Re: Milt Jackson

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Hörbericht #7

Auf der obigen Doppel-CD finden sich drei Alben, die Ray Brown in den Jahren 1962, 1964 und 1965 für Verve eingespielt hat. Das erste davon ist „Ray Brown with the All Star Big Band“ mit dem Gast Cannonball Adderley (Infos und Covers), an den beiden von 1964 und 1965 war Milt Jackson als Co-Leader beteiligt: Much in Common (mit Wild Bill Davis, Kenny Burrell u.a.) und Ray Brown / Milt Jackson (Orchestra Conducted by Oliver Nelson & Jimmy Heath).

Die beiden haben, wie Alex eingangs schon erwähnt hat, sehr viel gemeinsam aufgenommen, besonders später für Pablo. Ein paar wenige Aufnahmen aus der Zeit kenne ich und werde sie später noch kurz erwähnen, ich habe da aber noch einigen Nachholbedarf – vielleicht kennt THELONICA mehr und mag etwas darüber schreiben?

Much in Common (Verve, 1964) – das Album atmet den Blues- und Soul-Spirit, den Jackson sowieso ausströhmt, zudem ist der Gospel hier ganz direkt präsent, in Person der Sängerin Marion Williams, die auf den Stücken „When the Saints Go Marching In“, „I’m Going to Live the Life I Sing About in My Song“, „Swing Low, Sweet Chariot“, „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ und „Give Me That Old Time Religion“ zu hören ist. Ihre Stimme ist stark und weniger subtil, als man es sich von Jazz-Sängerinnen gewohnt ist. Es dauerte recht lange, bis ich mich damit abfinden konnte, dass sie hier fast die Hälfte der Musik „kaputt macht“, aber mittlerweile gefallen mir diese Stücke gut.
Was ich immer noch bedaure ist, dass die zehn Stücke des Albums so kurz sind, denn in „Much in Common“ oder dem wunderbaren „Gravy Blues“ (beides Originals von Brown) wird deutlich, wie die musikalische Chemie zwischen den beiden Leadern absolut stimmt – aber entfalten können sie sich in der kurzen Zeit, die sie haben, leider nicht so sehr. Auch Kenny Burrell fügt sich hervorragend ein mit seiner Begleitung und ein paar kurzen Soli. Wild Bill Davis spielt Orgel auf den Stücken mit Marion Williams, während auf den Instrumentals Hank Jones am Piano zu hören ist. Auch die Instrumentals bleiben aber alle unter vier Minuten – auch der Outtake „Stella By Starlight“, der am Ende – neben einem Alternate Take von „Just for a Thrill“ – in drei Takes zu hören ist. Dennoch sind Jackson, Burrell, Jones, Brown und Heath ein wunderbares Quintett, dem ich gerne länger zuhören würde.

Chris Albertson beschreibt in seinen tollen Liner Notes zum oben abgebildeten 2CD-Set ausführlich die Beziehung vom sakralen zum weltlichen in der afro-amerikanischen Musik – eine kurze Passage zur Session mit Marion Williams daraus:

The session with Marion Williams eloquently illustrates the fallacy of regarding jazz and gospel music as idioms with irreconcilable differences. In fact, these performances give new meaning to the term harmony. „It was as natural as anything I could have imagined,“ says Milt Jackson, whose performing career began in church when he was seven.

„For nine years, until I was sixteen, I did nothing but gospel music, playing the guitar and singing. Oh, man, I enjoyed making these sides with Marion, and when it came time for my solo on Sometimes I Feel Like a Motherless Child, my vibes were all wet from my tears. That gets to me very quickly, because that’s my roots. I was strictly brought up in the gospel environment, so it doesn’t take much for that to get to me, and she got to me that day.“

