Re: Pop Crimes: Jan Lustiger denkt laut über Platten nach.

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jan-lustiger

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Marina and the Diamonds – Froot
[2015]



***½

Am 08.08.2013 beging Electra Heart ihren [I]Rock ’n‘ Roll Suicide. Im letzten Clip der Video-Reihe zu ihrem zweiten Album wischt sich Marina Diamandis das Herz von der Backe und begräbt so den titelgebenden Charakter, für den es stand. Nach über einem Jahr als intrigierende Pop-Personifikation ist aus „Welcome to the life of Electra Heart“ wieder „Actually, my name’s Marina“ geworden.

Doch obwohl der Anteil an Electropop auf ihrem nun veröffentlichten dritten Album zurückgefahren wurde und der Sound nicht mehr so offensichtlich mit kontemporären Chart-Produktionen liebäugelt, bedeutet Froot, das Diamandis im Alleingang schrieb und mit David Kosten (Bat for Lashes, Everything Everything) produzierte, kein simples Zurückdrehen der Uhren auf 2010. Diamandis orientiert sich stattdessen wieder neu, und lässt den spielerisch in „Girl Pop“ gepackten Sarkasmus von The Family Jewels ebenso hinter sich wie den subversiven Inszenierungs-Pop Electra Hearts. Das neue Motto: „I’ve put my money where my mouth is / for the first time in my life“.

Sie entledigt sich also genau der Distanz, aus der heraus ihre ersten beiden Alben auf unterschiedliche Weise mit popkulturellen Prinzipien spielten. Im Gegensatz zu Electra Heart, das eine konsequente Fortführung der auf The Family Jewels beschriebenen Welt aus Perspektive einer direkter involvierten Kunstfigur war, ist Froot tatsächlich etwas, was seinem Vorgänger fehldiagnostiziert wurde: Ein Bruch mit vielem, was das Projekt Marina and the Diamonds bisher ausmachte. Doch den Fehler, jetzt mit persönlichen Songs ihre Gefühlswelt zum Gebiet allgemeinen Interesses zu erklären, macht Diamandis nicht. Stattdessen ändert sie ihren Fokus.

Der erste Hinweis auf die Änderung des künstlerischen Ansatzes findet sich am Anfang des Albums. Nicht in Form des ersten Songs Happy an sich, sondern in der Tatsache, eben dass dieser der Opener ist. Waren Are You Satisfied? auf The Family Jewels und Bubblegum Bitch auf Electra Heart noch offensive Ansagen – nahezu Manifeste – für das, was ihnen folgen sollte, ist Happy eine in sich geschlossene Ballade, die noch dazu mit einer anderen Neuheit im Diamonds-Kosmos geschlossen wird: einem Happy End. Doch aus diesem Start zu ziehen, dass Froot sich in die Tradition des Pop-Albums als kontextlose Songsammlung einordnet, wäre der falsche Schluss. Happy ist da, um in Frage gestellt zu werden.

Was selbstverständlich direkt im Anschluss passiert. Dann nämlich gehört Froot, Titeltrack und erste Single (passenderweise mit Happy als B-Seite), das Rampenlicht, und mit ihm Verführung, Vergänglichkeit und Sünde, also die Antithesen zu quasi allem, wofür Happy steht. Beide Songs sind von christlicher Theologie geprägt. Happy handelt von Selbstgenügsamkeit, Geduld und Halt: “I sang a hymn to bring me peace / And then it came, a melody / […] And all the sadness inside me / melted away like I was free”. Die Melodie der gesungenen Hymne (!) kommt nicht aus dem Nichts, sondern aus der Sängerin selbst heraus. Folglich findet sie einen Frieden mit sich selbst, der die Suche nach Glück in der Zwischenmenschlichkeit beendet und stattdessen den neugefundenen Glauben an einen Gott, der als Ursache für die mysteriöse Melodie identifiziert wird, voraussetzt: „I haven’t found the one for me / But I believe in divinity“.

Doch kaum ist dieser Frieden gefunden, tritt mit Froot die Verführung zur Sünde auf den Plan. Rein musikalisch ist dieser Bruch bereits im stampfenden Disco-Beat mit geslapptem Bass und Synthesizern zu spüren, die Tanzfläche wird zum Baum mit der verbotenen Frucht, womit wir auch wieder bei den Lyrics wären. Denn natürlich ist diese die titelgebende Frucht, die ihrem Opfer zuflüstert: „Living La Dolce Vita / Life couldn’t get much sweeter / […] Babe, I love you a lot / I’ll give you all I’ve got / […] I’ve been saving all my summers for you / like froot“. Zeit, dieses Angebot abzuwägen, gibt es keine, denn wo es keinen göttlichen Frieden gibt, gibt es auch kein Jenseits, das materialistische Ende ist absolut: „Leave it too long, I’ll go rot / like an apple you forgot / Birds and worms will come for me / The cycle of life is complete“. Die biblische Metaphorik steht Seite an Seite mit sexuellen Bildern („My body is ready / My branches are heavy“), Diamandis‘ Vocals – mal bedrohlich tief gehaucht, mal Unschuld vortäuschend hoch – versprühen dabei eine Erotik, die dazu ihr Übriges tut.

Die Grundlagen sind damit gelegt. Auch I’m a Ruin kommt auf diesen Konflikt zurück, indem es ihm eine moderne Beziehungskrise als inneres Schlachtfeld zur Verfügung stellt. Die Unschuld liegt dabei in der Love Interest, die Sünde in der Protagonistin, die, hin- und hergerissen zwischen dem Komfort innerhalb und der Freiheit außerhalb einer bürgerlichen Beziehung, schließlich mit dem am stärksten in ihr ausgeprägtem Impuls geht, und ihre große Liebe verlässt.

Perfide ist dabei die Auswegslosigkeit der Situation, wenn man sie im Sinne von Happy lösen möchte: „I’ve been doing things I shouldn’t do / But I don’t wanna say goodbye / But baby, I don’t wanna lie / to you“. Um die Beziehung fortführen und dem Laster entsagen zu können, müsste sie eine Lüge, also im Widerspruch mit einem der zehn Gebote, leben. Der Sieg des Froot-Aspektes ist folglich unvermeidbar. Im Anschluss wirkt Blue wie eine Fortsetzung. Der Bruch ist getan und wird schnell bereut. Von einer Wiedervereinigung ist aber nicht die Rede. Stattdessen soll der Abschied hinausgezögert werden. Im Gegensatz zu I’m a Ruin porträtiert Blue aber nicht die Entscheidung zur Trennung als von Egoismus gezeichnet, sondern macht diesen ganz im Gegenteil zum Liebesmotiv: „No, I don’t love you / No, I don’t care / I just wanne be held / when I’m scared“. Der fröhliche Offbeat und die optimistische Melodie stehen gänzlich im Kontrast zu diesem in seiner Arroganz verletzlichen Geständnis.

Mit Forget geht die Beichte weiter: „I’ve been dancing with the devil / I love that he pretends to care“. Mit dem Vertrauen hat Diamandis zu diesen Zeitpunkt des Albums bereits mehrmals gebrochen, und wenn dieses nichts zählt, ist das bloße Versprechen genauso viel wert. Forget ist charttauglicher Power Pop. Laute Gitarren verleihen dem Refrain den Schub, den er braucht, um das trotzige Selbstbewusstsein, das er verkörpert, voranzutreiben: Der erste amtliche Rock-Moment von Marina and the Diamonds (Nein, Bubblegum Bitch war keiner). Auch hier gibt es ein christliches Motiv, dem das lyrische Ich nicht gerecht werden kann, aber will – die Vergebung.

Savages ist dann eine Annäherung an die The Family Jewels-Ära. Die Nummer hat Punch und ist bissig, wenn auch weniger subtil als das auf dem Debütalbum noch der Fall war. Der Song sucht die Ursachen für das unmoralische Verhalten des Menschen in seiner primitiven Veranlagung, über die ein kultivierter Überbau quasi nur gestülpt wurde: „Underneath it all, we’re just savages / hidden behind shirts, ties and marriages“. Eine rein säkulare Betrachtungsweise, die dem ewigen Spiel von Schuld und Sühne gewaltig Wind aus den Segeln nimmt. Konsequenterweise heißt es dann auch: „I’m not afraid of god / I am afraid of man“.

