Re: Die besten Forumszitate

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hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

Beiträge: 4,617

Herr RossiDas habe ich nicht „flott“ hingeschrieben, sondern ich verfolge die Diskussionen hier aufmerksam und versuche, daraus Schlüsse für mich zu ziehen. Wo Individuen aufeinander treffen, gibt es notwendigerweise Reibung. Hier ist jeder „andersartig“. Die meisten machen nur nicht so ein großes Gewese um sich und ihre Individualität. Wenn jemand Gegenwind bekommt, ist es natürlich die komfortabelste Art, jede „Schuld“ daran von sich zu weisen. Es sind ja immer die anderen, die unduldsam sind. Man selbst ist dagegen eigentlich perfekt.

Ein Aspekt, der hier bislang noch nie wirklich mitbedacht wurde: Wir bewegen uns hier alle auf einer Bühne, in einem öffentlichen Raum. Was wir sagen bzw. schreiben, richtet sich nicht nur an ein bestimmtes Gegenüber, sondern an alle, die mitlesen. Daher ist jeder hier, ob er will oder nicht, auch ein Selbstdarsteller. Ich bin einer, Du bist einer, Hal ist einer, Linn ist einer … Man kann sich in einer solchen Situation gar nicht nicht selbst darstellen. Jeder einzelne Post wird zu einer kleinen Szene des Schauspiels, das man selbst gibt. Auf der Bühne gibt man sich aber immer der Kritik des Publikums preis. Die „Leidensfähigkeit“ des einzelnen, die eigene Selbstdarstellung von anderen reflektiert, kommentiert und kritisiert zu sehen, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ebenso die Bereitschaft, die eigene Selbstdarstellung zu reflektieren, sich selbst mal mit den Augen anderer zu sehen.

Da das ja gerade der heißeste Scheiß hier zu sein scheint, ein paar Gedanken von mir dazu.

Tatsächlich ist mir viel eher als das Bestehen auf der jeweils eigenen Andersartigkeit bisher das Bestehen auf der Unmöglichkeit und Peinlichkeit der Andersartigkeit des jeweils anderen aufgefallen. Dass ersteres vorkommt, will ich gar nicht bestreiten, ist aber sehr selten. Viel häufiger ist eben das Phänomen, dass Forumsteilnehmer die Vorlieben anderer Forumsteilnehmer verhohnepipeln und sich dafür den Applaus ihrer Droogs abholen. Und genau hier wird es spannend, denn die Rezeption dieses Phänomens hängt extrem stark davon ab, welche Mehrheiten, Koalitionen und Beziehungen sich in den letzten 12 Jahren herausgebildet haben. So gibt es Ausprägungen dieses Phänomens, bei denen es selbst eigentlich nie auffällt oder gar skandalisiert wird, sondern grundsätzlich nur die von seinen Protagonisten anscheinend unerwartete, auf jeden Fall aber unerwünschte Gegenreaktion. Das führt dazu (oder liegt es daran?), dass die geschmäcklerische Grundlage dieses Phänomens vollkommen unreflektiert bleibt. Was als selbstverständlich empfunden wird, wird auch als selbstverständlich kommuniziert.

Und in demselben Rahmen findet dann auch das statt, was hier als Reflexion, Kommentierung und Kritik von Selbstdarstellung figuriert. Es ist ja nicht so, dass diese Reflexion, Kommentierung und Kritik sozusagen „unschuldig“ und völlig unvoreingenommen geschähe. Vielmehr findet das alles vor dem Hintergrund bereits längst gefällter (Vor-)Urteile statt. Mehrheitsmeinungen reproduzieren und verstetigen sich so wie von selbst. Da ich ja schon Fußballvergleiche angeführt habe: ist der Selbstdarsteller Arjen Robben eine absolute Katastrophe und Niete, weil Zehntausende Zuschauer in Dortmund ihm ein gellendes Pfeifkonzert angedeihen lassen? Und ist er plötzlich ein Halbgott, weil Zehntausende in München ihn mit Sprechgesängen feiern? Würde irgendein verständiger Mensch das glauben? Wohl kaum…

Selbstverständlich trifft es zu, dass jemand, der kritisiert wird, dieser Kritik gegenüber eine gewisse „Leidensfähigkeit“ aufbringen muss. Aber siehe, selbst die Äußerungen dieser Leidensfähigkeit werden ja von demselben Publikum beurteilt, das vorher schon die Performanz beurteilt hat. Fängt man nun an, die mehrheitlichen Tendenzen dieser Beurteilungen für bare Münze zu nehmen, entwertet das die tatsächliche „Leidensfähigkeit“ der jeweiligen „Selbstdarsteller“; sie selbst gilt dann weniger als ihre Spiegelung im Urteil des Publikums. Und genau das geschieht hier fortwährend.

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=