Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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Hans Koller – Free Sound Quintet (Jive Music, CD, 2021)

Furchtbares Cover, aber kein Grund, dieses Veröffentlichung letztes Jahr zu verschweigen – erst neulich davon mitgekriegt und gleich bestellt, heute gekriegt. Lässt sich gut an! Von anderen Line-Ups der Band dabei sind Albert Mair am Fender Rhodes und Adelhard Roidinger am Bass dabei. Neu für mich: Costa Lukacs an der Gitarre und Karl Prosenik am Schlagzeug. Die Aufnahmen entstanden am 7. und 8. April 1971. Albert Mair hat kurze Liner Notes beigesteuert (ein paar kleine Fotos sind auch zu sehen, gibt nur eine Klappe beim Digipack – also four-fold, wie manche das dann nennen) und schreibt darin, wie dieses Originalbesetzung der Gruppe zustanden kam: erste Proben Ende 1970 und Anfang 1971 im Trio (Koller, Mair und Lukacs)

Jimmy Woode habe damals gerne mit den dreien gespielt. Das erste Konzert fand im Grazer Stefaniensaal statt, in der Besetzung Koller, Lukaczs, Mair, Woode und Prosenik. Die vier Sidemen erhielten als Gage je ein Gemälde von Koller. Woode war dann natürlich zu beschäftigt um weiter dabei zu bleiben, also holte Koller den in der Avantgarde beheimateten Adelhard Roidinger am Kontrabass. Es folgten Auftritte in den wichtigsten Jazzclubs Deutschlands, der Schweiz, Frankreichs, Dänemarks und Österreichs, und:

Eines Tages sagte Hans: „Lasst uns eine Platte machen und bei MPS veröffentlichen“. Ein Studienfreund von Albert, Guido Bertol, hatte Tondstudio Erfahrung und Albert hatte eine Revox A77. Guido – der „Rudy Van Gelder“ von Wien – baute aus billigen Bauteilen ein provisorisches Mischpult. Er nutzte den Naturhall eines Kellers für die die Aufnahmen.

MPS bestand aber auf ihrer Aufnahmetechnik im eigenen Studio in Baden-Baden. Den vorgegebenen Termin konnten Costa wie auch Prosenik nicht wahrnehmen und stiegen aus der Band aus. Im MPS Studio Villingen entstand ein Jahr später ‚Phoenix‘ ohne Costa Lukacs und Karl Prosenik im Quartett mit Alex Bally am Schlagzeug.

Der musikalische Inhalt und der von Guido im Keller damals kreierte Sound des ersten „Hans Koller Free Sound Quintet“ blieb jedoch unverwechselbar.

Das Material, das Koller für die Gruppe schrieb – in seiner „graphisch-künstlerisch einzigartigen Notenschrift in Form von prägnant notierten musikalischen Ideen ohne Taktstriche“ – habe den Musikern viel Freiraum gelassen. Und genau dieses Freiheit vor allem in der Agogik (das streicht auch Roidinger in einem Zitat heraus, Mair hat wohl extra mit ihm gesprochen für die Liner Notes) zeichnet die Musik dieser Gruppe aus. Da wir nicht atonaler Free Jazz geboten, eher dockt die Musik an frühe Jazz-Rock-Spielweisen an – irgendwo zwischen frühen Weather Report und Return to Forever vielleicht? – der freiheitliche Geist ist aber stets zu spüren. Und der Kontrabass als Gegenpol zum Rhodes und der elektrischen Gitarre (die recht klassisch jazzig klingt) gibt dem ganzen auch nochmal diesen Sound aus der Zeit, als solche Experimente noch ganz frisch waren.

Da das als LP-Album konzipiert wurde, gibt es ca. 38 Minuten Musik zu hören, in der ersten Hälfte zweimal „Nicolas de Staël“ (II und III, I ist nicht auf dem Album) und dazwischen das kurze „Late Indian Summer“, in der zweiten Hälfte dann „Opus 2“, „Red Nobility“ und „Phoenix“. Letzteres ist dann natürlich als Titeltrack auf dem MPS-Album zu hören, das mit „Nicolas 1/2“ öffnet und mit „Nicolas 3/4“ endet. Die beiden Stücke hier sind aber viel länger (9:57 und 6:47 vs. je fünf Minuten für die „Doppel-Versionen“ des MPS-Albums).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba