Musikbewertung und Diskussionskultur

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  • #9598251  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,862

    captain kiddDas ist aber ganz gewiss nicht meine Definition von Kunst. Manchmal erträumt man ja auch Songs.

    Aber für wen wäre das dann Kunst? Nur für den Träumenden? Und was hat er davon, wenn er das als Kunst bezeichnet?

    Und: Eine Blume ist für mich mehr Kunst, als die gesamte Sleater-Kinney-Diskografie.

    Jede Blume oder nur eine Blume, die auch jemand wahrnimmt? Die Blume für sich oder nur zusammen mit einem (passenden) Kontext?

    Das sind keine rhetorischen Fragen, aber ich kann nicht greifen, wo für Dich die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst verläuft.

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    #9598253  | PERMALINK

    choosefruit
    low fidelity

    Registriert seit: 23.05.2015

    Beiträge: 5,978

    Die aktuelle Wendung in dieser Diskussion erinnert mich an die Frage, ob ein umfallander Baum in einem Wald ein Geräusch erzeugt, auch wenn niemand in der Nähe ist, der es hören könnte.

    Wenn ich einen Song schreibe, ihn aber noch keinem vorspielte, dann habe ich mich dennoch der Kunst des Musizierens bedient, unabhängig davon, dass dieser Song noch nicht veröffentlicht wurde. Die Rezeption der anderen legt lediglich fest, wie bedeutsam meine Kunst (mein Song) ist.

    Das Schreiben eines Liedes ist eine Auseinandersetzung mit Kunst und ein künstlerischer Prozess, welcher nicht durch den Umstand, dass dieses Lied noch keiner hörte, relativiert wird.

    --

    #9598255  | PERMALINK

    wenzel

    Registriert seit: 25.01.2008

    Beiträge: 5,616

    nail75Das ist nicht richtig. Wenn die Bilder tatsächlich identisch sind, dann sind beide natürlich Kunst.

    Wenn sie nicht identisch sind, ist das zweite auf dem Dachboden solange keine Kunst, bis es jemand anders als du zu Gesicht bekommt.

    Quatsch. Es könnte auch in beiden Fällen keine Kunst sein.

    --

    #9598257  | PERMALINK

    go1
    Gang of One

    Registriert seit: 03.11.2004

    Beiträge: 5,625

    nail75Wenn er Musik macht, die niemand sonst hört, ist es keine Kunst. Wenn er Musik notiert und dadurch anderen die Möglichkeit der Rezeption gibt, ist es Kunst.

    Ich kann in dieser Bestimmung (Wenn jemand für sich allein spielt, ist das Musik, aber keine Kunst; zur Kunst wird Musik erst, wenn sie für andere existiert) nur eine definitorische Setzung erkennen. Man kann Kunst so definieren, aber warum sollte man das tun?

    Wie gesagt, zur Kunst als Institution gehören sowohl Rezeption als auch Produktion, aber das ist ja noch kein Grund, einem Werk, das niemand zu Gesicht bekommen hat, den Kunstcharakter abzusprechen.

    nail75Nehmen wir an, jemand behauptet dir gegenüber, er habe ein Werk geschaffen, das mit den größten Musikern der Welt mithalten kann, aber da er es niemanden präsentiert habe, kenne es niemand. Du forderst ihn natürlich heraus und sagt: „Dann lass doch mal hören!“

    Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: der Musiker geht darauf ein – dann beginnt die Rezeption und die Kunst existiert. Oder er verweigert sich und damit existiert die Kunst nicht. Ob sie tatsächlich nicht existiert oder ob er wirklich Musik geschaffen hat, ist in diesem Augenblick irrelevant, kann aber ggf. zu einem späteren Zeitpunkt eine Rolle spielen.

    Hier gehen zwei Arten von Aussagen durcheinander: Aussagen über das, was ist (das Werk existiert/ existiert nicht), und Aussagen über das, was wir wissen können. Die Existenz des Werks ist aber unabhängig davon, ob wir es jemals zu hören oder zu lesen kriegen, also von seiner Existenz wissen.

    Wenzeldie Kultur, die das Kunstverständnis definiert, besteht wiederum aus Rezipienten…

    Die in diesem Kulturkreis erarbeiteten Fähigkeiten und Kenntnisse sind jetzt aber verkörpert im Hirn und den Händen eines Künstlers, der sie auch dann einsetzen kann, wenn das einzige Publikum dafür nur in seiner Vorstellung existiert.

    choosefruitDie aktuelle Wendung in dieser Diskussion erinnert mich an die Frage, ob ein umfallender Baum in einem Wald ein Geräusch erzeugt, auch wenn niemand in der Nähe ist, der es hören könnte.