Diese Session war die erste Jazz-Session für Marion Williams und sie scheint ziemlich nervös gewesen zu sein. Gemäss Milt Jackson verliefen die Aufnahmen jedoch „real smooth“. Unter den Ergebnissen sticht besonders die wohl eleganteste Version überhaupt von „When the Saints Go Marching In“ heraus, dem Stück, über das Albertson schreibt, es sei „perhaps the ultimate tradband warhorse, a brassy anything-you-can-play-I-can-play-louder tune usually aimed directly at the dixieland set“. Damals kamen die Aufnahmen mit Williams nicht überall gut an, Alun Morgan etwa schrieb (komplett nachzulesen in Gramophone, September 1964, S. 93): „… the jazz level drops alarmingly due to the prominence given to the out-of-context singing of gospel artist Marion Williams“. Genau so empfand ich das früher auch… aber wie Albertson sagt: „totally missing the point“! Die Stücke sind wunderbar und fügen sich mit den instrumentalen Tracks zu einem wunderschönen Ganzen. ****

In a New Setting (Limelight, 1964) – das neue Setting war wohl vor allem die Band, ein Haufen etwas modernerer Musiker als jene, mit denen Jackson sind sonst meist umgab: McCoy Tyner am Piano und Bob Cranshaw am Bass, die ein anderes Feeling in die Musik bringen – aber da sind auch zwei alte Bekannte, Drummer Connie Kay und Jimmy Heath (am Tenor und in „Lazy Melody“ auch auf der Flöte, sowie auf seinen beiden Originals als Arrangeur).
Ein bahnbrechendes Album ist daraus jedenfalls nicht geworden. Leider bleiben auch hier die Stücke kurz (nur grad eines, „Slow Death“, kratzt an der 5-Minuten-Grenze, ein weiteres, „Project-S“, ist knapp über 4 Minuten lang, die anderen sind alle zwischen 2,5 und 3,5 Minuten kurz).
Zu den Higlights gehören Jacksons öffnender „Sonny’s Blues“ mit tollen Soli vom Leader, Tyner und Heath, Jacksons Balladen-Features „I’m Gonna Laugh You Out of My Life“ und „Ev’ry Time We Say Goodbye“, sowie ein weiteres Jackson-Original, „Slow Death“, das in langsamem Tempo satt dahinwalkt und tolle Soli von Jackson und Tyner und dazwischen ein grossartiges Tenorsolo von Heath.
Tyners „Spanish Fly“ beruht wie der Name sagt auf einer spanisch klingenden Tonleiter, Cranshaw und Kay verschmelzen zu einer hart swingenden Rhythmusgruppe, Tyners comping passt hervorragend zu Jacksons Spiel – und Heath setzt dem ganzen dann das Sahnehäubchen auf. Heath hat seine beiden Stücke „Project-S“ und „Ineffable“ selber arrangiert, das erste gehört Jackson und Tyner alleine, Heath setzt aus. Auch hier wird schnell klar, wie gut die beiden harmonieren. Tyner klingt in seinem Pianosolo streckenweise sehr leicht, fast wie auf seinen allerersten Aufnahmen mit Coltrane im Herbst 1960. Heaths zweites Original ist „Ineffable“, ein hübscher Jazz-Walzer im mittleren Tempo – hier entwickelt sich aber kaum was, Tyner und Heath spielen nur Begleitung, derweil Jackson drüber das Thema präsentiert und ein kurzes Solo spielt.
Auf „That’s In“ ist im Thema ein zweiter, unbekannter Tenorsaxophonist zu hören. Als Bonustrack findet sich auf der CD noch „The Other Half of Me“, ein Song, der ursprünglich auf „I/We Had a Ball“, einem Various Artists Album gelandet war – ein weiteres kurzes Stück, das aber schön groovt und Jackson im walkenden Balladentempo nochmal Raum für ein schönes Solo gibt.
Don Nelson zitiert in seinen sehr ausführlichen Liner Notes, was Jackson zur Avantgarde dachte:

He is, for example, sympathetic with the musicians of the avant garde, yet their music seems to have left him untouched: „I try to have a very broad and flexible outlook. This is very necessary today because music is changed quite a bit and much more is required of the musician. You must be much more qualified. It is necessary now to read and write well, whereas it wasn’t so much of a necessity in the past. Things are changing, moving along. And this makes it essential – the same as in any other professional art – to improve, to progress.

„Now, the new freedom, or whatever you call it, it hasn’t actually had any influence on my playing, because I have a philosophy which I sort of keep up with and believe in – simplicity. I’ve tried to keep to this in my playing and still be progressive, which may not be easy to do. I don’t like things when they get too complicated.

