Antwort auf: Miles Davis

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gruenschnabel

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vorgarten@gruenschnabel

gruenschnabel

vorgarten
ich bleibe dabei: ganz großes meisterwerk.

Oh, Überraschung, lieber vorgarten. Meine eher ungeschulten Ohren interessieren sich bei solchen Prädikatierungen (gibt’s das Wort?) ja sehr für die wahrgenommenen Qualitäten. Welche sind das für dich bei diesem Album, die dich zu einer solchen Wertung motivieren?
Ich mag das Album sehr, höre darauf aber weder ganz besonders herausragende Soli noch extrem überragendes Zusammenspiel. Und mit dem Titeltrack, „Shout“ sowie „Ursula“ sind Tracks dabei, deren kompositorische Anlage mir zunächst keine Höchstwertungen für das Album erlauben würden. Wo liegt da der Hase im Pfeffer?

mit mindestens einer irritierten nachfrage hatte ich natürlich gerechnet
du hast recht, kompositionspreise bekommt hier niemand, und die soli sind an sich nicht der rede wert – bis auf das eine schweinesolo von mike stern vielleicht (hattest du dich nicht woanders mal als stern-fan geoutet?).
außerdem spricht die uneinheitliche struktur, die aus der produktionsgeschichte verständlich wird, dagegen, von einem geschlossenen werk zu sprechen. die funk-band des neffen, die da eher tools als tracks produziert, auf die sich miles dann mit ein paar linien draufsetzen kann, sind das eine. die garagigen jazz-tracks mit dem 2 stunden vorher engagierten bassisten sind das andere, und da weiß man, dass miles mit dem gitarristen barry finnerty nicht klarkam – weswegen ich da immer hinhöre und mich frage, was macht der da eigentlich so falsch? und dann gibt es natürlich „fat time“, wo alles hundertprozentig sitzt…
ich mag das album aber als ganzes, sehe die vielen einzelteile eher als facetten eines sehr tollen zugangs zu jazzrock bzw. -funk. zum einen bin ich endlos fasziniert von der rhythm section aus miller & foster, von der art, wie foster die grooves so zwanglos hin- und herschiebt, und wie elastisch miller darauf reagiert und dann wieder vorprescht. und dass ich die überhaupt so gut hören kann, liegt daran, dass die musik so viel raum lässt, dass vor allem miles so viele pausen macht, durch die die textur durchdringen kann. dazu finde ich die spontaneität toll, die aufnahmen haben ein tolles live-gefühl, da findet sehr unforciert etwas zusammen.
die funk-tracks wiederum finde ich ziemlich frisch und super produziert, da liegt schon sehr viel drin, was miles später mit popsongs gemacht hat (und was eigentlich mit „minnie“ 1975 schon anfängt). so eine glitzernde oberfläche, die sehr perfekt in ihrer zeit sitzt, sehr jugendlich auch, die miles nur mit sound und aura zu etwas überzeitlichem transzendiert (sehr hochgepitch geprochen).
und dann die ganzen bezüge, die natürlich ein miles-fan-privatspaß sind: dass er da eigentlich in etwas wiedereinsteigt, das er selbst mal losgetreten hat, als hätte er einfach mal 6 jahre abgewartet, bis die musikgeschichte zu ihm aufschließt. man hört foster manchmal in seine 70er-jahre-grooves hineinfallen, man hört ein shorter-sopran in einigen licks von evans (der auch noch „bill evans heißt“…), und leute wie stern oder evans haben bestimmt nur deshalb mit dem jazz angefangen, weil shorter und mclaughlin bei miles damit angefangen haben.
ganz allgemein aber mag ich einfach die lässigkeit, und die zeit, die mir das album gibt, auf all seine details zu achten.

Über deine Antwort freue ich mich sehr. Und ich höre das, denke ich, sehr ähnlich. Angefangen von dieser Schlagzeug-Bass-Sache, die für den Reiz des späten Davis konstitutiv ist, bis hin zum Raum, der sich da öffnet und ganz feinsinnig be- und nicht überspielt wird: Ich persönlich glaube ja, dass Davis das nicht nur selbst einfach unglaublich toll macht, sondern dass er diesbezüglich für seine Musiker ein wahnsinnig prägender „Influenzer“ gewesen sein muss. Hancock hat ja mal gesagt, er habe den kreativ-produktiven Umgang mit Fehlern von Davis auf eindrucksvollste Weise verinnerlicht – um die eklatante Erweiterung des Bewusstseins für Raum (und dies schließt die von dir genannte „Textur“ ein) und Timing dürfte aber wohl ebenso kaum einer der Davis-Musiker herumgekommen sein.
Nach dem, was du schreibst, würde ich zwar immer noch nicht gleich mit dem „Meisterwerk“-Prädikat wedeln, aber auch ich empfinde die Dynamik, Frische und Energie, mit denen er nach der Pause wiederkommt, ziemlich euphorisierend. Ich höre da natürlich auch eine Kontinuität, welche über sein mehrjähriges schlimmes Versumpfen hinwegreicht – aber diese letzte „Agharta“- und „Pangaea“-Phase erscheint mir doch deutlich resignativ; zuweilen wie ein ausmusiziertes Verlöschen/Vergehen. Und das ist dann beim Comeback völlig anders.
Zu Mike Stern: Wahrscheinlich hast du das richtig in Erinnerung, aber mit kurzer Überlegung nehme ich den Begriff „Fan“ für mich zurück. Ich kenne ihn praktisch nur in Verbindung mit Davis. Zudem frage ich mich, ob seine Bandbreite/Möglichkeiten wirklich groß sind. Aaaaaaber: Ja, ich finde das Schweinesolo auf „Fat time“ toll, bei aller Gitarristen-Breitbeinigkeit, die natürlich auch hier zu hören ist. Nur: Hier ist sie keine aufgeblasene Pose, sondern eine überzeugende (und saucoole) Haltung. Ich höre Stern auch als starken, Hitze generierenden Rhythmusgitarristen – und: Seinem Solo auf dem ersten „Jean Pierre“ von „We want Miles“ verleihe nun wiederum ich mit größter Überzeugung das Prädikat „meisterhaft“. Wahrscheinlich waren Äußerungen zu diesem Solo ausschlaggebend dafür, dass du mich als „Fan“ wahrgenommen hast.
Mit Blick auf Finnerty: Vielleicht hört man das, was Davis an ihm wohl nicht so mochte, überhaupt nicht auf dem Album. Denn diese Akkorde, die er spielt, finde ich schon auch passend und reizvoll. Im Gegensatz zu Stern alles andere als breitbeinig. Feiner, aber womöglich auch ein wenig blasser in dem Sinne, dass sich an ihm nichts so richtig entzündet. Vielleicht war es sowas. Aber ich habe natürlich keine Ahnung.

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