    Wenn ich einen Song schreibe, ihn aber noch keinem vorspielte, dann habe ich mich dennoch der Kunst des Musizierens bedient, unabhängig davon, dass dieser Song noch nicht veröffentlicht wurde. Die Rezeption der anderen legt lediglich fest, wie bedeutsam meine Kunst (mein Song) ist.

    So sehe ich das auch. Die Mittel, mit denen der Songschreiber arbeitet (die tonale Musik, die Songform usw.) sind kollektiv erzeugt; der Künstler eignet sich die zu seiner Kunst gehörenden Fähigkeiten und Kenntnisse an und setzt sie schöpferisch ein, um etwas zu schaffen, was ihm schön vorkommt. Mir würde das schon reichen, um dem Geschaffenen Kunstcharakter zuzusprechen (ohne die Bedeutung der Rezeption kleinreden zu wollen).

    --

    To Hell with Poverty
    #9598259  | PERMALINK

    wenzel

    Registriert seit: 25.01.2008

    Beiträge: 5,616

    Go1

    Die in diesem Kulturkreis erarbeiteten Fähigkeiten und Kenntnisse sind jetzt aber verkörpert im Hirn und den Händen eines Künstlers, der sie auch dann einsetzen kann, wenn das einzige Publikum dafür nur in seiner Vorstellung existiert.

    .

    womit wir wieder beim Thema „Kanonisierung“ wären. Abgesehen davon, würdest Du zwischen den Begriffen „Kunst“ und „Kunsthandwerk“ oder „Kunstgewerbe“ unterscheiden ? Wohnt der „Kunst“ nicht auch immer sowas wie „Originalität“ inne ?

    --

    #9598261  | PERMALINK

    daniel_belsazar

    Registriert seit: 19.04.2006

    Beiträge: 1,253

    Der Solipsismus stirbt offenkundig nicht aus, obwohl er weiterhin grundverkehrt ist.

    Jedes Individuum der Gattung Mensch ist ein soziales Konstrukt, und damit auch notwendigerweise jede Äußerung, jeder Ausdruck, der über unmittelbare instinktive Empfindungen und Handlungen hinaus geht – dies gilt für „Kunst“, wie auch immer sie definiert sein sollte, sogar in besonders offensichtlicher Weise.

    Die Fähigkeit, mit der dies passiert, die oft „Geist“ genannt wird, ist unmittelbar konstituiert und untrennbar verbunden mit Sprache. Sprache als leitende Institution des sozialen Konstrukts wiederum ist als Bedingung ihrere Möglichkeit dialogisch angelegt, d.h. jede sprachliche („geistige“) Äußerung ist prinzipiell notwenigerweise auf einen Empfänger, einen anderen gerichtet, der sich im gleichen System bewegen und reagieren kann. [Es gibt keine Privatsprache => Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen]. Dazu gehören selbstredend auch musikalische oder bildende Künste, sie bilden spezifische Sprach- oder (synonym verstanden) Geistsysteme.

    Der scheinbar isolierte Mensch in welchem Gedankenexperiment auch immer (Robinson, einsamer Gitarrist, Einsiedler etc) ist immer schon sozialisierter Mensch. Jede geistige Äußerung dieses Individuums ist – auch wenn er alleine ist -potenziell notwendigerweise auf einen anderen gerichtet, auch wenn niemand das jemals zu Gesicht oder Gehör bekommt. Insofern kann das durchaus ein Kunstwerk sein – es ist aber prinzipiell immer schon sozial, weil dies unabdingbare Vorausetzung zu seiner Erschaffung als geistige Leistung ist.

    --

    The only truth is music.
    #9598263  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,862

    choosefruitDie aktuelle Wendung in dieser Diskussion erinnert mich an die Frage, ob ein umfallander Baum in einem Wald ein Geräusch erzeugt, auch wenn niemand in der Nähe ist, der es hören könnte.

    Das ist auch eine ähnliche Fragestellung. Analog zu dem, was Herr Rossi oben über Amerika schrieb, entsteht natütlich auch Schall, wenn niemand in der Nähe ist. Ein Geräusch aber erst durch einen Zuhörer (also jemanden mit Ohren).

    Wenn ich einen Song schreibe, ihn aber noch keinem vorspielte, dann habe ich mich dennoch der Kunst des Musizierens bedient, unabhängig davon, dass dieser Song noch nicht veröffentlicht wurde.

