Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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Lennie Tristano – Personal Recordings 1946-1970 (Mosaic/Dot Time, 6 CD)

Dann wollen wir mal … CD1 ist total faszinierend: Live-Aufnahmen des Trios mit Billy Bauer an der Gitarre und – für die ersten 5 Stücke und 17 Minuten, 1946 in Freeport, Long Island aufgenommen – Arnold Fishkin am Bass. Danach folgt „Rhapsody“, eine Radio-Aufnahme im Duo mit unbekanntem Bassisten, bevor es mit dem Trio weitergeht, vier lange Stücke und ca. 25 Minuten mit Bauer und unbekanntem Bassisten 1947 an unbekanntem Ort. Die Lückenhaftigkeit der Infos spricht wohl Bände über die Musik: Acetat-Aufnahmen, Aufnahmen mit „wire cutters“ usw. – das ist mehr Archäologie als Musikgenuss, aber so übel wie die Coltrane-Session von 1958 mit Joe Henderson klingt das bei weitem nicht (hier ein Ausschnitt, von einem dieser A*** hochgeladen, die damit Geld verdienen wollen – das ist dann auch für mich unhörbar), aber es ist schon so, dass die meisten keine Geduld haben werden für Aufnahmen in solchem klanglichen Gewand. Wenn man darüber hinwegsehen kann (was mir gerade relativ gut gelingt), ist das eine erstaunlich warme und enorm engagierte Angelegenheit, drei Musiker (oder auch zwei, der Bass ist oft schon auf Time-Keeping beschränkt und ist manchmal gar nicht mehr zu hören), die sich die Bälle zuwerfen und im Wechsel mit grösster Freiheit solieren. Weil sie beide, Tristano und Bauer, schlicht wahnsinnig gut waren, dabei aber auch nie in dem Virtuosentum verfallen, ist das wirklich beeindruckend. Bei der Session von 1947 halten sie sich gar nicht erst mit „heads“ auf sondern legen direkt los, spielen oft abwechselnd mehrere Soli. Auf diese zweite längere Session (die gegen Ende klanglich wirklich schwierig wird, es gibt Skips und so – gebrochene, wieder zusammengeknüpfte Drähte?) folgt ein einzelnes Stück, „September Rain“ von 1947 mit Bauer und unbekanntem Bassisten – und hier kann man, was den Klang angeht dann endlich aufatmen. Und das bleibt so für die letzte Vierstelunde der ca. einstündigen CD. Jetzt ist auch der Ton von Bauer halbwegs zu hören und nicht nur zu erahnen. Es folgen drei Bandstand U.S.A.-Aufnahmen vom 21. August 1948, und zuletzt ein einzelner Studio-Track vom 23. Dezember 1947, der bisher nicht veröffentlicht wurde. Den Rest der Session, die für Baronet entstand (mit Bauer/Fishkin übrigens), kenne ich noch nicht.

CD2 – solo. Los geht es mit „Spectrum“, einem einzelnen kurzen Track, den Tristano mit Overdubs 1952 bei Van Gelder im Studio aufgenommen hat. Ein äusserst faszinierendes Kleinod (der Track dauert 1:52 Minuten), eine freie Improvisation, in der sich die harmonische Ebene erst durch das Zusammenspiel der einzelnen Linien ergibt (Popkin vergleicht Tristano in der Hinsicht mit Bach, was mir schon einleuchtet). Dann folgen ca. 40 Minuten, die ca. 1961 (Liner Notes) oder 1962 (Diskographie) in Tristanos East 32nd Street Studio aufgenommen wurden. Im ersten Track der Session, „New Pennies“, sielt er in der Linken eine prägnante Basslinie und improvisiert frei darüber – die Changes sind seine eigenen … ich find’s echt nicht abwegig, hier eine Linie zu Dollar Brand zu ziehen (ich denke tatsächlich an bevor er sich umbenannte) – der Track ist der erste, den man auch auf der Website von Mosaic hören kann (es gibt dort noch einen zweiten von derselben Session, „Palo Alto Days“). Popkin betont in seinen Track-für-Track-Kommentaren mehrmals, wie Tristano hier Geschichten erzähle, hebt sein „jazz feeling“ hervor. Und „cool“ oder gar, wie die Kritiker in den frühen Jahren meinten, „cold“, ist hier echt nichts. Den Ausklang macht dann die späteste Session in der Box: am Donnerstag, den 15. Oktober 1970, nahm Popkin in Tristanos Studio die dreiteilige „Thursday Suite“ auf (die Session von 1961/62 hat Tristano selbst verantwortet). Der Klang ist übrigens auf der ganzen CD bestens – kein Hi-Fi, klar, aber wer damit Mühe hat, sollte vielleicht einen Psychiater suchen?

CD3 – Das Sextett mit Lee Konitz (as), Warne Marsh (ts), Billy Bauer (g), Arnold Fishkin (b) und Jeff Morton (d). Los geht es mit einer kurzen freien Improvisation – der Klang ist schwierig, doch im zweiten Stück, „Sound-Lee“, wird schnell klar, dass es v.a. die Ensembles sind, die übel klingen: Bauer hatte 1950 seinen „wire cutter“ in den Orchid Room mitgebracht und nahm die Gruppe auf. Sobald jemand allein soliert und nicht vier ihre Linien ineinander verweben, ist das für meine Ohren sehr gut hörbar – und sogar so, dass Konitz‘ Ton in „Sound Lee“ enorm berührt … und später Bauer, Tristano und Marsh beeindrucken, bevor die Saxer mit dem Klavier ins Zwiegespräch treten, bevor am Ende ein wunderbarer Dialog aller vier zu hören ist. Von diesem Gig im Orchard Room sind nach dem kurzen freien Stück (2 Min) vier 10-11minütige Stücke zu hören. Danach folgt noch ein 5minütiger Auszug aus einem anderen, unbekannten Club (Popkin schreibt, es sei ziemlich sicher, dass der „Soldier Meyers“ hiesse, aber dass bisherige Bemühungen, einen Club dieses Namens zu finden, nichts zum Vorschein gebracht hätten) – hier gibt es einen besonders schönen Beitrag von Warne Marhs zu hören, Quelle klingt nach Acetate. Mit dem Klang kann ich hier alles in allem recht gut leben – viel besser der ersten Dreiviertelstunde von CD1. Aber auch das wird für viele hier nicht möglich sein.
Den Ausklang machen dann zwei zwei Tristano-Stücke aus dem Konzert von Weihnachten 1949 in der Carnegie Hall – die einzigen zwei aus der Box, die schon zuvor veröffentlich wurden. Mit Joe Shulman anstelle von Fiskin sind zwei etwas kürzere Stücke zu hören (zusammen 10 Minuten), „You Go to My Head“ und „Sax of a Kind“ (letzteren kann man auf der Website anhören).
Zum Klang nochmal: auch diese bekannten Stücke sind keinesfalls Hi-Fi – aber nachdem ich die knapp 50 Minuten davor sehr laut hörte, wummerte hier plötzlich der Bass durchs Zimmer und ich stellte auf halb so laut … da hätte man vielleicht noch ein wenig was machen können, die Level etwas angleichen (ich weiss es nicht, vielleicht würden bei den Wire-Aufnahmen dann die Höhen überschlagen, schon möglich).

