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POP / Wissenschaftler debattieren über Bob Dylan
Die Zeiten ändern sich, der Mythos bleibt
Wenn sich Wissenschaftler mit popkulturellen Phänomen beschäftigen, dann sitzen meist ein paar Über-50-Jährige beisammen und führen einen Diskurs. Aber einem echten Idol, das wurde auf dem Frankfurter Bob-Dylan-Kongress deutlich, kann das nichts anhaben.
ULRICH RÜDENAUER
FRANKFURT Ein Charlie Brown-Cartoon brachte im Jahr 1971 das Dilemma der aus der Pubertät entlassenen Jugendkultur auf den Punkt: „Bob Dylan wird heute 30 Jahre alt. Das ist das Deprimierendste, was ich je gehört habe.“ Lange ists her: Dylan feiert am 24. Mai seinen 65. Wahrscheinlich sind viele Anhänger in Depressionen verfallen und gar nicht erst zum Internationalen Dylan-Kongress nach Frankfurt gereist: Die Veranstalter vom Hessischen Rundfunk, von der Gesellschaft für Musik und Ästhetik und dem Institut für Sozialforschung blickten etwas ratlos in die spärlich besetzten Reihen.
Axel Honneth vom IfS vermutete, dass die Dylan-Anhängerschaft sich in der jüngeren Generation etwas verschmälert habe. Da gab es keinen Widerspruch von den meist männlichen, meist grauhaarigen Tagungsteilnehmern. Vielleicht lag das geringe Interesse aber auch daran, dass sich Dylan-Fans nicht von Wissenschaftlern ins Handwerk pfuschen lassen wollen. Gefolgsleute der Church of Bob I. dulden Glaubensbekenntnisse, keine Vorlesungen. Dennoch tanzte der Kongress über drei Tage hinweg fröhlich nach den Melodien des „song and dance man“ und suchte nach den Subtexten in den Liedern. Dem „kritischen Gehalt von Bob Dylans Werk“, wie schön Old-School-Frankfurt-mäßig getitelt wurde, wollte man auf die Spur kommen.
Auf einem Adorno-Symposium war die Idee dazu geboren worden. Adorno, der Popstar der Frankfurter Schule, hielt bekanntlich rein gar nichts von der Popkultur. Aber Dylan lässt sich mit etwas gutem Willen quasi gegen Adorno für die kritische Theorie retten: Der Dylan-Fan Axel Honneth las die Songs als Fortsetzung eines existenzialistischen Freiheitsbegriffs, der bei Dylan immer gebrochen werde durch die Bindung an etwas Vergangenes.
Verschiedene Gefühlsebenen überlagern sich bei dem „Künstler des Nicht-Identischen“ (Peter Kemper): die Sehnsucht nach Freiheit und das Gefühl des Festsitzens bei gleichzeitig verrinnender Zeit. „Time“ ist der Begriff, der am häufigsten in Dylans Lyrik auftaucht – der Theorie-Collagist Klaus Theweleit entdeckte darin eine neue Form biographischen Schreibens. Zeitlichkeit und Vergänglichkeit stechen als Motive bei Dylan hervor. Wer sich so sehr über Zeit definiert, dem geht es um Überlieferung.
Dylan fühlt sich in der Tradition amerikanischer Musik verwurzelt, und verstärkt geht es ihm um die Weitergabe eines Erbes, so der Literaturwissenschaftler Stephen Scobie. Der Freiburger Musikwissenschaftler Richard Klein zeigte anhand der Country- und Gospel-Phase Dylans, wie die Ausdrucksnuancen im Gesang immer auch eine Distanz zu den Ideologien der Texte darstellen. Dylan spielt mit den Genres, er inszeniert und distanziert sich, er besitzt als Performer und Sänger eine mythische Aura.
Dies war der Hintergrund aller Vorträge: dem Geheimnis des sich immer wieder Verbergenden auf die Spur zu kommen und damit zugleich das eigene Fasziniertsein objektiv zu erklären. Die Ansätze waren verschieden, die Methoden waren es auch: theoretische, entzaubernde, unprätentiös-anekdotische und religionsphilosophische Vorträge wechselten sich munter ab.
Was auffällig fehlte, war ein aufgeklärter Popdiskurs. Der hätte Fragen nach Identitätsspielen oder Selbstinszenierung sicherlich besser beantworten können. Einziger Vertreter dieser Richtung war Diedrich Diederichsen, der mit seinen bald 50 Jahren einmal mehr erklären musste, welche Bedeutung Punk gehabt hat – auch um Überväter wie Dylan zu entmystifizieren. Um Mystifizierung ging es dem Symposium zum Glück nicht.
Südwestpresse 18.05.06
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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.