    Du hast Dich da zunächst dem musikalischen Handwerk bedient, um aus einer Idee ein Stück zu machen. Genau wie es sich bei Bach’s „Kunst der Fuge“ um die Technik bei der Komposition dreht („kunstvoll“) und nicht um den individuellen Ausdruck („künstlerisch“).

    Die Rezeption der anderen legt lediglich fest, wie bedeutsam meine Kunst (mein Song) ist.

    Da muss man m.E. die Tatsache der Rezeption (, die festlegt ob etwas Kunst ist) vom Inhalt der Rezeption (, die eine Aussage zur Qualität trifft) unterscheiden.

    Das Schreiben eines Liedes ist eine Auseinandersetzung mit Kunst und ein künstlerischer Prozess, welcher nicht durch den Umstand, dass dieses Lied noch keiner hörte, relativiert wird.

    Klar. Aber das Endprodukt ist, solange es den Übungsraum nicht verlassen hat, ausschließlich ein musikalisches Werk, das durch bestimmte Eigenschaften der Gattung „Lied“ zugeordnet werden kann, aber noch kein Kunstwerk.

    --

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    #9598265  | PERMALINK

    latho
    No pretty face

    Registriert seit: 04.05.2003

    Beiträge: 36,930

    Herr RossiIch habe eine schlechte Nachricht für Dich: „Amerika“ ist ein Konstrukt.

    Natürlich gab es diese Landmasse, die wir heute Amerika nennen schon, bevor es Menschen gab. Aber welche Landmasse einen Kontinent bildet und was diesen Kontinent auszeichnet, das haben Menschen definiert. Stell Dir zwei American Natives (nach modernem Verständnis) im Jahr 1492 vor: Der eine lebte im heutigen Alaska, der andere im heutigen Chile. Selbst wenn die beiden überhaupt von einander gewusst hätten, hätten sie gesagt „Wir sind Amerikaner“ oder „Wir leben in Amerika“? Selbstverständlich nicht. Sie hatten ganz sicher völlig andere Vorstellungen von der Welt als wir. Amerika haben die Europäer tatsächlich entdeckt, erforscht, beschrieben, kategorisiert – und letztlich erfunden. Unser Begriff „Amerika“ und alles, was wir damit verbinden, wurde ursprünglich aus europäischer Sicht geprägt.
    […]

    Da fällt mir die Geschichte ein, die ich bei Fleming gelesen habe: Im 19 Jhd. existierte in Westgrönland ein Eskimo-Stamm, der lange von anderen Gruppen getrennt war, so dass er sich als einzige Menschen auf der Welt (ihr Jagdrevier in Westgrönland) und als Herrscher der Welt sah. Gefunden wurde er von einer britischen Expedition, die der Meinung war, dass der weitere Weg zum Nordpol ein paar Kilometer weiter nordwärts ganz leicht mit dem Schiff zu bewältigen war.

    --

    If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.
    #9598267  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

    Beiträge: 6,129

    Daniel_BelsazarDer Solipsismus stirbt offenkundig nicht aus, obwohl er weiterhin grundverkehrt ist.

    Jedes Individuum der Gattung Mensch ist ein soziales Konstrukt, und damit auch notwendigerweise jede Äußerung, jeder Ausdruck, der über unmittelbare instinktive Empfindungen und Handlungen hinaus geht – dies gilt für „Kunst“, wie auch immer sie definiert sein sollte, sogar in besonders offensichtlicher Weise.

    Die Fähigkeit, mit der dies passiert, die oft „Geist“ genannt wird, ist unmittelbar konstituiert und untrennbar verbunden mit Sprache. Sprache als leitende Institution des sozialen Konstrukts wiederum ist als Bedingung ihrere Möglichkeit dialogisch angelegt, d.h. jede sprachliche („geistige“) Äußerung ist prinzipiell notwenigerweise auf einen Empfänger, einen anderen gerichtet, der sich im gleichen System bewegen und reagieren kann. [Es gibt keine Privatsprache => Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen]. Dazu gehören selbstredend auch musikalische oder bildende Künste, sie bilden spezifische Sprach- oder (synonym verstanden) Geistsysteme.