CD4 – Die gut klingenden Aufnahmen also, finally (wobei eben: die letzten Viertelstunde auf CD1 und die ganze CD2 für meine Ohren auch) … „jazz heaven“, meint Popkin in den Liner Notes, und dass diese Aufnahmen zu den besten vom Bassisten Peter Ind (1928-2021) gehören. Die längere erste mit Tom Wayburn am Schlagzeug (ein mir gänzlich unbekannter Name) ist auf 1956 datiert (ca. 40 Min), die zweite mit Al Levitt auf die „mid-’50s“ (ca. 25 min). Diese Aufnahmen sind, wie auch die Solos auf CD2, eine wesentliche Ergänzung der Diskographie Tristanos, die man wohl sehr gut neben die Atlantic-Sessions stellen kann. Allerdings handelt es sich hier um Sessions im privaten Raum, sehr locker und entspannt, es herrscht eine völlig andere Atmosphäre vor, als vor Publikum oder im Plattenstudio. Bei den Trio-Aufnahmen endet mancher Take etwas abrupt, weil wohl vorgängig keine Abläufe besprochen worden waren. Von der zweiten Session mit Al Levitt ist ein Stück, „Trio Lines“, auf der Mosaic-Website zu finden. Die Session mit Levitt klingt etwas dumpfer, das Klavier etwas zu leise im Mix, aber immer noch sehr ordentlich – und Levitt spielt mehr Schlagzeug, als dass man es üblicherweise bei Tristano zu hören kriegt (schon im ersten Stück, „Session Wave“, das mit der Rhythmusgruppe öffnet gibt es auch ein paar Exchanges). Mir gefällt vom ersten Eindruck her die Aufnahme mit Wayburn eine Spur besser, „You Go to My Head“ und „My Melancholy Baby“ von der ersten Session gehören zu meinen Favoriten hier. (Die „Manhattan Studio“-CD von Jazz Records ist wohl die erste Ladung hiervon, aber die kenne ich bisher noch nicht – das gleiche Trio mit Ind und dem dort Weyburn geschriebenen Drummer).

CD5 – Auch hier ist klanglich alles zum Besten bestellt. Es gibt Aufnahmen aus dem Heimstudio Tristanos mit dem Kontrabassisten Sonny Dallas, grossteils im Duo und zum Abschluss zwei Stücke im Trio mit Drummer Nick Stabulas. Dallas kennt man auch von Lee Konitz‘ Verve-Album „Motion“, bei dessen erstem Anlauf auch Stabulas dabei war, der dann aber durch Elvin Jones ersetzt wurde. Einmal mehr (wie auch bei den Solo- und Trio-Aufnahmen und soweit es hörbar ist überall sonst) ist die Klarheit von Tristanos Delivery beeindruckend. Egal wie schnell das Tempo, wie komplex verschachtelt seine Rhythmen: jeder Ton wird sauber artikuliert und abgesetzt.

