes wie ungebrauchtes Vinyl nach meinem Geschmack, ein echtes Michelle-Gefühl. Allerdings sind in Zeiten von Discogs echte Schnäppchen auch hier nicht mehr möglich, der Markt ist zu transparent. Nur Platten japanischer Bands und eben auch Japanpressungen sind hier mangels Zoll weitaus günstiger als in Europa – wenn sie denn dort überhaupt zu bekommen sind.
So laufe ich also jeden Freitag mit einem Arm voll Frisch- und Nicht-so-frisch-gepresstem zur Kasse, wo mich in aller Regel ein mir schon recht vertrauter junger Herr in Empfang nimmt und unser wöchentliches Tänzchen beginnt. Zunächst werde ich gefragt, ob ich die Gebrauchten testen will. Will ich nicht, denn das Vinyl ist immer in einwandfreiem Zustand. Lediglich die Hüllen sind mal etwas mitgenommen, riechen selten auch mal nach feuchtem Keller oder Raucherhaushalt, nie aber nach altem Mann unterm Arm, dazu sind die Japaner einfach zu gepflegt. Sodann werde ich gestenreich befragt, ob ich im Besitz einer punktesammelnden Tower Records App oder Kundenkarte bin. Bin ich, letztere liegt bereits in der kleinen Schale, über die auch außerhalb pandemischer Zeiten jede Transaktion abgewickelt wird. Auf dass man sich auf keinen Fall berühre. Dafür gibt es schließlich die Love Hotels, deren Besuch hier durchaus nicht verpönt ist, sondern zum Ehealltag gehört wie in Deutschland der sonntägliche Tatort.
Der junge Kollege beginnt mit der ersten Sortierung der Ware. Neuware und Gebrauchte werden in zwei Stapel getrennt. Aus der Plastikumhüllung der Neuware werden CD-große Plastikplatten entfernt, die wohl dem Diebstahlschutz dienen. Allein: wozu? Es gibt kein weniger kriminelles Land als Japan. Hier reservieren sich die Leute beim Starbucks die Sitzplätze mit ihren Handys oder Portemonnaies. Kein Witz. Stichwort Plastikhülle: Jede Platte, selbst die verschweißte Neuerscheinung steckt nochmals in einer Plastikhülle mit Klebestreifen. Ich muss dringend einen Weg finden, wie ich das Zeug zur Wiederverwertung im Laden zurücklassen kann (reduce, reuse, recycle!). Dafür fehlt mir aber noch das Vokabular.
Wie ich überhaupt herzlich wenig von dem, was mir von dem jungen Herrn zugerufen wird, tatsächlich verstehe. Denn japanische Verkäuferinnen und Verkäufer reden während des Verkaufsvorgangs unablässig, ganz gleich, ob das Gegenüber sie versteht, überhaupt zuhört oder zwischenzeitlich eingeschlafen oder, was wahrscheinlicher ist, einem Hitzeschlag erlegen ist.
Nun ja, nach aufwändigem Entfernen des Diebstahlschutzes werden in ähnlicher Weise aus den Gebrauchten die bunten Preisschilder entfernt. Das hat den Nachteil, dass es im Nachhinein schwierig ist, den einzelnen Platten Preise zuzuordnen. Ob man also eine der zahlreichen gut erhaltenen Stücke aus dem Segment von 400 bis 1000 Yen (3,20 bis 8 Euro) vor sich hat oder eine Kostbarkeit im Wert von, sagen wir: 20 Euro (es geht selbstredend bis in die Hunderte), lässt sich später nur schwer rekonstruieren. Sei’s drum.
Nun werden die Preise eingelesen. Das ist eine Show für sich, weil dabei jeder Preis bis auf die letzte Stelle laut vorgelesen wird. Das ist für mich eine schöne Sprachübung und ein schöner Ausdruck der Selbstkritikfähigkeit von Tower Records. Denn dabei fallen dem jungen Herrn mit schöner Regelmäßigkeit Auszeichnungsfehler im Pfennigbereich auf, die mir verborgen geblieben wären und natürlich unverzüglich korrigiert werden.
