Antwort auf: Das Kinojahr 2021 (Achtung, kann Spuren von Spoilern enthalten)

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motoerwolf

Registriert seit: 25.10.2006

Beiträge: 6,156

Danke euch beiden, @cleetus und @kurganrs. Der Western-Run hat übrigens noch nicht aufgehört, inklusive ca zwanzig Kurzfilmen habe ich dieses Jahr 123 Western gesehen.

Der Rausch (Druk, Thomas Vinterberg, 2020)

Die Grundidee des Films ist schon mal prima. Es wird behauptet, dass der Mensch prinzipiell 0,5 Promille Alkohol im Blut haben sollte, um in sozialer Hinsicht wirklich gut zu funktionieren. Vier recht ausgebrannte Lehrer wollen das beweisen und starten ein entsprechendes Experiment. Anfangs klappt das ziemlich gut, beruflich und privat geht es bei allen bergauf. Irgendwann kommen sie jedoch auf die dumme Idee, die Beschränkungen des Experiments fallen zu lassen. Das heißt Trinken rund um die Uhr und ohne Promillegrenze…
Druk (Originaltitel) bezeichnet in Dänemark die dortige Trinkkultur. Wenn hier schon der Alkohol gegen jede Vernunft als harmloses Kulturgut dargestellt wird (ganz im Gegensatz zum bösen Kraut der Schwarzen, dem Marihuana), so wird in Dänemark der Exzess als zur Kultur gehörig empfunden. Gesoffen wird, bis nichts mehr da ist, Geselligkeit ohne Rausch ist kaum denkbar. Vinterbergs Film feiert das nicht, aber als wirklich negativ wird es auch nicht dargestellt. Diese Beschränkung auf das reine Darstellen, der Verzicht auf eine eindeutige Bewertung hat mich positiv überrascht. Dass der Druk in Dänemark tatsächlich ein Problem ist, kann man durchaus konstatieren, aber mir gefällt, dass hier kein Problemfilm gedreht wurde, dass am Ende keine Läuterung erfolgt wie zum Beispiel in vielen amerikanischen Kifferkomödien. Ein gelungener Film, der Komik und Tragik gut zu verbinden weiß und den Zuschauer nicht bevormunden will. Vielleicht aber ein wenig zu lang geraten. 7,5/10 Punkten.

Home (Home, Franka Potente, 2020)

Da mich das Privatleben von Schauspielern, Regisseuren und anderen Filmschaffenden meist nicht oder nur am Rande interessiert, war mir nicht bewusst, dass Franka Potente seit Jahren in Amerika lebt. Daher war ich ziemlich überrascht, von einer deutschen Schauspielerin einen solch amerikanischen Film präsentiert zu bekommen. Aber sehr positiv überrascht. Home ist eine gelungene Auseinandersetzung mit den Themen Schuld und Sühne vor einem amerikanischen Kleinstadthintergrund (auch wenn Clovis das von der Einwohnerzahl her nicht ist). Hier gibt es eigentlich nur Verlierer. Die Hauptfigur, Marvin, kehrt nach 17 Jahren Gefängnis, die er wegen Mordes verbüßen musste, in seine Heimatstadt. Dort findet er seine Mutter in der letzten Phase ihrer Krebserkrankung vor und beginnt, sich um diese zu kümmern. Er trifft alte Freunde, deren Probleme mit Drogen sie zerstören, er findet eine Stadt, die ihm nicht vergeben kann. Dabei sind diese Menschen keineswegs moralisch integer. Neben den erwähnten Drogen spielen Alkohol und Gewalt eine Rolle, Kinder werden vernachlässigt und drohen damit die nächste Generation zu stellen, die an Amerika zerbrechen werden. Potente nähert sich diesen Figuren voller Einfühlungsvermögen und blickt zu keinem Zeitpunkt auf sie herab. So gelingt ihr ein nüchterner Blick auf den „White Trash“, der gleichzeitig Verständnis für die Menschen hat, aber ihre sozialen Umstände kritisiert. Ein gewisses Maß an europäischer Perspektive mag man hier feststellen, und diese tut dem Film gut. 9,5/10 Punkte finde ich angemessen.