Angst ist es schließlich auch, die sich auf dem Grund der Konflikte befindet, die Froot behandelt. Im Closer Immortal singt Diamandis: „I wanna be immortal / like a god in the sky / I wanna be a silk flower / like I’m never gonna die“. Die Angst vor dem Tod ist ein Antrieb für die in Happy gefundene Religiösität wie auch für den Hedonismus von Froot, der das große ungewisse Morgen lieber durch ein schnell gelebtes Jetzt ersetzen möchte. Doch diese Angst wird auch zum Antrieb für ein zentrales Motiv menschlichen Fortschritts – ein Erbe zu hinterlassen. „Everybody dies / chasing after time / So keep me alive“ sind die letzten Zeilen der Albums, ehe das Wort „Race“ (in der Bedeutung „Rennen“) bis zum Schluss wiederholt wird; die menschliche Existenz als ein Rennen gegen die Vergänglichkeit. So endet Froot mit einem Bild, das all die Querelen der Songs davor in ein großes Bild einordnet, das ihre Signifikanz schwächt, aber ihre Motivationen verdeutlicht.

Bei aller universeller Thematik wird der Gegenwartsbezug aber nicht vergessen. Can’t Pin Me Down etwa thematisiert postmoderne Identitätspolitik. „Do you really want me to write a feminist anthem? / I’m happy cooking dinner in the kitchen for my husband“ ist kein antifeministisches Statement, aber ein antidogmatisches. Emanzipatorischer Anspruch muss differenzieren können, sonst verkommen die fraglichen „Subjekte“ zu bloßen Nummern, weswegen sich Diamandis‘ trotzige Figur weigert, ihre Nummer zu verraten („You don’t have my number / No, you can’t pin me down“). Alles andere würde dem gegensätzlichen Wesen des Menschen nicht gerecht (“All these contradictions pouring out of me / Just another girl in the 21st century“). Einen letzten Twist erhält der Song, wenn verraten wird, dass die Person, die diese vermeintlich feministischen Ansprüche stellt, männlich ist – durch die bloße Einführung feministischer Identität findet noch keine Befreiung statt, das Machtgefüge bleibt intakt. Logisch also, dass auch Can’t Pin Me Down vom starken Selbstbewusstsein seiner Hauptfigur geprägt ist, das sich im Sarkasmus der Zeile „Do you like my body? / Do you like my mind? / What is it that you are having trouble to define?” äußert.

Überhaupt ist Froot ein Album, dessen Attitüde gut in den spätestens seit Beyoncés selbstbetiteltem Album Ende 2013 auch im Mainstream vorherrschenden Hochglanz-Feminismus passt, der selbstbestimmte Sexualität preist, aber nicht davor zurückschreckt, die allzu menschlichen Risse in diesem Selbstbewusstsein zu offenbaren. Diamandis ist dabei allerdings weniger auf Emotion fixiert, dafür ist ihre Persona als Performerin nach wie vor zu bissig. Dennoch drückt sie Gefühle hier ungefilterter aus als auf ihren Vorgängeralben, die viel größeren Wert auf popkulturelle Reflexion durch subversive Inszenierung legten. Nur logisch also, dass viele der Songs für sich alleine betrachtet persönlicher wirken, als man das von ihr gewohnt ist.

Thematisch ist Diamandis viel mehr am Aspekt der Menschlichkeit interessiert als an den großen Statements der A-List-Celebrities. Das gilt auch für die Identitätsfrage: Persönliches ist hier nicht für sich stehender (politisierter) Gegenstandspunkt, sondern die Art, in der sich existenzielle Fragen menschlichen Daseins im 21. Jahrhundert äußern. Das bedeutet auch, dass die Reise weg geht vom direkten Sezieren von Massenkultur direkt am Gegenstand, und hin zu ebendiesen Fragen der Masse innerhalb dieser Kultur. Dadurch gibt es zwar durchaus ein paar Einbüßungen, gerade was die Wirkung der auf Electra Heart noch so präzise platzierten Spitzen angeht, dennoch ist Froot ein durchdachteres Pop-Album, als man es lose betrachtet annehmen möchte.

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