Es kommt nun zum Höhepunkt des Bezahlvorgangs: Dem mindestens zwei-, oft dreifachen Durchzählen der Platten, die gleich eingetütet werden sollen, und dem Abgleich mit der Zahl der in der Registrierkasse erfassten Exemplare. So viel Zeit muss sein, und mein Hemd ist ohnehin bereits durchgeschwitzt. Der junge Herr stellt fest, dass sich auf meinem Kundenkonto einige Punkte angesammelt haben, und fragt mich irgendetwas. Ich nehme an, er will wissen, ob ich Punkte zur Diskontierung verwenden will. Will ich. Manchmal werden dann tatsächlich 1000 Yen (etwa 8 Euro) oder mehr abgezogen. Manchmal ernte ich nur einen verständnislosen Blick. Die Frage war wohl doch eine andere.
Nun darf ich so oder so bezahlen. Das geht wie bei uns mit Kartenlesegerät und PIN, komischerweise noch nicht kontaktlos wie sonst so vieles in Japan, wenn man mal von den Love Hotels und Katzen- und Schweinestreichel-Cafés absieht. Ein erster Satz Kassenzettel wird vertackert und mir auf einem Klemmbrett entgegengehalten. Denn nun wird mit Kugelschreiber an mindestens drei Stellen markiert, wieviel ich gezahlt, wie viele Punkte eingesetzt und wie viele Punkte noch auf meinem Konto verbleiben. Das ist schön, aber nicht lebenswichtig zu wissen. Und auch nicht zur dauerhaften Kenntnisnahme bestimmt, denn die so markierten Bons werden der Buchhaltung des Ladens zugeführt. Ich selbst bekomme meine eigenen, sauberen Zettel. Die werden nur nach inständigem Flehen mit in die Tüte gepackt, in der Regel aber mittels der vertrauten Schale feierlich überreicht.
Nun erscheint meistens ein weiterer Verkäufer, um beim Verstauen der Ware in zwei ineinander geschobene Papiertüten zu helfen. Das ist mir Anlass, das Personal kurz vorzustellen. Im Wesentlichen besteht es aus zwei recht ähnlichen jungen und zwei einander ebenso ähnlichen Herren meines Alters. Die jüngeren sind adrett, wie meine Oma sagen würde, gutaussehend, schlank, zurückhaltend, aufmerksam (man bringt mir mitunter unaufgefordert während des Stöberns einen altersgerechten Warenkorb) und natürlich sehr höflich. Das sind die älteren auch. Sie sind aber ein wenig zauseliger, mit längeren Haaren, Ziegen- oder ähnlichen Bärten und einem insgesamt etwas bohèmehafteren Äußeren. So eine Mischung aus Frank Zappa und spätem Wolfram Wuttke selig. Sie machen sich vor allem dadurch verdient, dass sie den Laden durchgehend ansprechend beschallen. Ich habe ihnen schon so manches frisch vom Plattenteller weggekauft. Interessanterweise legen sie dabei gerne Second-Hand-Platten auf und zwar zuverlässig aus dem Niedrigpreissegment. Ob das umsatzfördernd ist? Ich fühle mich jedenfalls ähnlich angesprochen, wenn nicht verführt wie von der akustischen Kulisse bei Michelle.
Zu guter Letzt tritt mein Freund, der Verkäufer, mitsamt Tüte hinter dem Kassenbereich hervor, überreicht mir die Kostbarkeiten und verabschiedet mich unter tiefen Verbeugungen in den Feierabend. Der ganze Bezahlvorgang hat gut und gerne zehn Minuten gedauert. Und dennoch musste niemand hinter mit in einer Schlange warten. Denn sobald sich eine solche zu bilden droht, kommt aus dem Personalraum unaufgefordert Verstärkung. Übrigens: Sowohl beim Betreten des Verkaufsraums als auch beim Verlassen verbeugen sich die Mitarbeitenden in Richtung des Verkaufsraums, ganz egal, ob es jemand mitbekommt. Was für ein schönes Zeichen der Wertschätzung der Kundschaft, der Kolleginnen und Kollegen und der Arbeit selbst.
Ähnliches erwarten wir von Michelle nicht. Wir nutzen die Zeit, die wir durch den deutlich kürzeren Bezahlvorgang am Gertrudenkirchhof gewinnen, für einen Plausch mit Christof, André oder Anna — vor denen ich mich gerade in diesen Zeiten allerdings ehrfurchtsvoll verneige.
zuletzt geändert von peterjoshua--
rock 'n' roll..., deal with it!Danke für die Berichte! Freue mich auf die Fortsetzungen.