    Der scheinbar isolierte Mensch in welchem Gedankenexperiment auch immer (Robinson, einsamer Gitarrist, Einsiedler etc) ist immer schon sozialisierter Mensch. Jede geistige Äußerung dieses Individuums ist – auch wenn er alleine ist -potenziell notwendigerweise auf einen anderen gerichtet, auch wenn niemand das jemals zu Gesicht oder Gehör bekommt. Insofern kann das durchaus ein Kunstwerk sein – es ist aber prinzipiell immer schon sozial, weil dies unabdingbare Vorausetzung zu seiner Erschaffung als geistige Leistung ist.

    Klasse, bislang der für mich überzeugendste Beitrag. Der Captain schied vorhin verärgert aus, nachdem er der Kritik am Solipsismus vorwarf, sie sei zu „soziologisch“. Ich würde gerne den Begriff der Kommunikation ins Spiel bringen. Kunst ist prinzipiell vermittelnd angelegt, im Sinne der Übertragung, oder sogar aber – du hast dies ja genannt – im Sinne von Dialogizität.
    Wer hier mitliest, merkt ja an allen Ecken und Enden, dass dieses „Kunst“-Ding hochkomplex ist. Der Künstler z.B. vermittelt ja auch nichts aus dem luftleeren Raum heraus – sein „Werk“ kann auch immer als Reaktion (=Antwort) auf künstlerische Entwicklungen/Traditionen verstanden werden.
    Und dann noch der Aspekt der Interpretation: Nicht jeder Künstler ist ja im puristischen Sinne originär schaffend – macht Choosefruit Kunst, ist er also selbst „Künstler“, wenn er „A day in the life“ auf der Gitarre nachspielt (und keiner außer ihm hört zu…)?

    Nicht_vom_ForumDas ist auch eine ähnliche Fragestellung. Analog zu dem, was Herr Rossi oben über Amerika schrieb, entsteht natütlich auch Schall, wenn niemand in der Nähe ist. Ein Geräusch aber erst durch einen Zuhörer (also jemanden mit Ohren).

    Es entsteht bei mir dann allerdings folgende Frage: Ist das, was Choosefruit im stillen Kämmerlein auf seiner Gitarre zupft, überhaupt Musik? Oder wird das auch erst zu Musik, wenn jemand zuhört?
    Wenn es Musik sein sollte, wäre es dann nicht auch Kunst in dem Sinne, dass Choosefruit sich hier „antwortend“ auf die künstlerische Tradition des Songs bezieht (und das, egal ob jemand dem lauscht). Steht sein Geist hier nicht in Verbindung mit dem, was zuvor „kultur-soziologisch“ in den Bereich der „Kunst“ verortet wurde? Auch er ist und bleibt schließlich – selbst im Zustand des Alleinseins (!) – immer ein soziales Wesen, und er ist in gewissem Sinn hier auch sein eigener Rezipient, der Schall bleibt nicht ungehört…

    Was eine Definition von Kunst so schwierig, ja praktisch unmöglich macht: Diese entzieht sich einer solchen immer wieder auf quasi vorsätzliche Weise. Ich weiß nicht, ob es so viele „Dinge“ gibt, die genau das tun. Hier im Forum lese ich deswegen lieber Postings, die nicht so auf diesem „Kunst“-Ding rumreiten. Ich lese lieber konkrete Hinweise auf musikalische Qualitäten – oder auch im Sinne des Captain: die Infragestellung dessen, dass es solche Qualitäten gibt.

    --

    #9598269  | PERMALINK

    krautathaus

    Registriert seit: 18.09.2004

    Beiträge: 25,888

    Elmo ZillerOder um es anders zu sagen: Kunst ist es scheißegal, ob sie dir gefällt. Oder einen Stellenwert für dich hat. Und um aktuelle Kunst zu finden muss man auf die Suche gehen. Nicht in der Vergangenheit, sondern im Jetzt. Und da wir nahezu unendlich viel(e) Musik(richtungen) zur Verfügung haben, muss man in der Breite suchen, muss man auch mal dahin gehen, wo es weh tut, raus aus der persönlichen Komfortzone. Nicht umsonst finden hier die Leute Kunst in der aktuellen Musik, die ein breites Hörspektrum haben. Diejenigen, die Kunst in Matana Roberts oder Scott Walker finden, können lustigerweise auch Aufsätze über Taylor Swift oder Miley Cyrus schreiben – und finden da vermutlich auch Kunst. Wenn man aber immer nur rückwärts denkt und die Scheuklappen schön feste zuschnallt, dann findet man heute natürlich auch nix mehr, was noch nicht abgegrast wurde. Nur sollte man dann besser den Begriff „Kunst“ nicht in den Mund nehmen und sich aufs „Gefallen“ beschränken, da fragt dann auch keiner nach…

    Das ist das beste, ws ich hier zur Rezeption von Kunst gelesen habe.