„With the music today, the new freedom, the musicians seem to be searching for something I hope they find, but I’m afraid some of them might not find it. Now, I may be jumping the gun passing an opinion but, like I said, most important is simplicity, because in order for me to get across a point to you, I must be able to make sense out of it. If I can’t, if it doesn’t make sense to me, I don’t see how I can really get it across to you.“

Übrigens stimmt die Reihenfolge der Trackliste mit den Liner Notes nicht überein – da heisst es: „Project S“, a medium-fast Jimmy Heath piece and the only one on which the reedman lays out, introduces the album – das stimmt alles nicht… der Opener der CD ist angeblich „Sonny’s Blues“ (sofern die Trackliste stimmt) und Heath spielt mit. Er ist überdies nicht nur auf „Project S“ sondern auch auf den beiden Balladen abwesend.

Brown / Jackson, Orchestra Arranged and Conducted by Oliver Nelson & Jimmy Heath (Verve, 1965) – Im Januar 1965 entstand ein weiteres Album für Verve, wieder Ray Brown mit Big Band, dieses Mal aber mit seinem alten Freund Milt Jackson als Co-Leader und guten Arrangements von Oliver Nelson und Jimmy Heath (je vier Stücke). Die Band setzt sich neben den Leadern, Clark Terry und Hank Jones aus Nelson-Habitués und Studio-Cracks zusammen. Solistisch glänzen aber neben den Leadern nur Terry und Hank Jones da und dort mit einem Solo. Jimmy Heath sitzt ebenfalls in der Reed-Section, neben so tollen Leuten wie Jerome Richardson, Phil Woods und Danny Bank. Das Blech ist sehr stark mit Musikern wie Snooky Young, Ernie Royal (gleich zwei der besten Lead-Trompeter überhaupt), Jimmy Cleveland, Urbie Green und Hornist Ray Alonge. Auch die von Nelson stets gern eingesetzte Bassposaune ist klar herauszuhören, gespielt wohl von Tony Studd (und ev. Tom McIntosh). Die Reed-Section wird durch die Pros Bob Ashton und Romeo Penque vervollständigt.
In Browns Opener „Lined with a Groove“ (arr. Nelson) ist Clark Terry zu hören, es folgt eine neue Version von „For Someone I Love“, das schon in Melba Listons Arrangement auf dem gleichnamigen Album zu hören war. Jackson steht hier ganz im Zentrum, Heaths Arrangement lässt Brown später noch ein kleines Solo, aber Jackson ist der Star. Heath hat ferner sein Original „Dew and Mud“, Browns „I Just Can’t Fool Myself“ und Jacksons „Monterey Mist“ arrangiert (auf den ersten drei ersetzt Bruder Albert „Tootie“ Heath auch Grady Tate an den Drums), von Nelson stammen zudem noch die Arrangements von Oscar Petersons „Lazy Theme“, Jimmy Woodes „Now Hear My Meaning“ und John Lewis‘ „In a Crowd“.
„I Just Can’t Fool Myself“ schleicht in mittelschnellem Tempo dahin, Brown steht im Mittelpunkt des Stückes und glänzt mit einem tollen Solo, in dem sein absolut sicheres Time und sein fetter Sound schön zur Geltung kommen.
Die zweite Hälfte des Albums gehört dann zum grösseren Teil Nelsons Arrangements. Das alles ist sehr soulvoller Jazz, für den das doofe Diktum, dass die Musik für sich selbst spräche, durchaus zutrifft. Die Arrangements sind gut gemacht, nicht herausragend, Jackson und Brown sind wie gesagt front and center… ein Wunderbares Feature für Clark Terrys Flügelhorn hören wir mit „In a Crowd“ (im Arrangement wird auch von den Reeds-Cracks gebrauch gemacht, aber Jackson und Brown stehen auch hier solistisch im Zentrum. Wunderbar, wie Brown sich während dem Vibraphon-Solo immer wieder bemerkbar macht, das ganze zwischendurch zu einem Dialog zu werden scheint. ****

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