Antwort auf: Jazz-Neuerscheinungen (Neuheiten/Neue Aufnahmen)

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gypsy-tail-wind
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Letzte 2022er-Neuheiten trudeln ein (die Angelica Sanchez wurde versandt, die kommt also auch noch vor Jahresende) – gerade aus dem Briefkasten in den Player:

Tarbaby feat. Oliver Lake – Dance of the Evil Toys (Clean Feed, 2022) | Das geht mit einer gesungenen „invocation“ von Orrin Evans lost („Blessed Ones the Eternal Truth“ von Trudy Pitts), danach folgen zehn Stücke, die meisten so um die vier bis sechs Minuten, drei von Eric Revis, zwei von Lake, das einzige deutlich längere von Nasheet Waits in der Mitte, zwei vom Trio, eins vom anderen Gast, Trompeter Josh Lawrence, und als Ausklang die zweite Fremdkomposition, die zum Wetter aber nicht zur Jahreszeit passt, „Sometimes It Snows in April“ von Prince. Lake setzt am Anfang starke Marken, in seinem „Bonu“ direkt nach dem Chant von Evans mit einem dunkel verschatteten Alt im tiefen Register, im folgenden „Bumper“ (wieder Lake) über Drum-Rolls von Nasheet Waits kantig irgendwo zwischen Dolphy und M-Base. Finde ich gerade sehr faszinierend, bleibt in der Stimmung düster, wirkt sehr fokussiert, dicht aber nie überladen.

Im vierten Stück, dem Titelstück und dem ersten aus Revis‘ Feder, kommt noch Dana Murray an Percussion dazu – und da hat Lawrence dann auch seinen ersten Auftritt. Er spielt eine selbstbewusste, breit blecherne Trompete, die dennoch nicht dominant wirkt. Das Trio selbst wechselt zwischen freieren Passagen und welchen, in denen die ganze Hard Bop-Klavierhistorie aufklingt, von Monk und Nichols bis zu Hassan – zum Beispiel im charmanten, nur 1:11 kurzen „JRMJ“ von Revis, aber auch hinter Lake oder in Quartettstücken, wenn dieser pausiert. Im langen „Ke-Kelli“ in der Mitte des Albums – quasi der Angelpunkt – ist das Trio mit seinem freien Stop-und-Go Spiel, den verschleppten rollenden Beats von Waits, der grosse Star, Lake webt sich ein in das Geschehen, das ist eine Art Free-Groove, komplett geerdet und dennoch irgendwie radikal – Highlight!

Es folgt „House of Leaves“, das dritte Revis-Stück, das eine Art entschleunigte Beschleunigung, karge Verdichtung hinkriegt. Das nächste Highlight – und ich höre mich bei den beiden Tracks gleich mal eine Dreiviertelstunde fest. Klasse! Die letzten drei Originals folgen: zwei vom Trio, „Paix“ und „Round Robin“, dazwischen der Beitrag Lawrence, „Purple“. Lake ist praktisch immer dabei (auch auf „Paix“, das wie eine Kollektivimpro in zwei Teilen klingt), Lawrence so selten, dass ich mich wundere, warum auf dem Cover nur bei Dana Murray angegeben ist, wo er mitspielt. „Purple“ geht dann mit einer singenden gedämpften Trompete los, Waits auch im Balladen-Mood hervorragend – das hat eine leise ECM’sche Wehmütigkeit, die von Lakes kurzer Passage mit auffallend cremigem Ton kurz behutsam ausgehebelt wird, dann von der Trompete wieder installiert … es reichen wenige wiederholte Melodiefetzen, darunter variiert die Rhythmusgruppe jedoch ständig ihre Begleitung – das erinnert an gewisse Stücke vom Second Quintet, so um 1967 herum – und ist eben doch sehr gegenwärtig im Zugriff. Das kurze „Round Robin“ ist dann wohl erneut eine Kollektivimpro, in die Lake sich reinsetzt – er macht das echt gut! Würde gerne die Zeit zurückdrehen und das Konzert noch einmal hören, das ich von diesem Quartett vor einigen Jahren erlebte (als es in Zürich noch regelmässig gute Jazzkonzerte gab, auch ausserhalb von Festivals). Ich habe das Funktionieren der vier nicht als dermassen organisch in Erinnerung. Das Bedauern, dass Lawrence nicht öfter zu hören ist, wird jedenfalls aufgewogen durch die Kompaktheit der Musik, die die anderen vier hier abliefern.

Als Closer dann Prince – ein Stück, das ich zu seinen schönsten zähle. Das geht beinah impressionistisch los, Orrin Evans spielt ein paar Rubato-Läufe und Akkorde dazu, durch die das Thema bereits hindurchschimmert. Nach 50 Sekunden ein Innehalten, das Thema schält sich heraus, Drums und Bass steigen ein, mit einzelnen Tönen, Trommel- und Beckenschlägen. Und nach zwei Minuten dann auch wieder Lake – und er macht das wieder so geschickt, dass er die Atmosphäre, die das Trio bis dahin aufgebaut hat, überhaupt nicht verändert, sein Sax verwebt sich nicht nur mit den Melodiekürzeln des Klaviers sondern auch mit dem extrem langsamen Groove der Rhythmusgruppe. Für einen Moment wird das ziemlich laut, Waits zeigt, wie er auch in so einem verschleppten, sehr sexy Groove unerwartete Akzente setzten kann – was für ein phantastischer Drummer! Ein wunderbarer Abschluss eines tollen Albums.

Kann man auf Bandcamp Probehören … mir hatten da vor ein paar Wochen ein paar kurze Ausschnitte gereicht, um zu bestellen:
https://cleanfeedrecords.bandcamp.com/album/dance-of-the-evil-toys

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