Old (Old, M. Night Shyamalan, 2021)

Eine Gruppe Urlauber muss an einem einsamen Strand feststellen, dass der Ablauf der Zeit nicht normal ist und man extrem beschleunigt altert. Alle Wege vom Strand weg scheinen versperrt, und natürlich ist die Gruppendynamik eine gefährliche. Das Ganze ist optisch gut gemacht und hat eine starke Atmosphäre, aber auch viele Ideen, die nicht wirklich originell sind. Das gilt vor allem für die meisten Figuren. Trotzdem nett und mit 6/10 Punkten für mich fair bewertet.

Cash Truck (Wrath of Man, Guy Ritchie, 2021)

Ritchies Remake eines französischen Film ist ein packender, relativ harter und humorloser Actionfilm geworden, der Jason Statham als neues Mitglied einer Securityfirma im Kampf gegen eine Gangsterbande zeigt. Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass selbige so geradlinig dann doch nicht ist, aber hier ins Detail zu gehen wäre zu viel Spoiler. Statham jedenfalls geht in seiner Rolle perfekt auf, die Story ist gut und spannend inszeniert, doch mir persönlich ist der Film zu wenig Guy Ritchie. In dieser Hinsicht hat mir zuletzt The Gentlemen deutlich besser gefallen. Cash Truck hätte auch von jedem anderen Actionroutinier stammen können. Daher gibt es von mir nur 7/10 Punkten.

The Suicide Squad (The Suicide Squad, James Gunn, 2021)

James Gunn darf Vollgas geben und tut das dann auch. So gerät TSS zu einem knallbunten, völlig irrsinnigen, extrem brutalen und zynischen Trip ins Superheldengenre, das vom MCU kaum weiter entfernt sein könnte. Auch dort gibt es natürlich seltsame Wesen zu bestaunen, doch so etwas wie den Polka-Dot Man, King Shark, T.D.K. oder gar einen so krassen Endgegner wie eine Riesenseestern hat das MCU bisher nicht zu bieten. Während es dort letztlich immer familiengerecht zugeht und die konventionelle Moral stets im Vordergrund steht, erlaubt sich TSS, auf solche Werte gepflegt zu scheißen. Machen die Avengers in Lagos einen Fehler, wird das über Ewigkeiten zum Thema und das Team darüber fast zerrissen. Wenn die Squad aus Dummheit ein ganzes Dorf von eigentlich verbündeten Rebellen abschlachtet, ist ihnen das kaum mehr als ein „Upps“ wert. Eigentlich ist das sehr viel ehrlicher in der Bewertung der Anwendung von Gewalt, wie sie im echten Leben vorgenommen wird. Denn selbstverständlich würde in den realen USA (und nicht nur dort) wohl kaum jemand um ein paar unschuldige Nigerianer in einen moralischen Konflikt geraten, wie uns First Avenger: Civil War glauben machen will.
Neben der völlig wahnsinnigen Story glänzt TSS auch mit einer wunderbaren Optik. Bestes und prominentestes Beispiel ist da Harley Quinns Flucht aus einem Folterkeller, der komplett aus ihrer Sicht dargestellt ist. Und Harleys Wahrnehmung ist offensichtlich leicht verschoben, bluten ihre Opfer doch Blumen und Schmetterlinge. Ebenfalls eine schöne Idee ist die Umsetzung einer Rückblende, in der die Geschichte von Ratcatcher 2 erzählt wird. Diese Rückblende findet in ihren Anfang als „Spiegelung“ in einem Fenster, wodurch sie sich wie in einem Panel eines Comics anschaut.
Alles in allem ein Superheldenfilm wie auf einer Mischung aus Kokain und LSD, ein einziger irrer Trip und ein Highlight im Genre. Ich gebe 10/10 Punkten. Mindestens einer davon ist allein für Margot Robbie.

Promising Young Woman (Promising Young Woman, Emerald Fennell, 2020)

Dieser Film war eine echte Überraschung für mich. Erwartet habe ich aufgrund des Trailers und auch des Plakates eine nette Komödie, in der ein paar charakterlich fragwürdige, aber letztlich harmlose Männer durch fiese kleine Racheaktionen geläutert werden. Also etwas, was eigentlich aus der Zeit gefallen wäre und dem Stand der #metoo-Debatte um Jahre hinterherhinkt. Statt dessen sah ich ein Rape-and-Revenge-Drama, das sich den Regeln dieses Genres aber genauso entzieht wie denen der Komödie. Die Hauptfigur, Cassie, ist eine traumatisierte junge Frau, die eine gute Freundin durch Suizid verloren hat. Der Selbstmord war die Folge einer Vergewaltigung. Jahre später bietet sich Cassie eine Gelegenheit, Rache zu üben. Im Gegensatz zu den meisten Rape-and-Revenge-Filmen ist Cassie zwar nicht gerade zimperlich mit ihren Opfern, aber nicht auf Mord aus. Was PYW aber noch deutlicher von anderen Filmen des Genres unterscheidet, ist der Umstand, dass der Zuschauer Cassie gegenüber ständig im Zwiespalt ist. Sie wird sehr deutlich nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterin porträtiert, die zum Beispiel auch einen Anwalt angreift, der einen der Vergewaltiger erfolgreich verteidigt hat. Der größte Unterschied zu Filmen wie I spit on your grave ist aber das erschütternde Ende, in dem Cassie keineswegs glücklich und erlöst in den Sonnenuntergang reiten kann.
PYW ist ein wahnsinnig vielseitiger Film geworden. Komisch und tragisch, romantisch und brutal, uneindeutig und daher zum Denken anregend, ein wichtiger Beitrag zu #metoo. Ein Film, dem ich auch wegen seiner Bedeutung, aber keineswegs nur deswegen mit der vollen Punktzahl bewerten möchte. 10/10 Punkten also.

Doch das Böse gibt es nicht (Sheytan vojud nadarad, Mohammad Rasoulof, 2020)

Doch das Böse gibt es nicht ist ein langer Film über das Töten, wobei das eigentliche Töten im Film so gut wie gar nicht zu sehen ist. In vier Episoden, die inhaltlich nur über das Thema verbunden sind, sieht man Menschen, die im Iran Hinrichtungen vollziehen, vollziehen sollen oder vollzogen haben. Die Perspektive ist konsequent die des Henkers, die Opfer kommen im Gegensatz zu so vielen anderen Filmen zum Thema Todesstrafe nicht wirklich vor. Rasoulof interessiert, was das dem Henker meist aufgezwungene Töten mit ihm macht und zeigt ganz unterschiedliche Arten, wie Menschen mit dieser Pflicht umgehen könnten. Und egal, ob der jeweilige Henker dies beruflich macht oder als Wehrdienstleistender dazu gezwungen wird, das Hinrichten lässt keinen der vier unberührt. Teilweise erscheinen die gezeigten Geschichten ein wenig konstruiert, doch das hat mich noch selten gestört. Und da Rasoulof zwar konstruiert, um seine Botschaft zu vermitteln, darüber hinaus aber in meinen Augen auch rein filmisch betrachtet liefert (dazu tragen auch die Schauspieler enorm bei), bin ich ziemlich begeistert aus dem Kino gegangen. Klare Empfehlung meinerseits, der Film hat verdient, gesehen zu werden. Und Rasoulof wünsche ich nur das beste, ich hoffe sehr, dass die Rache des Regimes ihn nicht zerstört. 9,5/10 Punkten.

The Forever Purge (The Forever Purge, Everardo Valerio Gout, 2021)

Der neueste Teil der Reihe macht eine Sache anders als die Filme bisher, und die wird schon im Titel verraten. Die Purge ist nicht mehr auf eine Nacht beschränkt, beziehungsweise wird von Terroristen umgedeutet zu einem zeitlich nicht begrenzten Bürgerkrieg gegen alles „unamerikanische“. Dadurch wird ein Film, der eigentlich nicht viel mehr ist als ein Actionfilm mit Horrorelementen, sehr deutlich zum Kommentar auf die Ära Trump. In TFP gibt es die Mauer zu Mexiko bereits, der Rassenhass kennt keine Schranken mehr. Wie so oft in solchen Filmen zeigt sich aber auch hier der Widerspruch zwischen dem Anprangern von Gewalt und der gleichzeitigen Zelebrierung eben dieser. Das nimmt dem Film eine Menge Wucht und reduziert ihn schließlich doch wieder auf einen Genrefilm. Als solcher ist er aber immerhin gelungen und verdient seine 5,5/10 Punkte.

Kings of Hollywood (The Comeback Trail, George Gallo, 2020)

Die Grundidee ist wirklich witzig. Ein erfolgloser Produzent will einen Film nur drehen, um seinen Hauptdarsteller dabei durch einen „Unfall“ zu töten, um so an die Versicherungssumme zu kommen. Der Film will eine Liebeserklärung an das alte Hollywood sein, doch leider zerstört ein Übermaß an völlig unzeitgemäßem Klamauk ganz viel Atmosphäre und damit letztlich den Film. Wegen einiger schöner Einzelmomente gebe ich noch 4/10 Punkten. Mit der Besetzung hätte man aber mehr erreichen müssen.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde (Fabian oder Der Gang vor die Hunde, Dominik Graf, 2021)

Ein großartiger Film! Graf nimmt sich viel Zeit für die Entwicklung seiner Figuren, die allesamt fantastisch besetzt sind. Albrecht Schuch (Systemsprenger, Berlin Alexanderplatz) ist mal wieder genial, wobei Tom Schilling und Saskia Rosendahl ihm in nichts nachstehen. Die Verknüpfung eines Filmes, der in den Dreißiger Jahren spielt, mit der Gegenwart ist Graf hervorragend gelungen. So beginnt der Film im heutigen Berlin, und während die Kamera in die Tiefen einer U-Bahn-Station abtaucht, gleitet sie zugleich zurück in die Zeit bis zum Beginn der Dreißiger. Graf verknüpft die Zeiten aber vor allem über die optische Ebene, indem er zum Beispiel seine Sets nicht sklavisch an der Zeit orientiert. Er geht sogar so weit, völlig anachronistisch Stolpersteine zu zeigen, über die seine Hauptfiguren hinweglaufen. Außerdem verwendet Graf unterschiedlichstes Filmmaterial, von einigen wenigen Originalaufnahmen über körnigen Film bis hin zu hochauflösenden digitalen Bildern. All dies verbindet sich organisch zu einem Ganzen von gehöriger Wucht, bei dem trotz Überlänge keine Minute zu viel ist. Nach Berlin, Alexanderplatz eine weitere große Literaturverfilmung aus deutschen Landen. Glatte 10/10 Punkten.

Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings (Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings, Destin Daniel Cretton, 2021)

Da ich die Figur nicht kannte und meistens mit Asia-Kampfkunstfilmen wenig anfangen kann, habe ich von Shang-Chi nicht erwartet, dass er mir besonders gut gefallen würde. Der im Vorfeld größte Pluspunkt des Films war für mich daher die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit der von mir sehr geschätzten Awkwafina. Die liefert hier auch erwartungsgemäß ab, aber auch der Rest des Films hat mich deutlich mehr erreicht als ich vermutet hätte. Es gibt einige wirklich schön gemacht Fights zu bewundern, die Story ist über weite Strecken spannend und gut inszeniert, lediglich der finale Kampf ist mir ein wenig zu unübersichtlich. Das ist noch nicht so krass wie bei Endgame, aber ich mag es etwas übersichtlicher. Trotzdem überwiegt der positive Eindruck bei weitem, ich gebe daher 7,5/10 Punkten.

Candyman (Candyman, Nia DaCosta, 2021)

Candyman ist stark, funktioniert aber wahrscheinlich am besten für ein schwarzes amerikanisches Publikum. Man merkt dem Film an, dass er von Jordan Peele (Get out, Us) produziert wurde, #blm ist auch hier wieder das eigentliche Thema. Wer einen einfachen Slasher mit übernatürlichem Aspekt erwartet wird hier nicht voll auf seine Kosten kommen. Der Horror wird trotz einiger hübscher entsprechender Szenen in erster Linie nicht durch den Candyman, sondern durch die Behandlung Schwarzer in einem weiß dominierten Amerika vermittelt. Neben dem Rassismus widmet sich Candyman auch dem Thema Gentrifizierung. Diese Themen anzusprechen ist natürlich ehrenhaft und wünschenswert, aber erst durch die gelungene künstlerische Umsetzung wird daraus mehr als ein überlanges Anklagevideo. Schon im Film selbst gibt es wunderbar komponierte Bilder in rauen Mengen zu sehen, aber herausragend ist dann der Scherenschnittfilm im Abspann. 8/10 Punkten.

zuletzt geändert von motoerwolf

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And all the pigeons adore me and peck at my feet Oh the fame, the fame, the fame