--
Hanazono, das auf RVNG erschienene vierte Album von Satomimagae, ist von André Boße im Musikexpress gerade hoch gelobt worden und hat sicher seinen Reiz: ruhige, meditative, durchaus klangschöne Musik mit gezupften Gitarren und sanft gehauchtem Gesang, ein weltabgewandtes musikalisches Blumengärtchen (der ME sagt „Ambient-Folk“ dazu).
In der Tube gibt es drei Videos zum Kennenlernen:
„Manuke“
„Houkou“
„Numa“--
To Hell with Poverty
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Die neue Single von Chai – moderner Pop. Das neue Album WINK ist gestern erschienen.
--
Mein nächster Bericht über Tokios Plartenländen für „meinen“ Plattenladen Michelle Records (in Hamburg):
https://www.facebook.com/522989394/posts/10159265734334395/?d=n
Für die FB-Verweigerer:
„Eins ist mal klar: Du bist ein Polytrottel!“ Diesen schönen Satz hat der Vater eines Freundes seinem Sohn an den Kopf geschmissen, als der sich in einem – nicht unüblichen – Anfall von Eitelkeit als „polyglott“ bezeichnete. Ebenso polytrottelig und mit ebenso unschönem Hang zur Angeberei hier meine drei liebsten Buchläden:
Lüders Buchhandlung in Hamburg-Eimsbüttel, geführt unter anderem von meinem lieben Freund Thomas Bleitner. Top-Beratung, Top-Auswahl, Top-Lesungen, Top-Social-Media-Auftritt. Die Four Tops sozusagen und damit der Buchladenzwilling von Michelle.
Munro’s Books in Victoria, British Columbia, Kanada, 1963 eröffnet von der späteren Nobelpreisträgerin Alice Munro, die allerdings mit dem Laden schon seit einer Weile nicht mehr verbunden sein soll. In einem beeindruckenden ehemaligen Bankgebäude untergebracht (der Laden, nicht die Schriftstellerin!).
Und die Tsutaya-Filiale im schnieken Tokioter Boutiquen-Stadtteil Daikanyama.
Es gibt über 1400 Tsutaya-Filialen, viele funktional, manche stylish und die in Daikanyama wunderschön. In drei kubischen Bauten findet die literarisch, ästhetisch oder kulinarisch geneigte Kundschaft Beglückendes. Stundenlang kann man dort stöbern und die Zeit verbummeln. Unter anderem in einer Plattenabteilung, die sich mir auch nach zahlreichen Besuchen noch nicht wirklich erschlossen hat. Ich komme nicht umhin zu vermuten, dass die Abteilung vor allem dekorativen Zwecken dient und eher zufällig eine sehr ansprechende, wenn auch erratische Auswahl von Tonträgern und Literatur über Musik beherbergt.
Es gibt einiges an Vinyl, in einem kleinen zentralen Bereich auch sauber sortiert nach Genre und Neu- und Gebrauchtware in den üblichen Kisten. Daneben finden sich optisch besonders ansprechende Exemplare an verschiedenen Stellen der Abteilung regelrecht ausgestellt, vieles ist knapp unter der Decke auf Leisten an die Wand gelehnt. Ich komme mit meinen 1,91m (auf den letzten Zentimeter lege ich wert, Männer sind bei Zentimeterangaben bekanntlich sensibel) so gerade eben dran, für die japanische Kundschaft dürfte die Ware unerreicht bleiben. Denn Personal, das mit einer Leiter aushelfen könnte, ist in diesem Bereich des Ladens selten anzutreffen. Das überrascht, weil in jeder noch so kleinen Boutique in Tokio sich immer mindestens zwei Verkäuferinnen oder Verkäufer mehr die Beine in den Bauch stehen, als eigentlich nötig wäre.