    --

    “It's much harder to be a liberal than a conservative. Why? Because it is easier to give someone the finger than a helping hand.” — Mike Royko
    #9598271  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,862

    grünschnabel
    Und dann noch der Aspekt der Interpretation: Nicht jeder Künstler ist ja im puristischen Sinne originär schaffend – macht Choosefruit Kunst, ist er also selbst „Künstler“, wenn er „A day in the life“ auf der Gitarre nachspielt (und keiner außer ihm hört zu…)?

    Er ist dann zumindest Musiker. Aber ich würde das Musiker-aber-nicht-Künstler-sein -im Widerspruch zu Deiner Aussage, dass nicht jeder Künstler originär schaffend ist- sogar noch ausdehnen: Zum Beispiel auf den Teil der Orchester- und Studiomusiker, die ohne Freiheit zur Interpretation nur umsetzen, was jemand anderes vorgibt.

    Es entsteht bei mir dann allerdings folgende Frage: Ist das, was Choosefruit im stillen Kämmerlein auf seiner Gitarre zupft, überhaupt Musik? Oder wird das auch erst zu Musik, wenn jemand zuhört?
    Wenn es Musik sein sollte, wäre es dann nicht auch Kunst in dem Sinne, dass Choosefruit sich hier „antwortend“ auf die künstlerische Tradition des Songs bezieht (und das, egal ob jemand dem lauscht). Steht sein Geist hier nicht in Verbindung mit dem, was zuvor „kultur-soziologisch“ in den Bereich der „Kunst“ verortet wurde? Auch er ist und bleibt schließlich – selbst im Zustand des Alleinseins (!) – immer ein soziales Wesen, und er ist in gewissem Sinn hier auch sein eigener Rezipient, der Schall bleibt nicht ungehört…

    Das wäre dann meiner Meinung nach zwar klar Musik -und auch ggf. Vorarbeit für ein Kunstwerk- biebe aber „keine Kunst“, weil es sich dem Dialog verweigert. Das Ziel dieses Gitarrespielens ist dann ja auch nicht Dialog sondern z. B. Beherrschung des Instruments oder besseres Verständnis von Musiktheorie, eines Stücks oder von Interpretationen eines Stücks.

    --

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    #9598273  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 5,862

    grünschnabel Hier im Forum lese ich deswegen lieber Postings, die nicht so auf diesem „Kunst“-Ding rumreiten. Ich lese lieber konkrete Hinweise auf musikalische Qualitäten – oder auch im Sinne des Captain: die Infragestellung dessen, dass es solche Qualitäten gibt.

    Genau diese Unterscheidung ist doch der Knackpunkt: Die musikalischen Qualitäten eines Stückes sind, wie choosefruit ja oben am Beispiel Beatles vs. Ramones gezeigt hat, bestimmbar und die Stücke sogar in formal „besser/schlechter“ klassifizierbar[0]. Das hat aber nichts mit den künstlerischen Qualitäten dieser Stücke zu tun und ist manchmal sogar entgegengesetzt.

    [0]Natürlich gibt es auch Bereiche, in denen das nicht ganz einfach ist; z. B., wenn jemand den Musikbegriff der Zeit erweitert, wie Beethoven oder Schönberg für komponierte Musik oder bei freier Improvisation.

    --

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    #9598275  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    choosefruitGut, dann mag ich nun ein paar Zeilen dazu schreiben, was ich unter musikalischer Kunst verstehe. Als Beispiel für meine Argumentation nehme ich die schon angesprochenen „A Day In The Life“ von The Beatles und „I Wanna Be Sedated“ von den Ramones. (…)

    Danke, damit lässt sich dann zumindest nachvollziehen, warum du einen Song lieber als den anderen magst. Ich würde das allerdings nicht „künstlerischer“ nennen, aber gut…
    Was allerdings, wenn wir ein letztes Mal beim Begriff „Kunst“ bleiben, fehlt, ist, wie Rossi schon sagte, der zeitliche Kontext. Grade die populäre Musik besteht ja aus einer schier endlosen Zahl an Bewegungen, Gegenbewegungen, Reaktionen, Verschmelzung, Trennung etc, und in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext ist dann auch jeweils andere Musik Kunst. Ist „A Day in the Life“ 1967 Kunst, so ist ein ähnlicher und neu geschriebener Song heutzutage eben nur ein Song, der sich an einem 48 Jahre alten Vorbild orientiert, mag er auch handwerklich gut ausgeführt sein. Das Stück mag dann vielen Gefallen, ist aber keine Kunst. Der Track wird nie eine popmusikalische oder kulturelle Relevanz entwickeln können. Und wenn du heute eine große gotische Kirche mit zwei Türmen baust, dann ist das möglicherweise eine handwerkliche und logistische Leistung, kunsthistorisch gesehen aber bedeutungslos, es wird keinen neuen bedeutenden gotischen Kirchbau mehr geben. Die Frage ist eher: Was ist die Elbphilharmonie, Kunst oder Klotz?

