Antwort auf: Greil Marcus – Mystery Train

#12040355  | PERMALINK

friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Hallo @bullschuetz, vielen Dank für deine sehr interessanten Beiträge.

Ich selbst bin ein Boomer, also auch ohne Internet aufgewachsen. Für mich waren in den 80ern Musikzeitschriften wie Sounds und Spex sehr prägend dafür, wie Pop-Musik wahrgenommen und darüber geschrieben wurde. Das hat für mich Türen geöffnet und wirkt bis heute nach. Manchmal denke ich immer noch, dass selbst in meinem Bekanntenkreis für viele Popmusik nichts weiter ist als eine Ansammlung von mehr oder weniger angenehm und unterhaltsam angeordneten Tönen, mit denen man für kurze Zeit seinen Spaß hat und sie dann wieder vergisst – während ich da ein komplexes kulturelles Geflecht mit Rück- und Querbezügen und vielen Bedeutungsebenen höre. Ich bin nicht besonders belesen und von vielem weiß ich auch nichts, aber dennoch sind Pop und Jazz Teil meiner – naja … – kulturellen Identität.

Nein, du wirkst auf mich überhaupt nicht wie der Opa, der aus dem Krieg erzählt. Ich glaube, ich verstehe sehr gut, was Mystery Train für dich für eine Bedeutung hatte. Klar: Mystery Train ist ein tolles Buch!

Greil Marcus schreibt ja auch ausdrücklich von den Pilgervätern und deren Idealen und Hoffnungen, eben unter anderem deren puritanische Religiosität und dem Traum von Freiheit und Wohlstand. Amerika, das gelobte Land – was es tatsächlich aber nur für wenige war, schon mal gar nicht für die Ureinwohner und die, die für den Wohlstand der Nachfahren der Pilgerväter auf den Plantagen arbeiteten *. Und GM schreibt ja auch, dass die Pilgerväter auch das britische Klassensystem mit nach Amerika brachten. Aber der Mythos lebt weiter. Tom Sawyer & Huckleberry Finn, Moby Dick, The Great Gatsby, alles alte Geschichten mit mythischen Gestalten, in denen sich Ängste, Verletzungen, Sehnsüchte und Hoffnungen verkörpern. Und das wirkt eben auch in der zunächst volkstümlichen Musik und später im Pop weiter.

Wenn ich jemandem erzähle, dass ich Fan von James Brown bin, muss ich damit rechnen, die Frage „Hat der eigentlich noch was anderes gemacht als Sex Machine?“ und ohne eine Antwort abzuwarten danach die Feststellung „Aber dazu kann man gut tanzen!“ zu hören. Ich versuche es dann meist gar nicht mehr, zu diskutieren. Ich hatte vor einiger Zeit RJ Smiths ausgezeichnete JB-Biografie The One gelesen. Habe ich im JB-Thread ausführlich drüber geschrieben. RJ Smith ist nicht so ein Fabulierer wie Greil Marcus, aber eigentlich schreibt er über JB etwas ähnliches wie GM über Sly Stone. Das waren zeitgenössische Stagger Lees, die sich nichts gefallen ließen und mit dem Kopf durch die Wand nach oben wollten. Klar, ist nicht eins zu eins zu vergleichen und Sly Stone ist ein Stück weit in die Fußstapfen von JB getreten und hat den musikalischen und politischen Horizont deutlich erweitert. Aber grundsätzlich gilt für beide „Say it loud, I’m black and I’m proud!“ – und wenn das sich auch „nur“ darin äußert, dass man sich schick anzieht die Klappe aufreißt.

* Übrigens: Ich las irgendwo, dass der Amerikanische Unabhängikeitskrieg, also der Kampf um die eigene Freiheit vor allem mit Baumwollexporten und damit mit Sklavenarbeit finanziert wurde. Ein Paradoxon, das bis heute nachwirkt. Eine Art Ursünde der us-amerikanischen Geschichte.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)