Überhaupt mag man bezweifeln, dass Arbeitskräfte in Japan immer effizient eingesetzt werden. Ich erinnere mich an eine Joggingrunde durch ein Wohnviertel an einem frühen Sonntagmorgen. Ich kam in einer verlassenen, autofreien Gasse an eine Baustelle, die sauber eingezäunt und menschenleer war. Nichtsdestotrotz sorgten zwei warnbewestete Rentner, mit Leuchtstäben ausgreifend fuchtelnd und freundlich lächelnd, an Anfang und Ende der Baustelle dafür, dass ich diese unfallfrei passierte. Man munkelt, dass die zahlreichen Rentner in diesen Funktionen – es sind immer Männer – aus zwei Gründen im ganzen Land an Baustellen und Ein- und Ausfahrten den Verkehr regeln: Zum einen gehen Japaner typischerweise nolens volens recht früh, nämlich so um die 60 in Rente und müssen dann oft dazuverdienen, um bis ins landestypisch hohe Alter über die Runden zu kommen. Zum anderen soll so manche Frau ihren pensionierten Gatten regelmäßig aus dem Haus jagen, so wie sie ihn auch in all den Jahren davor am liebsten aus den Füßen hatte. Bezeichnenderweise haben mir verschiedene Japanerinnen erzählt, dass für viele ihrer Landsfrauen ein Traummann nach wie vor einer sei, der viel verdiene und wenig zu Hause sei. Bizarr.
Wie dem auch sei: Die Sorge, dass die Überalterung der japanischen Gesellschaft zu Arbeitskräftemangel führen könnte, scheint mir überzogen. Es dürfte jede Menge Verkehrseinweiser und Verkaufspersonal geben, die in anderen Funktionen ähnlich segensreich, aber effizienter wirken könnten.
Aber zurück zu Tsutaya: Es gibt einen Raum, der überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich japanischer Musik gewidmet ist. CDs, Sachbücher, Bildbände, Vinyl, alles hübsch präsentiert wie in Schöner Wohnen. Skurril ist allerdings, dass dort Vinyl in vereinzelten schmalen, seitwärts offenen Kisten in weitgehend unsystematischen Zusammenstellungen präsentiert wird. Man sieht nur die schmale Seite der Platten, kann im funzeligen Licht die Beschriftung nicht entziffern und muss den gesamten Stapel herausziehen, um das Angebot einigermaßen sichten zu können. Hier gilt ganz klar: Function follows form. Das gilt übrigens noch mehr bei Bonjour Records, einem kleinen Laden gleich um die Ecke von Tsutaya. Dort werden in gleichem Maße zeitgeistige Klamotten, Bücher, Zeitschriften, Bohnengetränke und Platten angeboten, die eher nach ästhetischen Kriterien ausgesucht und auch sortiert zu sein scheinen. Hier wird eher der lifestylige Hipster-Vinylist fündig als der passionierte Musikologe. Und doch konnte ich in den Grabbelkisten, die selbstredend gar nicht nach Grabbelkiste aussehen, schon ein, zwei Trouvaillen ausmachen.
Und auch bei Tsutaya habe ich schon so manchen Kauf getätigt, wenn auch bevorzugt Bücher, unter anderem dieses Buch über Obscure Sounds, das mir der oben gepriesene Thomas empfohlen hatte. Und das obwohl keiner von uns der japanischen Sprache hinreichend mächtig ist, um seinen Inhalt zu durchdringen. Oder diesen Katalog zu maßgeblichen City-Pop-Alben. Da Japaner „si“ und „ci“ stets wie Ski (also „schi“) aussprechen, wird das Genre hier faktisch als Shitty Pop bezeichnet. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Dem City Pop, der seine Hochzeit in den späten 70er und den 80er Jahren erlebte, bin ich hoffnungslos verfallen. Im schlimmsten Fall klingt Musik des Genres wie ein Love-Boat-Soundtrack. In den weitaus zahlreicheren Fällen ist die Musik ein beglückendes Amalgam aus heiterem, mitunter funkigem Feel-good-Pop, simplen und eingängigen Texten mit japanischen und englischsprachigen Bestandteilen, schmissigen Bläsersätzen und einem Optimismus, wie er die japanische Gesellschaft in den Boomzeiten der sogenannten Showa-Ära prägte. Wer wenig Zeit, aber den Wunsch hat, in das Genre einmal hinein zu lauschen, möge sich den Klassikern „Plastic Love“ von Mariya Takeuchi, „Stay with me“ von der viel zu früh verstorbenen Miki Matsubara und „Cat‘s Eye“ von Anri hingeben. Wer darüber nicht ekstatisch wird, lasse bitte sicherheitshalber seine Vitalfunktionen überprüfen.
Das Angebot an City Pop, auch auf Vinyl, ist hier paradiesisch groß, in Deutschland allerdings überschaubar. Bei Michelle bekommt ihr jedenfalls die tollen Pacific-Breeze-Sampler aus dem Hause Light in the Attic. Die sind allemal eine gute Einsteigerdroge.