CD6 – nochmal ein Wackelmoment vorm Einlegen: die ersten 20 Minuten sind von 1948 … der Klang dieser Heimaufnahme aus Tristanos Haus, damals in Hollis, NYC, ist aber ordentlich, es gibt auch keinen Bass und keine Drums, sondern nur das Kernquartett mit Konitz, Marsh und Bauer … und wieder hoch mit dem Lautstärkeregler. Die Aufnahme gemacht hat auch hier wieder Bauer, vermutlich mit demselben Equipment, aber die fehlende Rhythmusgruppe macht das Hören für mich deutlich einfacher. Sieben kurze, völlig freie Stücke sind hier zu hören – im Jahr vor den berühmten Capitol-Sessions. Dass Popkin erneut betont, wie Tristano sich gewundert haben muss, als zehn Jahre später andere für freien Jazz abgefeiert wurden, geht aber schon recht am Punkt vorbei. Oder an zwei Punkten: 1. wurde Ornette Coleman nicht direkt abgefeiert, jedenfalls nicht auf Anhieb (und an vielen Orten bis heute nicht), 2. ist die freie Musik Tristanos – ich schreibe jetzt extra nicht „der Free Jazz Tristanos“ – etwas völlig anderes, als was Coleman oder Mingus und danach die „fire music“ machten. Popkin hebt ja davor immer wieder hervor, wie gut Tristanos Jazz-Skills seien – als hätte daran jemand mit was zwischen den Ohren noch Zweifel … aber hier fehlt für meine Ohren das davor immer wieder beschworene „jazz feeling“ halt schon ziemlich. Diese freie Musik mag in einem Club-Set zwischendurch gut funktioniert haben (Popkin schreibt, Tristano hätte sowas live immer wieder getan, ohne Aufhebens drum zu machen, ohne dem Publikum zu erklären, was er spiele – und das hätte immer bestens funktioniert … was ich wiederum auch sofort glaube: einfach machen, statt gross drüber dozieren und den Leuten erklären, was sie gerade bahnbrechendes bezeugen werden). Jedenfalls wird für mich gerade in diesen freien Experimenten – es git sieben Stücke zwischen 2:00 und 3:30 Spielzeit – eben doch ein Kontrast hörbar. Anderswo betont Popkin, dass Bop und Cool zwei Seiten derselben Medaille seien und dass es sowieso absurd sei, Tristanos Musik Kälte vorzuhalten – und da bin ich ganz bei ihm. Aber wenn Tristano sich so deutlich aus den Jazzkonventionen befreit, wie er es hier (oder auf zwei der Capitol-Stücke) tut, höre ich von den Stimmungen her schon viel eher so etwas, wie es ein paar Jahre später als „Third Stream“ etikettiert wurde … will sagen: egal wie hart Tristano swingen konnte, das hier ist eher Thornhill als Basie/Young. Was ja sicherlich kein Zufall ist. Und es gibt auch hier zahlreiche wunderbare Momente, gar keine Frage! Spannend finde ich auch, dass Tristanos freie Exkursionen immer nur drei Schritte gehen und dann zu Ende sind – dass aber gerade in dieser Box anderswo auch zehnminütige stream-of-consciousness-artige Soli zu finden sind, in denen sein Einfallsreichtum und ja, auch da hat Popkin völlig recht, seine Fähigkeit zum klassischen Jazz-Storytelling, enorm beeindrucken. Aber in der ganz grossen Freiheit entstehen nur Kleinodien. Eins der sieben Stücke ist das letzte, das auf der Mosaic-Website zu hören ist, „Pinochle Jump“.
Die letzten zwei Drittel der CD stammen dann aus dem Half Note in New York, wo Tristano um die Zeit herum oft aufgetreten ist (es gibt in der leider sehr kurzlebigen Reihe „Verve Discoveries“ aus den Neunzigern eine Doppel-CD mit Aufnahmen von 1959: da ist eigentlich das Tristano Quintett mit Konitz, Marsh, Jimmy Garrison und Paul Motian zu hören – aber am Klavier sprang an dem Abend Bill Evans ein, und die CD läuft unter Konitz‘ Namen). Diese Aufnahmen hier – auch wieder kein Hi-Fi, aber für meine Ohren bestens hörbar – werden auf „c. 1962“ datiert, Sonny Dallas und Nick Stabulas sind dabei, es gibt vier längere Stücke und zwei Miniaturen davor bzw. dazwischen. Die Trio-Tracks haben Biss, wirken vielleicht etwas zupackender, lebendiger als die entspannten Heim-Sessions („Smilin‘ Groove“!). Am Ende steht dann ein 10minütiges „How Deep Is the Ocean“ mit Lee Konitz und Zoot Sims (ts). Letzteren gab es bisher soweit ich weiss nicht im Tristano-Umfeld zu hören. Nach inspirierten Soli von Sims, Konitz, dem Leader und Dallas spielen die Bläser und Tristano abwechselnde Phrasen, und daraus entsteht dann eine für Tristanos Musik typische Kollektiv-Improvsation – ein gelungener Abschluss.

Erstes Fazit: viel grossartige Musik, das meiste in sehr hörbarer Qualität. CD1 und etwas weniger CD3 sind klanglich aber wirklich problematisch (für manche fällt wohl auch die ganze CD 6 raus, für andere nur die ersten knapp 20 Minuten). Die Güte der Musik rechtfertigt allerdings zumindest teilweise ihre Veröffentlichung (will sagen: vom Material auf den ersten drei Vierteln von CD 1 hätte es ev. auch eine kürzere Auswahl getan, beim Rest bin ich froh, die Aufnahmen zu haben). Die Box als ganze ist auf jeden Fall eine substantielle Erweiterung der bisher bekannten Diskographie Lennie Tristanos und allein deshalb sehr begrüssenswert. Besonders gut gefallen mir die Solo- und Trio-Aufnahmen (CD2 und CD4). Alles in allem ein sehr stimmiges Set, auch was die Abfolge der Musik angeht. Um den ruppigen Einstieg aufzufangen, hätten diese Aufnahmen vielleicht zusammen mit der freien Session auf CD6 und dem Live-Material auf CD3 ihren Platz am Ende der Box finden können? Für mich stimmt’s auch so, aber ich verstehe, wenn der erste Eindruck manche Ohren abschreckt.

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