Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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friedrich

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Nordsee ist Mordsee
(Hark Bohm, 1976)

Anlässlich des Todes von Hark Bohm gestern Abend in der NDR-Mediathek gestreamt.

Zwei Jungs im frühen Teenager-Alter, zunächst verfeindet, dann befreundet, weil sie eines gemein haben: Der eine hält es wegen des saufenden und prügelnden Vaters, der andere wegen der ständigen rassistischen Schikanen und Angriffen zuhause nicht mehr aus. Also reißen sie aus und machen sich zunächst auf einem selbstgebauten Floß, später mit einem geklauten Segelboot von Hamburg elbabwärts auf eine Reise ins Ungewisse.

Der Film hat viel Zeit- und Lokalkolorit: An die Langhaarfrisuren, die Jeans mit Schlag, die Jeansjacken mit Aufnähern und Nieten und die dicken Gürtelschnallen erinnere ich mich gut aus meiner Kindheit. So sahen die größeren Jungs aus der Hauptschule, die im gleichen Gebäude untergebracht war wie meine Grundschule im Arbeiterviertel Hamburg-Veddel, auch aus. Vor denen hatte ich Angst, denn sie wirkten auf mich irgendwie böse. Und einer der beiden Protagonisten, Uwe (Uwe Bohm), knackt ja auch Automaten, fährt ohne Führerschein Auto, trinkt und raucht und prügelt sich. Der andere, Dschingis (Dschingis Bowakow), muss sich hingegen zurückhalten, damit er als „Ausländer“ nicht auffällt. Aber er weiß sich zu wehren: In seinem Zimmer hängt ein Poster von Bruce Lee. Und er kann ein Segelboot lenken. Das trostlose Neubaugebiet in HH-Wilhelmsburg, wo die beiden wohnen, kenne ich auch, denn da war auch das neu gebaute Gymnasium, das ich ein Jahr besuchte, bevor unsere Familie ins Umland zog. Aus meiner Grundschulklasse gingen übrigens damals nur 2 oder 3 Schüler später aufs Gymnasium. Den anderen drohte ein Job im Hafen oder in der Fabrik. So war die Lebensperspektive für die Arbeiterjugend damals. Frustration, Alkohol und Gewalt kamen automatisch dazu.

Toll und damals wohl ziemlich neu ist das Eintauchen des Films ins Milieu von Hafen- und Industriearbeitern in der Hochhaussiedlung und vor allem deren Nachwuchs. Schön auch der authentische Hamburger Tonfall. Die Geschichte wird aus der Perspektive der beiden Ausreißer Uwe und Dschingis erzählt. Uwe legitimiert seine Taten, (Einbruch, Diebstahl, Flucht …) auch immer wieder mit frappierender Logik („Lieber nächstes mal den Arsch vollkriegen als jetzt gleich!“). Das sorgte damals für teils heftige Kontroversen, denn das entsprach nicht dem, was die FSK meinte, Jugendlichen moralisch zumuten zu können. Sie verweigerte zunächst eine Freigabe ab 12 Jahren. Erst nach Protesten wurde FSK 16 gekippt.

Die von Uwe und Dschingis ersehnte Freiheit bleibt am Ende Utopie und die Konsequenzen des eigenen Verhaltens werden so weit wie möglich in die Zukunft verschoben – obwohl oder weil die beiden genau wissen, dass sie irgendwann „den Arsch vollkriegen“. Die Nordsee erreichen sie im Film nie, aber das wäre ja auch die Mordsee.

Einiges im Film wirkt aus heutiger Perspektive etwas holprig. Der Schnitt ist manchmal etwas träge und manche Schauspielleistung – der Erwachsenen! – etwas steif. Die Musik von Udo Lindenberg passt einerseits perfekt, andererseits wirkt seine bemüht lässige Sprache heute etwas aus der Zeit gefallen. Großartig hingegen Uwe Bohm, der als damals 14-Jähriger schon verwegen und charismatisch daherkommt. So stelle ich mir Bon Scott von AC/DC als Teenager vor.

Insgesamt ist der Film aber absolut sehenswert. Ich wünsche mir ein Re-Make: Das spielt dann aber in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung, mit einem bio-deutschen und einem vietnamesischen Jungen. Oder Mädchen.

Den voice over-Kommentar muss man wohl auch als zeittypisch interpretieren. Kaum zu glauben, wie bieder Deutschland damals teilweise noch war.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)