--
rock 'n' roll..., deal with it!
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Auch an dieser Stelle noch einmal: Ganz toll, vielen Dank für die Mühe!
Beim großen TSUTAYA in Shibuya habe ich mir vor drei Jahren mal einige DVDs ausgeborgt und dann mit einer japanischen Freundin in einer Karaokebar ein Zimmer mit DVD-Player gemietet und bis zum ersten Zug am nächsten Tag eine lange Filmnacht mit reingeschmuggelten Snacks veranstaltet. Ach, einmal wieder jung sein…
--
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Danke @peterjoshua
--
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
napoleon-dynamite
Bei Gelegenheit würde ich auch gerne was beisteuernKönnte es demnächst soweit sein?
--
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
@ianage: du vielleicht wieder jemanden in petto? Würde gerne mal wieder was von dir lesen!
--
grievousangel@ianage: du vielleicht wieder jemanden in petto? Würde gerne mal wieder was von dir lesen!
Hey, ja, ich kann hier vielleicht auch mal was zu Hosono schreiben, der ist in den letzten Monaten ganz intensiv in meiner Playlist. Du kannst ja vielleicht mal Yano besternen, hatte hier vor einiger Zeit einen Thread eröffnet.
--
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Neues aus Japan! Necry Talkie haben eine neue Single namens FUZAKETENAIZE.
Indiepoprock.
--
Hier ein weiterer Bericht zu einem Plattenladen in Tokio, den ich auf meiner Facebook-Seite gepostet habe:
„Haben Sie die Platte auch in XL?“. Das hätte ich den smarten Verkäufer bei Ginza Records in, aufgemerkt: Yurakuchō (und eben nicht Ginza, das wäre zu einfach) beinahe gefragt. Denn Ginza Records liegt im siebten Stock des Herrenkaufhauses Hankyū. Und zu Hankyū ist Folgendes zu sagen:
So manch deutscher Mann pflegt ja ein eher pragmatisches Verhältnis zu seinem Äußeren. Über Jahrzehnte hinweg wird die gleiche, mitunter gar selbe Jeans getragen. Die Allwettertauglichkeit einer Jacke fällt mehr ins Gewicht als ihr Schnitt (und darf gerne durch eine Bärentatze versinnbildlicht sein). Dreiviertelhosen stellen den idealtypischen Kompromiss zwischen warm und kühl, Sommer und Herbst, ästhetischer Gleichgültigkeit und Desinteresse am eigenen Erscheinungsbild dar. Und der Satz „Ich brauche nichts!“ kommt beim Shoppen mit der Gattin ähnlich häufig zur Anwendung wie „Hast du so einen Pullover nicht schon, halt nur in Blau?“ oder „Ich warte da hinten in dem Sessel auf dich“.
Dem japanischen Mann ist sein Erscheinungsbild derart wichtig, dass man ihm ganze Bekleidungskaufhäuser eingerichtet hat, während in Deutschland die Herrenabteilung ja gerne auf einem oberen Stockwerk verborgen ist. Bei Hankyū gibt es auf acht Etagen von der superteuren Designermarke bis zur teuren Designermarke alles, was dem modernen Mann Chique und Anmut (vulgo: C&A) verleiht. Auch ich habe mich ein ums andere Mal vom Basement bis in die siebte Etage hochgearbeitet, wobei das Preisgefälle umgekehrt verläuft: Unten unbezahlbar in absurden Ausmaßen, oben nur noch unbezahlbar.
Nun schont Hankyū den Geldbeutel des Gaijin-Mannes auf eher indirekte Art und Weise: Es gibt in meiner Größe schlicht nichts. Mittlerweile frage ich oft aus Daffke, ob man ein – typischerweise runtergesetztes und also budgetgerechteres – Kleidungsstück auch in einer größeren Größe habe. So sicher wie kollektive Hustenanfälle in der Elbphilharmonie ist dabei die Reaktion des Verkaufspersonals: Es wird aufwändig im Computer nachgeschaut, um dann mit ernsthaftem Bedauern mitzuteilen, dass man das Stück nur in L habe (was mit gutem Willen und sehr eingezogenem Bauch unserem M entspricht). Ehe ich nun meinerseits Bedauern äußern kann, ist der Herr oder die Dame bereits in einem Kabuff verschwunden, um das Exemplar in L zu holen und mich sodann in eben jenes hinein zu komplementieren. Ich fühle mich wie eine Marionette der Augsburger Puppenkiste, die ihre Extremitäten nur ruckartig und vollständig ausgestreckt bewegen kann, und wünsche mich in einen dieser übergroßen Kastenanzüge, in denen Horst Seehofer so einzigartig versinkt.