    --

    #9598277  | PERMALINK

    johnny-spazzy

    Registriert seit: 23.07.2014

    Beiträge: 820

    Als aufmerksamer Leser dieses Threads möchte ich mich nur ungern in laufende Diskussionen einmischen, aber da weite Teile des Forums entweder brachliegen und/oder sich in autistischer Vermeidung von Anschlusskommunikation erschöpfen – „Meine neueste LP“, „Was mich heute ärgert, morgen freut“, „Bryan Adams ist jetzt cool, weil ihn Jeff Lynne produziert“, „Die persönlichen Befindlichkeiten des Mario G.“, „Ringo“ (im Jahre 2015!) -, nun gut.

    Die hiesige Kunstdiskussion ist leidig und müßig. Zumal dann, wenn man sie anhand von Beispielen wie „A Day In The Life“ und „I Wanna Be Sedated“ engführen zu müssen meint. Ersterer Track ist selbstredend ein spätes Highlight im Beatles-Repertoire und für mich gar das alleinige auf einer sehr mäßigen LP, ich bin mir allerdings sicher, dass das „Kunstvolle“ daran auch einem produktionstechnischen „Trick“ George Martins zu verdanken ist, der zwei separate und halbe Soloaufnahmen mittels (durchsichtiger) Übergänge zu verbinden vermochte. „I Wanna Be Sedated“ hingegen, und das sage ich keineswegs als Ramones-Fanboy und in Kenntnis der Tatsache, dass es zig bessere Aufnahmen der Band gibt, ist von A bis Z so konzipiert worden, wie es auf der Single erklingt. Simpel? Ja, vermeintlich. Aber auch unmittelbar in der Wirkung, auf Herz und Nieren zielend.

    Während die Rezeption des Beatles-Tracks mittlerweile Bibliotheken füllt, erschließt sich mir der Ramones-Track binnen seiner Spieldauer. Ein Indiz für „Kunst“ ist sicherlich, dass zwei Menschen zugleich das selbe betrachten/hören/lesen/schmecken, und dennoch uneins auseinander gehen können, ein anderes jedoch, dass etwas unmittelbar wirkt, einen erfasst und erbeben lässt.

    Wenn man beide „Begriffe“ annimmt und nicht stetig gegen einander ausspielt, hat man mehr vom Leben, und von der „Kunst“. Und man erspart sich endlose Wiederholungen der Schulhofdiskussionen aus den späten Sechzigern.

    --

    #9598279  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 44,725

    Go1
    Hier gehen zwei Arten von Aussagen durcheinander: Aussagen über das, was ist (das Werk existiert/ existiert nicht), und Aussagen über das, was wir wissen können. Die Existenz des Werks ist aber unabhängig davon, ob wir es jemals zu hören oder zu lesen kriegen, also von seiner Existenz wissen.

    Die Existenz vielleicht schon, aber nicht sein Kunstcharakter.

    grünschnabel
    Es entsteht bei mir dann allerdings folgende Frage: Ist das, was Choosefruit im stillen Kämmerlein auf seiner Gitarre zupft, überhaupt Musik? Oder wird das auch erst zu Musik, wenn jemand zuhört?
    Wenn es Musik sein sollte, wäre es dann nicht auch Kunst in dem Sinne, dass Choosefruit sich hier „antwortend“ auf die künstlerische Tradition des Songs bezieht (und das, egal ob jemand dem lauscht). Steht sein Geist hier nicht in Verbindung mit dem, was zuvor „kultur-soziologisch“ in den Bereich der „Kunst“ verortet wurde? Auch er ist und bleibt schließlich – selbst im Zustand des Alleinseins (!) – immer ein soziales Wesen, und er ist in gewissem Sinn hier auch sein eigener Rezipient, der Schall bleibt nicht ungehört…

    Schöner Gedanke :-)

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
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