Derart ernüchtert erreiche ich dann irgendwann Ginza Records, wo ich mich für die Schmach, zu groß, zu unförmig, zu klobig, zu ausländisch zu sein, mit dem ein oder anderen Impulskauf entschädige. Und da rutscht mir nach all der ermüdenden Fragerei in den unteren Stockwerken eben mitunter beinahe ein „大きなサイズもありますか。“ raus, von dem ich hoffe, dass es heißt: „Haben Sie auch große Größen?“
Tatsächlich hat Ginza Records so einiges in XL, nämlich Preise. Es wird hier ausschließlich Gebrauchtware verkauft, übersichtlich sortiert, verständig ausgewählt und ansprechend dargeboten. Und eben zu Preisen, die einem die Schuhe ausziehen – die es übrigens in Japan in der Regel und mit Ausnahme von Turnschuhen selbst im Online-Handel nur bis zur japanischen Größe 27 gibt, die irgendwo zwischen unseren Größen 42 und 43 liegt. Ob nun die Ware wirklich derart rar oder hochwertig oder gut erhalten ist, dass ein Preisaufschlag von mitunter einigen hundert Prozent gegenüber dem Angebot in anderen hiesigen Läden gerechtfertigt ist, kann ich nicht beurteilen. Dazu müsste ich bei jedem Exemplar mühsam Discogs bemühen, und dafür bin ich zu faul und zu analog und wahrscheinlich auch zu klobig. (Bei Michelle Records in Hamburg wird die Gebrauchtware natürlich sorgfältig taxiert und zu überaus fairen Preisen angeboten, aber das wisst Ihr ja.)
Ich nehme an, dass der nette Betreiber von Ginza Records, mit dem man sich wunderbar in manierlichem Englisch unterhalten kann und dem ich schon ein ums andere Mal erzählen durfte, seit wann ich in Tokio lebe und wie lange ich zu bleiben gedenke, ähnlich grundanständig ist wie alle anderen Einheimischen – wenn man mal von den Yakuza absieht, die hier allerdings nicht wirklich sichtbar sind und komischerweise gar nicht Yakuza, sondern sinnigerweise Bōryokudan, also etwa: Gewaltvereinigung genannt werden. Deshalb kaufe ich Mr Ginza Records immer etwas ab, zumal er mein Herz schon in meinen ersten Wochen in Tokio im Sturm eroberte, als er mir ausgezeichnete City-Pop-Platten ans Herz legte, die mein neues Heim sodann wochenlang aufs Erquicklichste beschallten.
Zur Belohnung für meine Kauflust werde ich im Laden allein gelassen, weil Kartenzahlungen irgendwo in den Tiefen des Hankyū-Kaufhauses vorbereitet werden müssen. Dass in Abwesenheit des Personals Ware entwendet wird, ist nicht vorstellbar. Hier reserviert man sich einen Tisch im Starbucks bekanntlich durch Deponierung von Smartphone oder Portemonnaie, ehe man an der Kasse bestellt; Fahrräder werden quasi nie geklaut, sondern allenfalls von übereifrigen Polizisten aus illegalen Parkpositionen entfernt, von denen es freilich sehr viele gibt; selbst Bargeld wird im Fundbüro abgegeben.
Die Lauschware darf ich dann in einer hochwertigen Papiertüte davontragen, die derart solide kartoniert ist, dass der Griff schmerzhaft in die Finger schneidet. Aber man sieht damit natürlich sehr elegant aus. Und ich ziehe blutige Finger in jedem Fall Kleidung vor, die nach einer amerikanischen Präsidentenresidenz benannt und, wie ich vermute, dazu angetan ist, durch ihre erratische Beflockung zur Erblindung des Betrachters und der Betrachterin schon sowieso zu führen. Das Zeug gibt es hier Gott sei Dank nicht, nicht mal in kleinen Größen.
zuletzt geändert von peterjoshua--
rock 'n' roll..., deal with it!
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
--
-
Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.